Glauben und Freiheit. Mensch, wo bist Du?
Von Eberhard Jüngel
I.
Adam – zu Deutsch: Mensch, wo bist Du? Unter dieser Leitfrage des Kirchentages, die der biblischen Urgeschichte entnommen ist, sollen wir jetzt über „Glauben und Freiheit“ nachdenken. Für uns Glaubende nimmt jene alttestamentliche Urfrage sofort auch eine uns unmittelbar auf den Leib rückende Gestalt an: Christenmensch, wo bist Du?
Ja, wo ist er denn, der Mensch? Zur Zeit mal wieder in einer Krise, in einer weltweiten Finanz- und Wirtschaftskrise. Doch ist er nur dort? Kann er nicht zugleich auch ganz woanders sein? Kann man mich nicht auch im Kreise ausgesprochen liebenswerter Menschen antreffen? Hat der Mensch immer nur einen einzigen existentialen Ort? Kann ich nicht zugleich vor einem weltlichen Gericht und vor meinem göttlichen Richter stehen? Was also heißt: Wo? Und was heißt: Wo bist Du?
Und wo ist er denn, der Christenmensch? Seit Jahrhunderten in einer – Gott sei’s geklagt – konfessionell gespaltenen Kirche. Doch bin ich nur dort, bin ich nur Teil einer zerrissenen Christenheit? Kann ich nicht zugleich auch in einer auf Gottes Wort hörenden, singenden und betenden Gemeinde ein sich seines Gottes freuender Christ sein? Was also heißt: Wo? Und was heißt: Wo bist Du?
Die biblische Frage meint genauerhin: Wo bist Du hingeraten? Und wo wirst Du hingeraten, wenn Du da bleibst, wo Du hingeraten bist, wenn Du also mit Deinem Leben, mit Deinen Entscheidungen und mit Deinen Handlungen immer nur fort fährst „nach dem Gesetz, wonach Du angetreten“?
Adam, wo bist Du? Diese überaus kritische Frage des Schöpfers, die er in einer überaus kritischen Situation an sein in die Krise geratenes menschliches Geschöpf richtet, begleitet uns Menschen von Anfang an. Und diese Frage wird jede und jeden von uns begleiten bis zum „lieben jüngsten Tag“: Wo bist Du? Wo bist Du hingeraten?
Doch dieselbe überaus kritische Frage kann sich im Nu auch umkehren, kann ihre Richtung ändern und sich dann auch an Gott richten. Und in der Tat: dieselbe kritische Frage richteten und richten bis heute Menschen an ihn: Gott, wo bist Du?
Schon im Alten Testament richteten die angeblich Gottlosen diese Frage in provokativer Absicht an den ins Elend geratenen und in seinem Elend allein gelassenen Frommen: Wo ist nun Dein Gott? (Vgl. Ps 42,4.11; 79,10; 115,2) Wo ist der, dem Du vertraut hast und von dem Du stolz behauptet hast: „Der Herr ist mein Hirte. Mir wird nichts mangeln“ (Ps 23,1). Ja, wo ist er denn, wenn es Dir dreckig geht und Dir hundeelend zumute ist?
Die Antwort, die diese Frage insinuiert, lautet: nirgends ist er, Dein Gott. Wer aber nirgends ist, der ist überhaupt nicht. Oder er war einmal, aber nun ist er offensichtlich tot, Dein Gott. Friedrich Nietzsche hat diese Konsequenz gezogen und sich dabei ausdrücklich auf jene alttestamentlichen Texte bezogen, in denen der Spott der Gottlosen nachklingt.
Doch nicht nur die atheistischen Spötter, auch der in seinem Glauben angefochtene Fromme kennt jene Frage, richtet sie nun aber an Gott selbst: Wo bist Du, mein Gott? Im 22. Psalm lautet sie so: „Mein Gott, mein Gott, warum hast Du mich verlassen?“ Und diese aus dem Munde des gekreuzigten Jesus erneut zu hörende Frage (Ps 22, 2; Mk 15,34) ist die wohl schmerzlichste Variation der biblisch gestellten Frage Wo ist Gott?
Die Frage ist bis heute nicht verstummt. Wo war Gott, als Israel, JHWHs Augapfel, verfolgt, gequält, vergast wurde und von der Erde vertilgt zu werden drohte?
Und in gehörigem Abstand zu dieser niederdrückenden Menschheitsfrage schreit ja auch heute noch immer wieder das eine oder andere leidendes Ich, schreit der auf sich selbst zurückgeworfene Mensch, der in seiner Qual zu verstummen droht, nach Gottes fehlender Anwesenheit. Und wenn ihm ein Gott überhaupt noch Worte gibt, „zu sagen, was er leidet“, artikuliert er seinen Schrei zu der Frage: Wo bist Du, mein Gott?
Mensch, wo bist Du? Gott, wo bist Du? Beide Fragen werden immer wieder laut werden. Sie werden die Menschheit begleiten – bis wir dort sind, wo wir in Wahrheit hingehören, bis wir unseren wahren Ort gefunden haben werden, und ein ganz anderes Gespräch zwischen dem Schöpfer und seinen Geschöpfen beginnt: ein festliches Gespräch, in dem Gott und Mensch sich nicht mehr kritisch befragen, sondern einander verstehen, ja zu einem beglückenden Einverständnis gelangen, zu einem anregenden Wortwechsel bei Brot und Wein. Eia, wär’n wir da!
Doch noch sind wir hier. Und müssen uns die kritische Frage gefallen lassen, ob wir da, wo wir sind, am rechten Ort sind. Oder ob wir da, wo wir sind, fehl am Platz sind. Und sogar verbergen zu müssen meinen, wo wir uns aufhalten.
Die Frage Wo bist Du? mutet harmlos an. Doch die Bibel liebt diese – nur scheinbar – harmlose Frage. Denn was es mit einem Menschen auf sich hat, mit wem ich es in Wahrheit zu tun habe, das erfahre ich oft am konkretesten, wenn ich weiß, wo er ist. Und selbst wenn die Antwort auf die Frage Mensch Wo bist Du? eine Lüge ist, verrät sie doch unheimlich viel von diesem Menschen, der sich dann offensichtlich nicht entdecken lassen will.
Mit diesen Vorüberlegungen im Kopf wollen wir nun über Glauben und Freiheit nachdenken. Wo ist ein Mensch, der frei ist? Wo ist der Mensch, der glaubt?
II.
