Brief von Elisabeth Schmitz vom 24. November 1938 an Pfarrer Helmut Gollwitzer in Berlin-Dahlem[1]
Dr. Elisabeth Schmitz Den 24. November 1938
Berlin NW7, Luisenstr. 67
Tel. 41 1684.
Sehr geehrter Herr Pfarrer,
Bitte, erlauben Sie mir, daß ich Ihnen noch heute aus tiefstem Bedürfnis heraus für den Bußtagsgottesdienst[2] danke. Es läßt sich wohl nicht mehr sagen als dies: daß man erfüllt war von dem Gefühl: So, und nur so kann und darf nach dem, was geschehen ist, eine christliche Gemeinde in Deutschland zusammen sein. Meiner Freundin, die vor der – im Augenblick unmöglich gemachten – Auswanderung steht, haben Ihre Worte herausgeholfen aus tiefer Bitterkeit und Verzweiflung über die Haltung der Kirche.[3]
Ich weiß nicht, ob Sie sich besinnen, daß ich vor einigen Wochen einmal bei Ihnen war, um mit Ihnen darüber zu sprechen, daß die Kirche ihren Gemeinden ein Wort zur Behandlung der Juden in Deutschland sagen müsse. Ich habe auf Ihren Rat hin an Niesel[4] geschrieben. Das Wort der Kirche ist nicht gekommen. Dafür haben wir das Grauenhafte erlebt und müssen nun weiterleben mit dem Wissen, daß wir daran schuld sind. Als wir zum 1. April 33 schwiegen, als wir schwiegen zu den Stürmerkästen, zu der satanischen Hetze der Presse, zur Vergiftung der Seele des Volkes und der Jugend, zur Zerstörung der Existenzen und der Ehen durch sogenannte „Gesetze“, zu den Methoden von Buchenwald – da und tausendmal sonst sind wir schuldig geworden am 10. November 1938. Und nun? Es scheint, daß die Kirche auch dieses Mal, wo ja nun wirklich die Steine schreien, es der Einsicht und dem Mut des einzelnen Pfarrers überläßt, ob er etwas sagen will, und was. [224]
Aber was m. E. nun überall kommen muß, ist die Fürbitte. Kurtz[5] nannte am Sonntag als im KZ befindlich außer den vier noch Schweitzer[6] und Benfey[7]. Es ist ja wohl klar, daß diese beiden als „Juden“ dort sind. Es geht aber nicht an, aus der Masse der verhafteten zwei herauszugreifen, weil sie zufällig Pfarrer sind oder gewesen sind. Und in diese Fürbitte gehören sie auch nicht hinein. Aber wohl gehören sie in stärkstem Maß in die Fürbitte überhaupt hinein. Aber nicht nur sie, sondern all die andern auch, und nicht nur die Christen, sondern auch die Juden, d. h. alle die 40000 oder mehr Verschleppten. In ganz England finden besondere Fürbittegottesdienste statt für die Opfer der Pogrome. Müßten denn nicht wir vor allem Tag und Nacht auf den Knieen liegen? Wir kommen von diesem Bußtag her und gehen in die Adventszeit. Wie sollen wir das eigentlich machen?
Smend[8] sagte mir, Grüber[9] habe gebeten, um der Gefahr für die Juden willen von einer Fürbitte abzusehen. Dazu muß ich sagen:
- Ich glaube nicht an diese Gefahr. Die Absichten der Regierung halte ich für so radikal, nämlich im Jahr 1940 mit der „Ausrottung“ im wesentl. fertig zu sein, daß von einer „Gefahr“ gar nicht mehr zu reden ist.
- Ich halte dies Argument für völlig unkirchlich. Die Kirche hat ja gar keine Wahl, es ist ihr geboten, die Fürbitte zu tun.
Ob wohl jemand auf den Gedanken gekommen ist, an Dr. Baeck zu schreiben im Namen der Kirche, oder an die jüdische Gemeinde, der man alle Gotteshäuser in Deutschland verbrannt oder in die Luft gesprengt hat, wobei man an manchen Orten die Rabbiner gezwungen hat, zuzusehen. Wo sollen denn nun die Gemeinden Gottesdienst halten in dieser Notzeit?
Es scheint mir oft, als ob die Kirche sich vom Feind täuschen und hinhalten lasse durch ein Vorpostengeplänkel (Finanzkommissar u. dgl.), was auch durchgefochten werden muß; aber als starre sie blind auf diesen Punkt und merke nicht, daß ihre Linie bereits völlig umgangen und eingekreist ist, und daß der entscheidende Hauptangriff vom Rücken her droht, ganz woanders her, als sie ihn erwartet. In solcher Situation hilft nur der Einsatz aller Kräfte am entscheidenden Punkt, und das würde hier heißen: daß die Kirche in jedem Falle strikt als Kirche handelt, ohne rechts und links zu sehen, ohne Taktik, ohne zu fragen: was wird daraus, allein nach ihrem Wesen und ihrem Auftrag, daß sie sich selbst ganz ernst nimmt. Und daß sie vorbereitet ist auf das, was kommt. Kommen tut nach Ankündigung der Regierung zweifellos die völlige Trennung zwischen [225] Juden und Nichtjuden. Es gehen Gerüchte um – und Derartiges hat auch in ausländischen Zeitungen gestanden – daß ein Zeichen an der Kleidung beabsichtigt sei. Unmöglich ist nichts in diesem Lande, das wissen wir. Aber sei dem, wie ihm wolle – was soll aus unsern Bibelkreisen werden? Was aus unsern Gottesdiensten? Was gedenkt die Kirche zu tun angesichts dieser drohenden Zerreißung der Gemeinden? Wenn die „Gesetze“ da sind, ist es zu spät. Hierfür müssen die Gemeinden zugerüstet werden. Und weiter: Wir haben die Vernichtung des Eigentums erlebt, zu diesem Zweck hatte man im Sommer die Geschäfte bezeichnet. Geht man dazu über, die Menschen zu bezeichnen – so liegt ein Schluß nah, den ich nicht weiter präzisieren möchte. Und niemand wird behaupten wollen, daß diese Befehle nicht ebenso prompt, ebenso gewissenlos und stur, ebenso böse und sadistisch ausgeführt würden wie die jetzigen. Ich habe schon diesmal von grauenhaften blutigen Exzessen gehört. Die Presse der ganzen Welt ist voll von dieser Katastrophe, und hier hat man den Eindruck, daß sie schon jetzt, wo die zahllosen Verhaftungen noch andauern, bei den Menschen wieder vergessen wird – auch in kirchlichen Kreisen. Darf die Kirche das zulassen?
