Paul Tillichs Kriegspredigt über Matthäus 5,14 (1917): „‚Ihr seid das Licht der Welt!‘ Lieben Kameraden! Es treibt mich, dies Wort zuerst und vor allem euch zuzurufen, die auf vorderster Wacht steht gegen Not und Tod. Was ihr tut, was ihr leidet, was ihr kämpft, was ihr siegt (was ihr auch in dem letzten Kampfe wieder an Heldenmut gezeigt habt), das leuchtet heller als die Großtaten eurer Väter, als die Heldentaten irgendeines Geschlechtes vor euch.“

Predigt über Matthäus 5,14: „Ihr seid das Licht der Welt!“ (1917)

Von Paul Tillich

Was Paul Tillich in seinen Autobiographical Reflections von 1952 über seine Tätigkeit als Feldprediger im 1. WK geschrieben hat, passt offensichtlich nicht zu seiner Predigt von 1917: «The first weeks had not passed before one’s original enthusiasm disappeared; after a few months I became convinced that the war would last indefinitely and ruin all Europe. Above all, I saw that the unity of the first weeks was an illusion and that the nation was split in classes, and that the industrial masses considered the church as an unquestioned ally of the ruling groups. This situation became more and more manifest toward the end of the war. It produced the revolution, in which imperial Germany collapsed.» Ebenso seine Worte aus dem TIME Magazine-Gespräch To be or not to be. Paul Tillich von 1959: «Having married the girl he was going out with (the hasty marriage later ended in divorce), young Tillich marched off to the front as a chaplain. What he saw, he says, „absolutely transformed me.“ First there was the impact of the „lower classes,“ with whom he was dealing for the first time; he began to think about their exploitation at the hands of the powers he had taken for granted—the landed aristocracy, the army and the church. „But the real transformation happened at the Battle of Champagne in 1915. A night attack came, and all night long I moved among the wounded and dying as they were brought in—many of them my close friends. All that horrible, long night I walked along the rows of dying men, and much of my German classical philosophy broke down that night—the belief that man could master cognitively the essence of his being, the belief in the identity of essence and existence … »

Lieben Kameraden! Das verlesene Wort steht in der Bergpredigt Jesus hat sich auf einem Hügel niedergelassen, neben ihm stehen die Jünger, der erste Kreis, ringsherum lagert das Volk, das ihn hören will, der weitere Kreis, und unter ihm dehnt sich die Ebene von Nazareth, im Osten der See, im Westen in weiter Ferne das Meer, an dessen Ufern das römische Reich lag, die damalige Welt der dritte und größte Kreis.

„Ihr seid das Licht der Welt!“ Das gilt den Jüngern, die alles ver­lassen haben, ihm zu folgen, das gilt dem Volk, das mit bewegtem Herzen seinen Worten lauscht, das gilt der Menschheit in der Tausende in jedem Volk und Lande sich sehnen nach Licht und Wahrheit, Und so verschieden die, an die es gerichtet ist, so mannigfach ist sein Klang: „Ihr seid das Licht der Welt!“ Ein Wort, das höchste Würde und Ehre gibt dem, dem es gesagt ist ein Wort, das wie kein anderes antreibt und mahnt das zu werden, was darin gesagt ist, und endlich ein Wort, das uns mit tiefem Ernst immer wieder fragt: Bist du auch noch, was von dir gesagt ist? Oder gleichst du einem toten, erloschenen Lichte?

Auch unter uns, die wir hier versammelt sind, sind solche, die seinen Jüngern gleichen und ihm zugehören, und solche, die dem Volke glei­chen, das ihm lauscht und solche, die der Menschheit gleichen mit Sehnsucht nach Licht und Wahrheit. Uns allen sei das Wort gesagt: Ihr seid das Licht der Welt! Und uns allen klinge es als das Wort der höch­sten Ehre und das Wort des stärksten Ansporns und das Wort des tiefsten Ernstes.