Glauben und Freiheit – wie verhalten sie sich zueinander? Wer diese Frage stellt, bekommt es mit einer verzwickten, ja mit einer hochkomplexen Beziehungsgeschichte zu tun. Nach dem Zeugnis des Neuen Testaments rühmt sich der Glaubende seiner Freiheit. „Bin ich nicht frei?“ fragt der Apostel Paulus (1. Kor. 9,1) unter Berufung auf die Gewissheit, dass Christus sein Herr ist. Doch der Skeptiker wird sofort weiterfragen: Und wie viel Unfreiheit produziert der Glaube? Und die Gegenfrage folgt auf dem Fuße: Wie viel Aberglaube entspringt der Freiheit?
Die verzwickte Beziehung von Glaube und Freiheit konfrontiert uns mit vielen intrikaten Problemen. Das fängt bei der Freiheit an, und das hört beim Glauben nicht auf: Probleme, die unseren Verstand provozieren und in der Regel auch unser Herz strapazieren. Wenn folglich, verehrte Zuhörerinnen und Zuhörer, in dieser Stunde sowohl Ihr Verstand als auch Ihr Herz in Mitleidenschaft gezogen werden sollte, dann liegt es nicht an mir, jedenfalls nicht nur an mir, sondern dann liegt es zuerst und vor allem am Sachverhalt selbst. Doch für den Fall, dass Ihr Denken und Ihr Herzschlag leidenschaftlich bei der Sache ist, will ich dafür gern die Verantwortung übernehmen.
Fangen wir mit der Freiheit an! Das ist schon deshalb – wie die Schwaben sagen – „geschickt“, weil Freiheit nach einer einleuchtenden Definition Immanuel Kants das Vermögen ist, einen Zustand von selbst anzufangen.[1]
Ein wunderbares Vermögen! Aber auch ein überaus seltenes Vermögen. Lassen Sie sich ein triviales Beispiel gefallen: Ich sehe mir im Fernsehen gern – wir sind hier ja unter uns, und Sie werden es nicht ausplaudern – ich sehe mir gern Krimis an. Doch die heutigen Krimis sind fast immer nach demselben Muster gestrickt. In der Regel weiß man sehr bald, wie es weitergehen wird. Und oft kann ich sogar selber die angefangenen Sätze der Akteure zu Ende führen. Das langweilt. Und wie! Freiheit aber langweilt nie. Und es wäre – in einem zugestandenermaßen trivialen Sinne – einfach wunderbar, wenn auch ein Krimiautor das Vermögen hätte, etwas Neues anzufangen.
Das Vermögen, einen Zustand von selbst anzufangen – wer hat dieses wunderbare Vermögen? Wer kann ohne fremde Vorgaben und ohne durch irgendeine andere Ursache bestimmt zu sein von selber etwas anfangen?
Unser Körper? Nein. Denn sofern wir Körper, sofern wir Leib – oder wie die Bibel sagt: Fleisch – sind, reagieren wir. Und weil es nicht von selber einen Zustand anfangen kann, behauptet die Bibel: „das Fleisch ist schwach“ (Mt 26,41).
Doch es ist kein Zeichen von „Leib-Feindlichkeit“, wenn nicht nur die schlichten Gemüter, sondern sogar die scharfsinnigsten Denker dem Körper das herrliche Vermögen, von selber etwas anzufangen, absprechen. Will man den Leib, den Körper dennoch „frei“ nennen, dann deshalb, weil er Teil des ganzen Menschen ist und weil dieser ganze Mensch – hoffentlich – ein freier Mensch ist. Denn unser Leib, unser Körper gehört immer dazu, gehört immer zu uns. Er gehört zu unserer Unfreiheit, wenn wir unfrei sind. Und er gehört zu unserer Freiheit, wenn wir frei sind. Braucht es doch einen Körper, um als freier Mensch „auf freiem Grund mit freiem Volk zu stehen“ (Goethe, Faust II, 5. Akt). Der menschliche Leib partizipiert also an der Freiheit der Person. Aber er partizipiert an einer Freiheit, die er selbst nicht generieren kann. Ihren „Sitz im Leben“ hat die Freiheit in unserem Körper nicht. Wo dann?
„Im Geischt“ – sagen nicht nur die Schwaben. So kann man z.B. bei Leibniz, der bekanntlich kein Schwabe war, lesen: „Je mehr aus Vernunft gehandelt wird, desto mehr Freiheit“[2]. Also: „Die Gedanken sind frei“.
Nur die Gedanken? Als das Lied entstand, das noch heute in einer deutschen Volkspartei mit Inbrunst gesungen wird, war das nicht wenig. Damals musste man diese Freiheit – wer Schillers Don Carlos (III,10) kennt, erinnert sich – noch eigens fordern: „Sire, geben Sie Gedankenfreiheit!“ Nur damals?
Wer – wie z.B. ich vor nun schon mehr als einem halben Jahrhundert – es in einem Magdeburger Gymnasium erleben musste, dass bereits das gesprochene Wort nicht mehr frei sein sollte, dass vielmehr die ganze Sprache ideologisch angepasst und gleichgeschaltet sein sollte, der weiß es zu schätzen, wenn wenigstens die Gedanken frei – sagen wir vorsichtig – sein können. Vorsicht ist deshalb geboten, weil aus der allen Menschen gegebenen Möglichkeit der Gedankenfreiheit noch keineswegs die Realisierung dieser Möglichkeit zwingend folgt. Auch hier gilt der logische Grundsatz „a posse ad esse non valet consequentia: aus der Möglichkeit folgt keineswegs zwingend deren Verwirklichung“. Leider nicht.
Und das wollen ja alle Diktaturen und die zu ihnen gehörenden Ideologien: Sie wollen die Realisierung der Möglichkeit der Gedankenfreiheit verhindern. Sie wollen nicht nur die Sprache ihrer Bürgerinnen und Bürger, sondern auch deren Denken und deren Gewissen beherrschen. Sie wollen die Gedanken und das Gewissen jedes Einzelnen beherrschen und vergewaltigen. Und das ist nicht weniger gemeingefährlich als die Vergewaltigung eines menschlichen Körpers. So wie umgekehrt für alle Diktaturen (und schon für die interfamiliären Despotien) nichts gefährlicher ist als der „Mut, sich seines eigenen Verstandes ohne fremde Anleitung zu bedienen“.
Immanuel Kant hatte einst mit diesen Worten das definiert, was man damals „Aufklärung“ nannte[3]. Die Dunkelmänner aller Diktaturen und Despotien fürchten deshalb nichts mehr als Aufklärung. Sie fürchten die sich im Lichte der Vernunft vollziehende Aufklärung. Und sie fürchten genau so – ja vielleicht sogar noch mehr – die im Lichte des Evangeliums sich vollziehende Aufklärung.