Ich bin überzeugt, daß – sollte es dahin kommen – mit dem letzten Juden auch das Christentum aus Deutschland verschwindet. Das kann ich nicht beweisen, aber ich glaube es.
Ich habe das alles an Sie geschrieben, weil ich weiß, daß Sie ein offenes Ohr dafür haben. Sollten Sie meinen, daß es Sinn hätte, sich noch an jemand anders zu wenden, dann teilen Sie es mir, bitte, mit. Ich persönlich glaube nicht sehr daran.
Aber ich habe noch eine Bitte. Würden Sie mir einen Abzug Ihrer Bußtagspredigt in beiliegenden Umschlag stecken und schicken? Dafür wäre ich Ihnen sehr dankbar.
Ich lege Ihnen eine Abschrift bei, die Sie wahrscheinlich kennen werden. Sonst interessiert sie Sie vielleicht.
Mit den besten Grüßen
Ihre
E. Schmitz.
[folgt handschriftlicher Zusatz:]
Ich habe eben gehört, daß in Königsberg die 200 Kinder eines jüdischen Kinderheimes in Nachthemden auf die Straße getrieben wurden, u. daß in Breslau u. [226] Königsberg z. B. die Juden ihre Toten nicht begraben konnten, weil alle Männer verhaftet waren. In München u. Regensburg hat man sie mit Kot beschmiert, z. T. blutig geschlagen, durch die Stadt geführt. Auf dem Lande sind viele Geschäfte abgebrannt worden, dabei ist es vorgekommen, daß man die Menschen am Verlassen gehindert u. mitverbrannt hat. Die Zahl der Verhafteten schätzt man in Kreisen der jüd. Gemeinde auf 50–80 000.
Quelle: Manfred Gailus (Hrsg.), Elisabeth Schmitz und ihre Denkschrift gegen die Judenverfolgung. Konturen einer vergessenen Biografie (1893-1977), Berlin: Wichern 2008, S. 223-226.
[1] Quelle: Evangelisches Zentralarchiv in Berlin, Signatur 686/8426; alle Hervorhebungen im Original. Die Anmerkungen stammen von Manfred Gailus.
[2] Am 16.11.1938 hielt Helmut Gollwitzer eine engagierte Bußtagspredigt im überfüllten Gemeindesaal der Dahlemer Gemeinde, die auf die knapp eine Woche zurückliegenden Pogromereignisse Bezug nahm.
[3] Gemeint ist die nichtarische Ärztin Dr. Martha Kassel.
[4] Wilhelm Niesel (1903-1988), reformierter Theologe, 1935 bis 1940 Dozent an der Kirchlichen Hochschule der BK in Berlin; führendes BK-Mitglied in der evangelischen Kirche der altpreußischen Union.
[5] Adolf Kurtz (1891-1975), evangelischer Theologe, seit 1922 Pfarrer an der Zwölf Apostel-Gemeinde in Berlin, 1933/34 Pfarrernotbund bzw. BK, engagierter Einsatz für evangelische Nichtarier, 1948 Übersiedlung nach Oxford.
[6] Carl Gunther Schweitzer (1889-1965), evangelischer Theologe; 1921-1932 Direktor des Centralausschusses für die Innere Mission, Gründer und erster Leiter der Apologetischen Centrale in Berlin; 1932-1937 Superintendent des Kirchenkreises Potsdam II, führendes Mitglied der Brandenburger BK; 1937 zwangsweise Ruhestandsversetzung wegen nichtarischer Abstammung, 1939 Emigration nach England.
[7] Bruno Benfey (1891-1962), evangelischer Theologe und Pfarrer; 1915-1936 diverse Pfarrstellen in den Kirchenregionen Westfalen und Hannover, zuletzt BK-Pfarrer in Göttingen; als „Nichtarier“ 1937 Versetzung in den einstweiligen Ruhestand, November 1938 Verhaftung und KZ Buchenwald; Emigration 1939 in die Niederlande; 1946 Rückkehr in das Pfarramt nach Göttingen.
[8] Friedrich Smend (1893-1980), Theologe, Bibliothekar, Dozent (Kirchenmusik), Musikwissenschaftler; 1923-1945 Preußische Staatsbibliothek Berlin, BK-Mitglied; 1949-1959 Prof, und zeitweilig Rektor an der Kirchlichen Hochschule Berlin.
[9] Heinrich Grüber (1891-1975), Theologe, Pfarrer, Propst; 1934-1945 Pfarrer Berlin-Kaulsdorf, Mitglied der BK, 1938-1940 Leiter der Hilfsstelle für nichtarische Christen („Büro Grüber“) in Berlin, 1940-1943 KZ-Haft Sachsenhausen und Dachau; 1949-1958 Bevollmächtigter des Rates der EKD bei der Regierung der DDR.