I. „Ihr seid das Licht der Welt!“ Lieben Kameraden! Es treibt mich, dies Wort zuerst und vor allem euch zuzurufen, die <ihr> auf vorderster Wacht steht gegen Not und Tod. Was ihr tut, was ihr leidet, was ihr kämpft, was ihr siegt (was ihr auch in dem letzten Kampfe wieder an Heldenmut gezeigt habt), das leuchtet heller als die Großtaten eurer Väter, als die Heldentaten irgendeines Geschlechtes vor euch. Das Licht, das hervorbricht aus den zerschossenen, verschlammten Gräben, aus dem schmutzbedeckten feldgrauen Rock, aus den bleichen, müden Gesichtern, dies Licht eines Leidens und Kämpfens ohne gleichen und das Licht, das auch aus des Grabes Dunkelheit hervorbricht, das unsichtbar strahlt von jedem der schlichten Holzkreuze auf den Gräbern unserer Kameraden, dies Licht wird leuchten durch die Jahrtausende. Es wird eure Kinder und Enkel erfüllen, daß ihre Augen leuchten in heiliger Begeisterung, es wird auch nicht Halt machen an Deutschlands Grenzen. Wenn die Mauern gefallen sind, die Haß und Lüge um uns gebaut haben, dann wird es hinleuchten durch alle Lande. Der Menschheit Größe, des Menschen Würde und innere Hoheit, ihr habt sie aufrecht erhalten für alle Zeiten. Das haben Menschen getan, das haben Menschen gekonnt, so wird es heißen. Ihr seid das Licht der Welt!

Und nun laßt mich euch bitten: Bleibt, was ihr seid! Sorgt dafür, daß euer Licht nicht erlöschen möge! Sind nicht immer einzelne unter uns, die erloschenen Lichtem gleichen, die sich herausstehlen aus euren Reihen zu ihrer selbst Schmach und Unehre? Gibt es nicht auch bei euch Stunden und Tage, wo das Licht eurer Kraft und eures Heldentums matter leuchtet, als ob es erlöschen wollte, wo ihr müde werdet und mürrisch und verbittert und euer eigen Licht nicht mehr sehet? Liebe Kameraden! Um eurer selbst, um eurer Kinder und eures Vaterlandes, um der Menschheit und Gottes willen, bleibt, was ihr seid! Denn ihr seid das Licht der Welt!

II. Ihr seid das Licht der Welt! Das gilt in besonderem Sinne für die Heimat, eure Frauen und Kinder, eure Freunde und Geschwister! Wer immer in der Heimat war in dieser Zeit, der hat das Gefühl, daß dort manches dunkler ist als hier draußen. Es fehlen die großen Dinge, es fehlt das Stehen zwischen Leben und Tod, und nun werden die kleinen Dinge mächtig: Unzufriedenheit, Gewinnsucht, Klagen, Zanken, Zuchtlo­sigkeit, Unzucht und manches, was ihr hier draußen kaum verstehen könnt. Ihr seid das Licht für eure Heimat eure Familien, eure Kinder! Jeder Brief von euch kann und soll ein Lichtstrahl sein für die Euren. Es soll etwas überströmen auf die Heimat von dem Gehorsam, mit dem ihr die schwersten Entbehrungen ertragt, daß auch sie ohne Murren das so viel Leichtere ertragen. Es soll etwas überströmen auf die Frauen in der Heimat von dem Geist der Treue, mit dem ihr euer Vaterland schützt mit euren Leibern, daß sie ihre Liebe heilig halten und rein. Es soll etwas überströmen von dem Geist der Zucht der euch zu allem Großen befä­higt, auf eure Kinder, daß sie nicht verderben an Leib und Seele. Und es soll das Licht eurer Taten mit glühenden Strahlen hineinbrennen in das Gewissen derer, die diese Zeit ausnutzen, um sich zu beglücken durch das Unglück der anderen! Das alles vergeßt nie, lieben Kameraden! Bei jedem Brief nach Hause, bei jedem Urlaub denkt daran, wessen euer Vaterland und euer Gott euch gewürdigt hat das Licht zu sein eures Volkes! Denn ihr seid das Licht der Welt!