Das Evangelium hat ja bereits Jahrhunderte vor der im Lichte der Vernunft sich vollziehenden europäischen Aufklärung proklamiert, dass die Erkenntnis der Wahrheit zur Freiheit führt: „Ihr werdet die Wahrheit erkennen, und die Wahrheit wird euch frei machen“ (Joh 8,32). Und eine Wahrheit, die frei macht, kann keine Diktatur, kann keine auf Gleichschaltung bedachte Ideologie ertragen.
Die Aufklärung im Lichte des Evangeliums ist allerdings mit dem Glauben, genauerhin: mit dem Glauben an den Mensch gewordenen Gott Jesus Christus – Gott von Gott, Mensch unter Menschen – untrennbar verbunden. Das unterscheidet die Aufklärung im Lichte des Evangeliums von der Aufklärung im Lichte der Vernunft. Doch darüber später.
Zunächst muss nämlich der Theologe sehr selbstkritisch darauf hinweisen, dass vor einer auf Gleichschaltung des Denkens und des Gewissens bedachten Ideologisierung auch Religionen nicht gefeit sind. Auch die so genannte christliche Religion nicht. Man nennt das dann „Glaubensgehorsam“. Und der kann schrecklich sein.
Ich erinnere nur an die skandalösen Zustände in den kirchlichen Kinder-Arbeitslagern früherer, aber noch zu unserer neueren Geschichte gehörenden Zeiten: Zustände, die einem noch heute, da man sie endlich aufzuarbeiten beginnt, die Schamröte ins Gesicht treiben. So wie die Verlockungen der Freiheit zumindest zuweilen eine offene Grenze zur Anarchie haben, so hat die Forderung von Gehorsam nur zu oft eine offene Grenze zur Despotie.
Das weiß jeder halbwegs nachdenkliche Mensch. Und den gibt es Gott sei Dank auch unter den religiösen Menschen. Deshalb wird es auch innerhalb einer Religion und also auch in der so genannten christlichen Religion immer wieder Menschen geben, die sich einem die Freiheit vergewaltigenden sogenannten „Glaubensgehorsam“ widersetzen. Gott sei Dank! Denn auf Gott zu hören – das befreit. Aber den Glauben an Gott zu instrumentalisieren mit dem Ziel, dass sich die Glaubenden einer autoritären religiösen Institution unterwerfen, das wäre die Perversion des Glaubens an Gott zum Aberglauben. Und das wäre gleichermaßen gotteslästerlich und unmenschlich.
Denn ein zur Despotie entarteter oder auch nur tendierender „Glaubensgehorsam“ erzeugt entweder gebrochene menschliche Existenzen oder aber religiöse Gewalttäter, die zu allem fähig sind. Aus einem vergewaltigtem Denken gehen ja nicht nur verrückte Gedanken hervor, sondern eben auch gewalttätige Handlungen, die oft schon in einer religiös despotischen Familienstruktur vorprogrammiert werden. Und so erwächst aus dem sich selbst missverstehenden „Glaubensgehorsam“ die perverse Freiheit, im Namen Gottes zu tun, was der Liebe Gottes von Grund auf widerspricht: nämlich Mord und Totschlag. Beides, die gebrochenen Existenzen und die religiösen Gewalttäter, beides gibt es nicht nur in anderen Religionen, sondern auch in unserer eigenen Religion. Dem widerstehet fest im Glauben!
In der Christenheit war es die Reformation, die gegen die religiöse Vergewaltigung des Denkens und der Gewissen protestiert hat. Gewiss, auch hier gab es von Anfang an und immer wieder schreckliche Rückfälle hinter die ursprüngliche reformatorische Einsicht. Die aber wurde auf dem Augsburger Reichstag 1530 von Melanchthon glasklar formuliert. Es war eine weltgeschichtlich bedeutsame und wirkungsgeschichtlich immer wieder einzuholende Stunde, als vor Kaiser und Reich – der Kaiser war übrigens in dieser so bedeutsamen Stunde eingeschlafen! – der Gewissheit Ausdruck gegeben wurde, dass „ohne menschliche Gewalt, sondern allein durch Gottes Wort“, also nur durch das auf Überzeugung und Einverständnis zielende Wort versucht werden kann und darf, der Wahrheit des Evangeliums zum Recht zu verhelfen.[4]
Das aber kann nur gelingen, wenn die Freiheit zum Wort garantiert ist. Und das gilt nicht nur für das mündliche Wort auf der Kanzel und auf Kirchentagen, sondern das gilt genau so für das gedruckte Wort in Büchern und in den Printmedien. Es ist nicht überflüssig, daran zu erinnern: was wir heute Pressefreiheit nennen, das ist eine säkularisierte Gestalt der von den Reformatoren in Anspruch genommenen Freiheit zum Wort. Und so wie es ohne Religionsfreiheit keine politische Freiheit gibt, so gibt es auch ohne Pressefreiheit keine politische Freiheit. Angesichts der Morde, denen auch heute noch und heute wieder kritische Journalistinnen und Journalisten zum Opfer fallen, kann man die Tapferkeit derer gar nicht genug rühmen, die trotz der ihnen drohender Gefahr ihren kritischen Job unbeirrt weitermachen. Sie sind Anwälte der Freiheit. Und einer Institution wie den Reportern ohne Grenzen gebührt die Solidarität des Deutschen Evangelischen Kirchentages. Sie verteidigen auf ihre weltliche Weise, was die Aufklärung im Lichte des Evangeliums initiiert hat.
Der Aufklärung im Licht des Evangeliums ist es allerdings eigentümlich, dass sie den Verzicht auf Gewalt auch sprachlich zur Geltung bringt. Denn diese Aufklärung gibt keine Befehle. Sie bittet. Und sie bittet – wie der Apostel (2Kor 5,20) erklärt – an Christi statt. Sie bittet also in der Autorität Jesu Christi. Und diese apostolische, ja christologische Autorität der Bitte wiegt mehr als die Autorität des Befehls, mit der sich Jahrhunderte später dann die europäische Aufklärung im Lichte der Vernunft bemerkbar machte. Diese Aufklärung befiehlt, sich mutig seines eigenen Verstandes ohne fremde Anleitung zu bedienen! Zweifellos ein guter Befehl! Auch Befehle können in einer bestimmten Situation überaus hilfreich sein. Doch die Aufklärung im Lichte des Evangeliums hat keine andere Autorität als die der Bitte.
Verträgt sich diese Aufklärung im Licht des Evangeliums mit jener Freiheit, die die Aufklärung im Lichte der Vernunft verheißt? Das entscheidet sich daran, wo der freie Mensch ist oder zu sein meint. Und so stellt sich die Leitfrage unseres Kirchentages wieder ein: Mensch, wo bist Du?
Ja, wo ist er denn: der freie Mensch? Wer diese Frage allein im Lichte der Vernunft (sola ratione) beantworten zu können meint, antwortet in der Regel – es gibt bemerkenswerte Ausnahmen! – mit der These: der freie Mensch ist ganz und gar bei sich selbst. Und er ist so bei sich selbst, dass er „keinen anderen Gesetzen“ unterworfen ist, „als denen“, die er „sich selbst gibt“.[5] Und so gibt denn nach dieser sehr respektablen Auffassung der Mensch sich selber seine eigene Freiheit. Er kommt aus der Fremde der selbstverschuldeten Unmündigkeit „aus eigener Vernunft und Kraft“ zu sich selbst.
Und zu sich selbst kommt er, indem er, durch die moralische Stärke seines Willens geleitet, tätig wird und so von sich selbst Besitz ergreift. So „allein“, behauptet der große Kant, wird „er frei“[6]. Freiheit erringt, erwirbt man nach dieser Auffassung also durch das eigene moralische Handeln. Und die so erworbene Freiheit besteht darin, dass kein Anderer über mich verfügt, sondern nur ich über mich. Dann besitze ich mich selbst. Und wenn ich mich selbst besitze, dann habe ich – meint die Vernunft – das Vermögen, von selbst etwas anzufangen, das noch nicht vorprogrammiert ist. Zweifellos ein respektables Verständnis von Freiheit! Aber nicht ohne weiteres deckungsgleich mit der christlich verstandenen Freiheit.
Deshalb ist es nun an der Zeit, sich explizit auf den Glauben zu besinnen, der sich bisher implizit ja auch schon immer bemerkbar gemacht hat. Nun aber explizit!
Und da kommt zunächst einmal die bereits erwähnte Tatsache in den Blick, dass die Glaubenden um Freiheit bitten. So wenig sie die Wahrheit besitzen, so wenig ist für sie Freiheit etwas, was sie besitzen zu können meinen. Sie bitten vielmehr schon um die Wahrheit und dann um die sich der Wahrheit verdankende Freiheit. Der uns allen bekannte Choral sagt es klar: „Erhalt uns in der Wahrheit, / gib ewigliche Freiheit, / zu preisen Deinen Namen / durch Jesus Christus. Amen.“ Und das sollten wir, bevor wir weiter nachdenken, zunächst erst einmal singen. Denn in der christlichen Theologie folgt das Denken dem Glauben. Und der Glaube ist in seiner Höchstform, wenn er singt. So bitte ich Sie, nun einzustimmen in den Choral, der Gott nicht nur dankt und ehrt, sondern ihn eben auch um Wahrheit und Freiheit bittet.
Nun lasst uns Gott dem Herren / Dank sagen und ihn ehren / für alle seine Gaben, / die wir empfangen haben.
Den Leib, die Seel, das Leben / hat er allein uns geben; / dieselben zu bewahren, / tut er nie etwas sparen.
Nahrung gibt er dem Leibe; / die Seele muss auch bleiben, / wiewohl tödliche Wunden /sind kommen von den Sünden.
Ein Arzt ist uns gegeben, / der selber ist das Leben; / Christus, für uns gestorben, / der hat das Heil erworben.
Sein Wort, sein Tauf, sein Nachtmahl / dient wider alles Unheil; / der Heilig Geist im Glauben / lehr uns darauf vertrauen.
Durch ihn ist uns vergeben / die Sünd, geschenkt das Leben. / Im Himmel soll’n wir haben, / o Gott, wie große Gaben!
Wir bitten deine Güte, / wollst uns hinfort behüten, / uns Große mit den Kleinen; / du kannst’s nicht böse meinen.
Erhalt uns in der Wahrheit, / gib ewigliche Freiheit, / zu preisen deinen Namen / durch Jesus Christus. Amen.[7]
III.
„Gib ewigliche Freiheit!“ Wer darum bittet, dem fehlt offensichtlich etwas für ihn Entscheidendes. Wer um Freiheit bittet, der ist offensichtlich so bei sich selbst, dass er bei sich selbst einen elementaren Mangel wahrnimmt. Sagen wir es in einer ganz unreligiösen Sprache: Wer so bei sich selbst ist, der ist unglücklich, der ist mit sich selbst nicht im Frieden, der ist, wenn er bei sich selbst ist, nicht frei, sondern an sich selbst gefesselt, ja in sich selbst gefangen.
Das war die elementare Einsicht, die der Apostel Paulus den ersten christlichen Gemeinden geradezu penetrant bewusst zu machen versucht hat: Ja, Ihr seid frei. Aber Eure Freiheit verdankt ihr nicht Euren – mehr oder weniger – respektablen tugendhaften Taten, verdankt Ihr nicht Eurer – mehr oder weniger – respektablen moralischen Lebensweise, verdankt Ihr keiner moralischen Aufrüstung. So lange Ihr Euch – und sei es denn moralisch – nur mit Euch selbst beschäftigt, könnt Ihr in Wahrheit überhaupt nichts anfangen. So lange Du bei Dir selbst bist, kannst Du immer nur an Deiner eigenen Vergangenheit weiterbauen – „nach dem Gesetz, wonach Du angetreten“. Und dann bleibst Du auf Deine Vergangenheit fixiert, bleibst Du ein in die eigene Geschichte verstricktes, ja gefangenes Ich, das allererst befreit werden muss, um zu sich selbst ein wahrhaft menschliches Verhältnis zu gewinnen. Deshalb: ohne Befreiung keine Freiheit eines Christenmenschen!
Das gilt erst recht im Blick auf ein in Sünde und Schuld verstricktes Menschenleben, das sich selber sein Gefängnis baut, aus dem es dann von selbst nicht mehr herauskommt. Es ist wie niemand sonst auf Befreiung angewiesen.
Doch das wäre eine geradezu sadistische Feststellung, wenn sie nicht mit der Verheißung verbunden wäre, das Befreiung möglich, ja dass der Befreier bereits da ist. Am Heiligen Abend singen wir: „Christ, der Retter, ist da“. Und das will heißen: Christ, der Befreier, ist da. Der im Namen Gottes in die Welt gekommene Befreier – in der Person Jesu Christi ist er da. „Den Gefangenen Befreiung“ nicht nur zu verheißen, sondern zu bringen – dazu ist er nach seinen eigenen Worten (Lk 4,18) in die Welt gekommen.
Und wie macht er das? Wie befreit der im Namen Gottes zur Welt gekommene Befreier die in ihren selbstgebauten Gefängnissen Gefangenen?