III. Ihr seid das Licht der Welt, sagt Jesus zu seinen Jüngern. Gilt es auch in diesem Sinne für uns, für viele, für einige unter uns? Jesu Schü­ler sein, das heißt Gott zum Freund und Vater haben, wie Jesus ihn hatte, die Menschen zu Brüdern haben, wie Jesus sie hatte, im Ewigen leben, wie Jesus im Ewigen lebte. Sind wir in diesem Sinne Licht der Welt?

Lieben Kameraden! Unsere evangelische Kirche feiert in diesem Jahre das vierhundertjährige Fest ihrer Geburt. Vierhundert Jahre hat das Licht gestrahlt das zuerst in Luthers 95 Sätzen an der Schloßkirche zu Witten­berg wie Wetterleuchten an der Menschheit Horizont erschien! Das Beste und Größte, was die Menschheit in diesen 400 Jahren geschaffen hat, ist auf dem Boden des Geistes und der Freiheit gewachsen, der damals gelegt wurde. Die evangelische Kirche, sie ist das neue Licht der ganzen Welt geworden. Woher nahm aber sie ihr Licht? Nebst Gott von den Männern, die treu zu ihr hielten, die mit an ihr arbeiteten, die ihre Kinder erzogen in Geist und Kraft der Väter. Und so rufe ich euch zu: Ihr seid das Licht der Welt, denn ihr seid unserer Kirche Licht und Zukunft! |

Lieben Freunde! Meint nicht, daß die Kirche eine Angelegenheit der Pfarrer sei! Wir sind nur Diener, aber die, die uns den Auftrag geben zu unserm Dienst das seid ihr! Unsere Kirche ist in Gefahr Kampf im Innern und ein heißes Suchen und Drängen, Kampf nach außen und der Abfall Tausender in allen Schichten des Volkes! Auf euch sehen wir, die ihr in diesen Jahren gelernt habt, daß die Eide unsere Heimat nicht sein kann, die ihr all ihre Herrlichkeit in Tod und Trümmern habt untergehen sehen. Und ob auch viel Fragen und Zweifeln und Verzweifeln durch unsere Reihen geht in unzähligen Herzen ist etwas Neues gewachsen. Auf einsamem Posten in des Feindes Nähe, im wilden Feuer oder in mühsamer Arbeit im gemeinsamen Unterstand oder Quartier, am Grabe eines Kameraden oder beim schlichten Feldgottesdienst hat er dich gepackt der Ewige, den du so lange vergessen hattest, ein Wort von ihm traf deine Seele, und es wurde hell in dir. Du sprichst nicht davon, du verbirgst es vor deinen Kameraden, und doch ist es da, ein neues Ver­stehen, ein neues Haben Gottes.

Ihr seid das Licht der Welt, die ihr solches erlebt habt! Ihr müßt unserer Kirche neues Leben bringen, ihr müßt ihr helfen, stärker und reifer zu werden. Auf dies Geschlecht das aus dem Schützengraben kommt blickt unsere Kirche. Laßt sie nicht enttäuscht werden! Laßt das Licht nicht verlöschen, das in euch angezündet ist in dieser Zeit! Pflegt es als das Beste, das ihr habt das euch kein Feind, kein Tod und kein Hunger rauben kann! Laßt die Flamme, die in euch zu dem ewigen Gott emporlodert, stärker und stärker weiden! Laßt sie ein Feuer werden, das weithin leuchtet durch unsere Kirche, durch unser Volk, durch alle Welt! Auf euch blickt die Gegenwart, auf euch wartet die Zukunft, auf euch sieht Gott vom Thron der Ewigkeiten. Ihr seid das Licht der Welt! Amen.

Gehalten 1917 als preußischer Feldprediger im 1. Weltkrieg an der Westfront.

Quelle: Paul Tillich, Frühe Predigten (1909-1918), Berlin-New York, De Gruyter, 1994, S. 587-590.

Hier die Predigt als pdf.

Zu Tillichs Feldpredigten siehe Sandra Windolph, „Ja, deutscher Kriegsmann im fremden Land: Über dir erscheint heut die Herrlichkeit des Herrn!“. Die Feldpredigten von Paul Tillich 1914-1918.