Die Antwort ist einfach und doch alles andere als selbstverständlich. Jesus Christus – Gott von Gott, Mensch unter Menschen und Menschenfreund – wird unser Befreier, indem er unser Leben mit uns teilt und unseren Tod mit uns teilt. Und indem er unsere Schuld mit uns teilt. Nein, hier ist das Wort „teilt“ fehl am Platze. Denn Jesus Christus teilt nicht unsere Schuld und unsere Sünde, sondern er nimmt sie uns ab. Mehr noch: er nimmt uns unsere Existenz als Sünder ab und macht sie sich zu eigen. Und er überlässt uns dafür sozusagen als Gegengabe seine eigene Heiligkeit.
Einen „fröhlichen Wechsel“ hat Luther das genannt: fröhlich für uns, schmerzlich für ihn. Für ihn ist es eine Passion, in der allerdings menschliches Leid und Gottes Leidenschaft, nämlich seine leidenschaftliche Liebe zu uns, nicht mehr zu trennen sind. Und wer Gott dies zutraut, dass er den unendlichen Schmerz zu verarbeiten, dass er mit seiner Passion etwas Neues anzufangen, dass er aus Sündern Heilige zu machen vermag – der glaubt. Und wird befreit.
„Im Glauben“, behauptet Martin Luther vom Christenmenschen, „fähret er über sich hinaus in Gott“. Und weil er im Glauben über sich hinaus fährt, also nicht mehr auf sich selbst fixiert und in sich selbst gefangen ist, deshalb ist er nun „ein freier Herr über alle Dinge und niemandem Untertan“[8].
Über sich hinaus – das heißt zunächst einmal: aus sich heraus. Wer glaubt, der bleibt nicht bei sich selbst, der geht vielmehr aus sich heraus. Er verlässt sich – nämlich auf Gott.
Doch man verwechsle dieses „Aus-sich-heraus-gehen“ nur ja nicht mit dem heutzutage gängigen Drang, das eigene Innere so schnell wie möglich publik zu machen. Meine psychischen Innereien jederzeit möglichst effektvoll und mediengerecht zur Schau zu stellen – das hat eher etwas mit Obszönität zu tun. Mit der Freiheit eines Christenmenschen hat es ganz und gar nichts zu tun. Zur christlichen Freiheit gehört zwar auch der Mut zum Beichten, aber nicht der Wille zu exhibitionistischer Selbstdarstellung.
Und noch ein weiteres Missverständnis gilt es vorsorglich auszuschließen. Man verwechsle Luthers Behauptung, im Glauben fahre der Mensch über sich hinaus, nur ja nicht mit einem mentalen Höhenflug: hoch und immer noch höher hinauf, bis man dann über den Wolken seinen Ort gefunden hat: an einem überlegenen Ort, von dem aus alles, was man unter sich zurückgelassen hat, als eng, begrenzt, ja „nichtig und klein“ erscheint. Ein überlegener Ort, von dem man mit charmanter Ironie oder mit ironischem Charme zu schwärmen vermag: „Über den Wolken, da mag die Freiheit wohl grenzenlos sein“.
Nein! Auch über den Wolken ist die Freiheit keineswegs grenzenlos. Und wer im Glauben über sich hinaus fährt, der bewegt sich wahrhaftig nicht über den Wolken, sondern der ist bei Gott: Bei dem Gott, der so frei war, Himmel und Erde zu schaffen; ja bei dem Gott, der in seiner Freiheit nicht nur alles, was über und unter den Wolken ist, geschaffen hat, sondern der das von ihm Geschaffene auch bejaht, von Herzen bejaht.
Gottes schöpferische Freiheit ist nicht die Willkür eines allmächtigen Machers, sondern die Freiheit eines leidenschaftlichen Liebhabers, dem das, was er schafft, am Herzen liegt. Deshalb erscheinen von Gott aus gesehen unsere irdischen Verhältnisse keineswegs nichtig und klein. Von Gott aus gesehen wird vielmehr mein irdisches Dasein und das Dasein aller Kreaturen unendlich wichtig und bedeutsam. Das alte Kinderlied bringt es theologisch auf den Punkt: „Weißt Du wie viel Sternlein stehen / an dem blauen Himmelszelt? / Weißt Du wie viel Wolken gehen / weithin über alle Welt? / Gott der Herr hat sie gezählet, / dass ihm auch nicht eines fehlet / von der ganzen großen Zahl […] Gott im Himmel hat an allen / seine Lust, sein Wohlgefallen; / kennt auch Dich und hat Dich lieb“.[9]
So also realisiert Gott seine schöpferische Freiheit, so verwirklicht er das Vermögen, von selbst etwas anzufangen: nämlich indem er das, was er zu Stand und Wesen bringt, zugleich von Herzen bejaht und sich damit an das von ihm Angefangene bindet, und zwar for ever and ever. Ohne diese Bindung an das von ihm in Freiheit nicht nur geschaffene, sondern von Herzen bejahte Geschöpf wäre Gottes Freiheit nur eine despotische Willkür, wie sie von nicht wenigen großen und kleinen Machthabern in unserer Welt praktiziert wird. Doch der intimste Feind der Freiheit ist die in der Maske der Freiheit auftretende Willkür.
Das musste den ersten Christen allerdings erst klar gemacht werden. Denn im Glauben partizipieren wir menschlichen Geschöpfe ja an der sich bindenden Freiheit Gottes. Und deshalb kann auch die Freiheit der Glaubenden niemals bindungslos oder grenzenlos sein. Doch die christliche Freiheit wurde von Anfang an nicht selten im Sinne einer bindungslosen und grenzenlosen Freiheit missverstanden.
Mit diesem Missverständnis musste sich schon der Apostel Paulus auseinandersetzen. Hatte er doch behauptet, dass der Glaubende ganz und gar frei und dass ihm in seiner Freiheit alles erlaubt ist (1Kor 6, 12). Die Schuld des Sünders ist ja getilgt. Ihm sind ja die Sünden vergeben. Und „wo Vergebung der Sünden, da ist Leben und Seligkeit“. So interpretiert Martin Luther den Apostel.[10]
Seligkeit ist für uns Menschen des 21. Jahrhunderts freilich ein Fremdwort geworden, in das sich allerlei pseudoromantischer und pseudoreligiöser Kitsch eingenistet hat. Das Wort muss deshalb übersetzt werden. Und am besten übersetzt man es eben mit Freiheit, ja mit ewiglicher Freiheit. Denn wo einem Menschen Sünden und Schuld vergeben werden, da wird das menschliche Leben in ganz neuer Weise lebendig, da erschließt sich Zukunft, unbelastete und unverbrauchte Zukunft, in der die Lebenswirklichkeit überschwingt in ungeahnte Möglichkeiten. Und wo die Wirklichkeit in Möglichkeiten überschwingt, da muss die Freiheit doch wohl grenzenlos sein. So haben sich das jedenfalls die von der befreienden Wahrheit enthusiastisch begeisterten Korinther gedacht und zitieren ihren Apostel: „Mir ist alles erlaubt“.
Was nun? Soll der Apostel widerrufen? Muss er dem befreienden Evangelium misstrauen und doch lieber auf das Gesetz setzen? So wie es dann später viele große Denker und Dichter taten. Und wie es heute so mancher Minister für richtig hält, der ein Gesetz nach dem anderen zum Schutze der Freiheit in Vorschlag bringt, weil er sich dessen gewiss ist, dass „vergebens […] ungebundene Geister / nach der Vollendung reiner Höhe streben. / Wer Großes will, muss sich zusammen raffen; / in der Beschränkung zeigt sich erst der Meister, / und das Gesetz nur kann uns Freiheit geben“.[11] Nein, das stammt nicht von unserem Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble, sondern das stammt von einem anderen Minister, der im Nebenberuf allerdings auch noch Dichter war und Johann Wolfgang von Goethe hieß.
„Das Gesetz nur kann uns Freiheit geben“ – wenn es um das Zusammenleben des Menschen mit anderen Menschen geht, dann trifft das zumindest halbwegs zu, obwohl schon im Blick auf das menschliche Zusammenleben in einer Familie Vertrauen und Liebe wohl doch sehr viel mehr Freiheit freisetzen als ein Gesetz. Aber im politischen Zusammenleben von sehr unterschiedlich und oft sogar gegensätzlich orientierten Bürgerinnen und Bürgern ist das Gesetz tatsächlich zwar nicht der Ursprung, wohl aber ein Garant der Freiheit. Jedenfalls dann, wenn das Gesetz seine eigenen Grenzen kennt und nicht alle Lebensbereiche regulieren will. In der mittelalterlichen Scholastik hat der Theologe Ockham den Grundsatz aufgestellt, dass „Seiendes nicht ohne Notwendigkeit vermehrt werden soll: entia non sunt multiplicanda praeter necessitatem“. Das gilt auch und auf jeden Fall im Blick auf die das gesellschaftliche Leben regulierenden und die Freiheit der Bürgerinnen und Bürger schützenden Gesetze. Auch diese Gesetze sind nicht ohne Notwendigkeit zu vermehren. So viel wie nötig, so wenig wie möglich!
Dennoch: wo es im Zusammenleben von Menschen notwendig ist, da muss ein Gesetz her: ein Gesetz, das die Freiheit schützt und nicht etwa erstickt.
Aber wenn es um das Zusammenleben mit Gott geht, dann gilt gerade nicht: „Und das Gesetz nur kann uns Freiheit geben“. Denn Gott will mit uns nur dann zusammenleben, wenn wir ihm vertrauen und ihm durch unser Vertrauen die Ehre geben. Und das Evangelium mutet uns – im Unterschied zu dem uns fordernden und oft auch überfordernden Gesetz – nichts anderes zu, als Gott zu vertrauen, dem befreienden Gott zu vertrauen. Und eben deshalb gilt im Blick auf das Zusammenleben mit Gott, dass der Mensch unter Ausschluss des Gesetzesweges allein aus Glauben, allein aus dem herzlichen Vertrauen auf Gott, gerecht wird und frei.
Vertrauen aber stellt sich da ein, wo mir ein anderer so begegnet, dass ich nur noch „Danke“ sagen kann und „Ja“ und „Amen“. Da muss man nichts tun, sondern nur sein. Man ist dann passiv, aber in dieser Passivität äußerst lebendig und voller Spontaneität. Ich nenne das kreative Passivität. Sie ist das Merkmal des Glaubens. Also keine quietistische, sondern eben eine kreative Passivität, aus der dann auch Taten der Freiheit hervorgehen: „Durch Glauben gerechtfertigt gehen wir hinaus in das aktive Leben“[12] – so treffend der Kommentator des Galaterbriefes, Martin Luther.
Wo also ist nun der Glaubende? Er ist da, wo Gott ist. Und er ist nicht nur da, sondern er ist dabei: Nämlich dabei, wenn Gott aus seiner göttlichen Höhe in unser Elend herab kommt um dieses Elend zu beenden. Der Glaubende ist dabei, wenn Gott seine Freiheit liebend verwirklicht und anderes, nichtgöttliches Sein neben sich bejaht. Wer nicht nur da ist, wo Gott ist, sondern auf unsere menschliche Weise dabei ist, wenn Gott seine Schöpfung, wenn er auch sein gefallenes Geschöpf unbeirrbar bejaht, der muss auf seine menschliche Weise ebenfalls Ja sagen können. Und nur dann auch entschieden Nein, wenn etwas diesem kreativem Ja destruktiv widerspricht.
IV.
Wer glaubt, sagt Ja – nicht zu allem und jedem, sondern zu genau dem, was Gott bejaht hat und zu bejahen nicht aufhören wird. In diesem sehr pointierten Sinne ist der Glaubende ein Ja-Sager, allerdings ein äußerst kritischer Ja-Sager. Denn er sagt im selben Atemzug klar und entschieden Nein zu allem, was dem göttlichen Ja widerspricht. Der Glaubende ist also kein notorischer Nein-Sager. Nein sagt er nur, weil und insofern er seinerseits von Herzen bejaht, was sein Schöpfer und Erlöser bejaht hat und zu bejahen nicht aufhören wird. Und was Gott bejaht, das verdient Anerkennung, das verdient in Ehren gehalten zu werden und dessen kann und soll man sich ungeniert freuen. Anerkennen, in Ehren halten, sich freuen – darum geht es also auch, wenn der Glaubende Ja sagt.
Fragen wir deshalb in einem letzten Gedankengang, wozu die Glaubenden mit Gedanken, Worten und Werken Ja sagen, und was sie eben deshalb klar und entschieden verneinen. Ich beschränke mich auf das Wesentliche und nenne drei Gesichtspunkte.
1. Der Glaubende sagt Ja zu Gott. Mit Gott bringt ihn ja das Evangelium und sein dem Evangelium vertrauender Glaube zusammen. In diesem Ja zu Gott wird Luthers seltsame Behauptung, dass der Mensch im Glauben über sich hinaus zu Gott fährt, konkret, verliert sie den Anschein, als würde der Mensch im Glauben aus der Haut fahren oder als würde er in einer Art Himmelfahrt sich über seine Welt hinwegsetzten. Denn indem der Mensch Ja zu Gott sagt, ereignet sich hier auf Erden Gottesdienst, feiert der Glaubende mit Leib und Seele, mit Augen, Ohren und allen Gliedern, mit Vernunft und allen Sinnen Gottesdienst. Die Abendmahlsliturgie bringt das eindrücklich zum Ausdruck, wenn die Glaubenden auf den Ruf: „Erhebet Eure Herzen (sursum corda)!“ mit der Aussage antworten: „Wir erheben sie zum Herrn (habemus ad dominum)!“ Und wo eines Menschen Herz ist, da ist der ganze Mensch.
Das gottesdienstliche Ja zu Gott macht deutlich, dass der Glaube an Gott nicht auf seinen privaten oder sozialen Nutzen reduziert werden darf. Wer das nicht von selber einsieht, sollte es sich von einem pointierten Kritiker des Christentums – dem Berliner Philosophen Herbert Schnädelbach – sagen lassen[13]: Nützlich ist der Glaube an Gott nur, wenn er nicht auf seinen Nutzen reduziert wird. Ein guter Therapeut ist Gott nur, wenn man ihn nicht auf seinen therapeutischen Nutzwert reduziert. Denn Gott ist um seiner selbst willen interessant. Deshalb feiern die Glaubenden Gottesdienst.
Gewiss, ein Christenmensch bejaht Gott sein Leben lang. Das Ja des Glaubens zu Gott ist nicht nur ein liturgisches Ja. Aber damit die Glaubenden auch in ihrem alltäglichen Leben Gott zu bejahen die Kraft haben, deshalb gibt es den die Arbeitstage elementar unterbrechenden Feiertag, der durch die gottesdienstliche Feier geheiligt wird. Von diesem uns unentwegt tätige Menschen in jene kreative Passivität versetzende Feiertag her gewinnt dann auch das alltägliche Leben der Glaubenden den Charakter eines – so nennt Paulus (Röm 12,1) das – „vernünftigen Gottesdienstes“.
Und was geschieht an dem zur Feier des Gottesdienstes bestimmten Feiertag? Nun, schon der Name dieses Tages gibt den entscheidenden Hinweis. Wer feiert, freut sich.
Am Sabbat freute sich Israel in überschwänglicher Weise über all das, was der Herr Großes für sein Volk getan hat. An diese großen Taten wird Israel am Sabbat erinnert, und zwar so erinnert, dass das einst Geschehene in neuer Weise präsent wird. Und die Christenheit feiert in derselben Weise wie Israel. Nur das jetzt als größte der großen Taten Gottes die Auferweckung Jesu von den Toten und insofern auch sein Tod vergegenwärtigt wird. Deshalb kommt im Gottesdienst das Evangelium zu Sprache: das Evangelium, in dem der gekreuzigte und von den Toten auferweckte Jesus Christus selbst sich uns zusagt und uns an seiner „ewiglichen Freiheit“ Anteil gibt.
Das Evangelium aber will gehört werden. Im Hören wird der Glaube wiederum in jene kreative Passivität versetzt, ohne die alles Handeln zwar höchst respektabel sein mag, aber ganz gewiss kein christliches Handeln wäre. Deshalb geht als erste christliche Tat aus jener kreativen Passivität auch nicht eine auf die Welt und auf das alltägliche Leben gerichtete Aktion hervor, sondern vielmehr die auf Gott selbst gerichtete Aktion des Lobpreises und des Gebetes.
Im Lobgesang artikuliert sich das menschliche Ja zu Gott in überschwänglicher Freude. Deshalb ist die christliche Gemeinde per definitionem singende Gemeinde. Und im Gebet wird das menschliche Ja zu Gott immer wieder neu zum Ausdruck unbedingten Vertrauens: eines Vertrauens, das auch in profundis nicht erstirbt, sondern dann eben de profundis als Klage zu Gott emporsteigt.
Im unser alltägliches Arbeitsleben unterbrechenden Gottesdienst, im die Reihe der Werktage unterbrechenden Feiertag geschieht das alles konkret, aber auch mit so starker Ausstrahlungswirkung, dass dann ebenfalls im Alltagsleben solche Unterbrechungen möglich werden: im Tischgebet, im Abendlied, aber auch im zu Gott emporsteigenden Seufzer. In solchen Äußerungen sagen wir Ja zu Gott, und zwar auch dann, wenn es nur zu einem Ach ja reicht.
Nein, entschieden und unmissverständlich Nein sagt der Glaube deshalb gegen alle Versuche, die Freiheit zum Glauben, also das, was man juristisch „Religionsfreiheit“ nennt, zu unterdrücken. Ohne praktizierte Religionsfreiheit und ohne praktizierte Gewissensfreiheit wäre die Proklamation politischer Freiheit nur eine hohle Phrase. Und dasselbe gilt auch in geistlicher Hinsicht, gilt auch innerhalb einer Religion: ohne das Bekenntnis zur Religionsfreiheit und zur Gewissensfreiheit wäre das stolze Wort von der Freiheit eines Christenmenschen ein groteskes Selbstmissverständnis. Wer Religionsfreiheit und Gewissensfreiheit behindert oder auch nur in Frage stellt – und das geschieht keineswegs nur in der sog. Pius-Bruderschaft -, der muss mit dem entschiedenen Widerstand und einem unmissverständlichen Nein derer rechnen, die zu Gott Ja sagen.
Diesen Kampf für die Religionsfreiheit muten die Christen allerdings allen Religionsgemeinschaften zu. Wir fordern deshalb klar und entschieden: Gebt den Andersgläubigen, ja gebt auch den Ungläubigen unter Euch dieselbe Freiheit, die Ihr für Euch selbst – völlig zu Recht – in Anspruch nehmt.
Wir muten aber auch unseren europäischen Regierungen zu, dass sie zu der skandalösen Unterdrückung der Christen in anderen Staaten kritisch Stellung nehmen und gegen diese Unterdrückung effizient intervenieren. Wenn z. B. die Konversion von Muslimen von Staats wegen mit dem Tode bedroht wird, dann sind diplomatische Interventionen jener Regierungen, die sich der Aufklärung im Lichte der Vernunft verpflichtet wissen, zwingend geboten.
2. Wer glaubt, sagt aber nicht nur Ja zu Gott, sondern weil er Gott bejaht, sagt er auch Ja zu seinen Mitmenschen, sagt er Ja zu seiner sozialen und natürlichen Umwelt. Gott, der Freund des Lebens, hat das Leben als Zusammenleben bejaht. Deshalb gilt das Ja des Glaubens dem gelingenden Zusammenleben des Menschen mit anderen Menschen.
Diese anderen Menschen sind für das glaubende Ich zunächst einmal und mit Notwendigkeit die anderen Glaubenden. Insofern bejaht der Glaubende die Gemeinschaft der Glaubenden, also die una sancta catholica et apostolica ecclesia, und zwar in allen ihren Realisierungen. Er bejaht also auch den Deutschen Evangelischen Kirchentag. Und er bejaht im selben Atemzug die ökumenische Gemeinschaft der Glaubenden. Und wünscht dem Papst alles Gute, vor allem gute Berater …
Doch es gibt nicht nur Gläubige. Der Glaubende hat auch ungläubige und andersgläubige Mitmenschen, mit denen er zusammenlebt. Es gibt auch außerhalb der Kirche menschliches Zusammenleben, das von Gott bejaht ist: das Zusammenleben eines menschlichen Ich mit einem menschlichen Du, aber auch das Zusammenleben mit dem mir aus nächster Nähe oder aus einiger Ferne begegnenden Fremden. Der Glaube sagt Ja zu diesen anderen Menschen. Und das heißt: Er erkennt das Anderssein des Anderen an, das Anderssein des Allernächsten genauso wie das Anderssein des Fremden. Der Glaubende wird das Anderssein des Fremden, aber auch das Anderssein des Ehepartners, der Familienangehörigen, des Freundes nicht dem eigenen Willen gleichschalten, sondern es als dieses Anderssein in Ehren halten, ja sich seiner freuen.
Und deshalb sagt der Glaube klar und entschieden Nein zu aller Monotonie, deshalb widerspricht er allem Zwang zur Uniformierung der menschlichen Existenz. Gewiss, zum menschlichen Zusammenleben gehört auch die Fähigkeit und sogar eine gewisse – wohl begrenzte – Notwendigkeit zur Anpassung. Aber totale Anpassung zu erzwingen, das ist genauso verwerflich wie die charakterlose Bereitschaft, sich von selber dem Anderen total anzupassen. Gott hat die Welt pluriform, nicht uniform geschaffen. Er hat sie auch nicht anthropomorph geschaffen, sondern neben dem menschlichen Geschöpf eine hochkomplexe Vielfalt von Kreaturen ins Sein gerufen, die es anzuerkennen und in Ehren zu halten gilt. Nur dann kann der Mensch sich überhaupt an Gottes Schöpfung freuen. An der Monotonie des Lebens könnte sich niemand freuen. Wo das Leben monoton und uniform wird, da wird jede Freude bereits im Keim erstickt. Das Universum bejahen heißt also, es als Pluriversum anerkennen, in Ehren halten und sich an seiner Vielfältigkeit erfreuen. Variatio delectat.
3. Ein letztes: Wer glaubt, sagt auch Ja zu sich selbst. Als von Gott gerechtfertigter Sünder weiß er sich ja in sehr persönlicher Weise von Gott bejaht, anerkannt und in Ehren gehalten. Ja der Glaubende ist sich dessen gewiss, dass Gott sich an ihm freut: „kennt auch Dich und hat Dich lieb“. Und eben deshalb kann das glaubende Ich mit Fug und Recht sich selbst bejahen. Um seine eigene Anerkennung und für seine eigene weltliche Ehre muss er nicht kämpfen. Das kann er, wenn es denn notwendig ist, denen überlassen, die das Neue Testament „des Glaubens Genossen“ nennt. Aber sich seines Lebens freuen und über sich selber lachen – ja, das kann ein menschliches Ich, wenn es glaubt. Und zwar ungeniert.
Unmissverständlich und entschieden Nein sagt der Glaube deshalb zu allen – sei es weltlichen, sei es spirituellen – Versuchen, einem menschlichen Ich sein Selbstvertrauen zu rauben, seine Identität – sei es in brutaler, sei es in sublimer Weise – zu zersetzen, ihm das Rückgrat zu brechen und ihn zu einer gebrochenen Existenz zu machen, die sich selber nicht mehr über den Weg traut. Der Mensch ist kein Kriechtier, sondern von Gott zu aufrechtem Gang geschaffen. Beugt er sich, dann nicht vor weltlicher oder kirchlicher Gewalt, sondern dann beugt er sich zu denen hinab, die seine Hilfe brauchen, um ihrerseits wieder auf die Beine zu kommen.
V.
Fragen wir nun noch einmal: „Mensch Wo bist Du?“ so lässt sich für den glaubenden Menschen sehr schlicht antworten: Er ist – wie der Berliner sagen würde – hin und weg. Weg von sich selbst und insofern von sich selbst befreit. Weg von sich selbst, weil er glaubend hingerissen ist von Gott und zu Gott, um sich dann, ohne Gott hinter sich zu lassen, abermals hinreißen zu lassen zu denen, die seine Liebe brauchen. Der Glaubende ist also ständig unterwegs, und kommt auf diesem Weg und nur auf ihm in immer neuer Weise dann auch zu sich selbst, so dass er sich selber immer wieder neu kennen lernt. Und so ist er hin und weg vor Freude über Gott, vor Freude über Gottes Schöpfung, vor Freude aber auch über sich selbst.
Und wo ist der Mensch, der nicht glaubt? Das weiß ich nicht. Aber das glaube ich: dass der Nichtglaubende da ist, wo Gott ihn finden wird.
Vortrag gehalten am 22. Mai 2009 auf dem 32. Deutschen Evangelischen Kirchentag im Bremen.
[1] Vgl. I. Kant, Kritik der reinen Vernunft, B 561 …
[2] Die philosophischen Schriften, hg. von C.J. Gerhard, Bd. 7, 1978, 109: Eo major est libertas, quo magis agitur ex ratione.
[3] I. Kant, Was ist Aufklärung,
[4] CA 28, BSLK 124, 4ff.
[5] I. Kant, Metaphysik der Sitten, Akademie Textausgabe VI, 1907, 233.
[6] AaO, 405.
[7] EG 320,1-8.
[8] M. Luther, Von der Freiheit eines Christenmenschen, WA 7 21.38.
[9] EG 511.
[10] Kleiner Katechismus, BSLK 520, 29f.
[11] Johann Wolfgang von Goethe: „Das Sonett“ (1815), in: Werke. Hamburger Ausgabe, Bd. 1, S. 245.
[12] M. Luther, Galaterbriefkommentar WA 40/I 447,22: Fide autem nobis justificatis, egredimur in vitam activam.
[13] Vgl. H. Schnädelbach, Religion in der modernen Welt, 2009.