Wahrheit und Wahrhaftigkeit im Glauben an Gott
Von Heinrich Vogel
Lassen Sie mich bei unserm Fragen nach dem Verhältnis von Wahrheit und Wahrhaftigkeit im Glauben an Gott damit einsetzen, daß ich den unter uns fast zum Schlagwort gewordenen Ruf nach der „intellektuellen Redlichkeit“ aus dem Munde zweier Denker zu Gehör bringe, die ihn unter radikal entgegengesetztem Vorzeichen ihrem Jahrhundert schuldig zu sein glaubten: ich meine Friedrich Nietzsche und Sören Kierkegaard. Hören wir zunächst die Stimme Nietzsches, und zwar aus „Jenseits von Gut und Böse“, wo wir im 7. Hauptstück unter dem Titel „Unsere Tugenden“ folgendes lesen:
„Redlichkeit — gesetzt, daß dies unsere Tugend ist, von der wir nicht loskommen, wir freien Geister —, nun, wir wollen mit aller Bosheit und Liebe an ihr arbeiten und nicht müde werden, uns in unserer Tugend, die allein uns übrig blieb, zu vervollkommnen; mag ihr Glanz einmal wie ein vergoldetes, blaues, spöttisches Abendlicht über dieser alternden Kultur und ihrem dumpfen, düstern Ernst liegen bleiben! Und wenn dennoch unsere Redlichkeit eines Tages müde wird und seufzt und die Glieder streckt, und uns zu hart findet, und es besser, leichter, zärtlicher haben möchte gleich einem angenehmen Laster, bleiben wir hart, wir letzten Stoiker! und schicken wir ihr zur Hilfe, was wir nur an Teufelei in uns haben, — unsern Ekel am Plumpen und Ungefährden, unser ‚nitimur in vetitum‘, unseren — Abenteuermut — unsere gewitzte und verwöhnte Neugierde, unsern feinsten, verkapptesten, geistigsten Willen zur Macht und Welt-Überwindung der begehrlich um alle Reiche der Zukunft schweift und schwärmt — kommen wir unserm ,Gotte‘ mit allen unseren ,Teufeln‘ zur Hilfe! Es ist wahrscheinlich, daß man uns darob verkennt und verwechselt: was liegt daran! Man wird sagen: ‚ihre Redlichkeit — das ist ihre Teufelei, und gar nichts mehr!‘ Was liegt daran! Und selbst, wenn man recht hätte! Waren nicht alle Götter bisher dergleichen heilig gewordene umgetaufte Teufel?! Und was wissen wir zuletzt von uns! und wie der Geist heißen will, der uns führt (es ist eine Sache der Namen)? Und wie viele Geister wir bergen? Unsre Redlichkeit, wir freien Geister, sorgen wir dafür, daß sie nicht unsere Eitelkeit, unser Putz und Prunk, unsre Grenze, unsre Dummheit werde!“
Es ist klar, daß dieses Bekenntnis zur „Redlichkeit“ im Zeichen jenes von dem verrückten Menschen auf dem Marktplatz der Stadt hinaus geschrienen Satzes steht: „Gott ist tot!“ — der von uns getötete Gott, — so aber, daß Heidegger vielleicht doch recht hat, wenn er ihn als einen einzigen Schrei nach dem lebendigen Gott ins Gehör bekommt.
Hören wir dem gegenüber den leidenschaftlichen Ruf zur Redlichkeit, wie er von Sören Kierkegaard, und zwar grade coram Deo, coram Crucifixo laut wurde. Ich zitiere aus dem Zeitungsartikel, den Kierkegaard am 31. 3. 1855, also in jenem letzten Stadium seines offenen, rasanten Kampfes gegen die Staats- und Massenkirche in der Kopenhagener Zeitung „Das Vaterland“ veröffentlichte. Unter der Überschrift „Was ich will“ … antwortet er:
„Ganz einfach: ich will Redlichkeit … Ich will, daß man die Abmilderung, die das gewöhnliche Christentum hier zu Lande ist, neben das Neue Testament halte, um zu erfahren, wie diese beiden sich zueinander verhalten … Eines muß gefordert werden, daß wir durch ein genaues Wissen um die Forderung eine wahre Vorstellung davon haben, wie unendlich groß die Gnade sei, die uns erzeigt wird … Eines darf niemals geschehen: sie darf niemals gebraucht werden, um die Forderung zu verschweigen oder zu verkleinern; in dem Falle kehrte ‚die Gnade‘ das ganze Christentum um … Laßt mich das Äußerste wagen, um mit dem, was ich will, verstanden zu werden. Ich will Redlichkeit. Ist nun das, was das Geschlecht oder die Mitwelt will, folgendes: will sie sich ehrlich, redlich, vorbehaltlos, offen, geradezu gegen das Christentum empören, zu Gott sagen: ,Wir können, wir wollen uns nicht unter diese Macht beugen‘ — aber, wohlgemerkt, tut man das ehrlich, redlich, vorbehaltlos, offen, geradezu: nun gut, wie merkwürdig es scheinen mag, ich bin dabei; denn Redlichkeit will ich. Und überall, wo Redlichkeit ist, kann ich mitgehen; eine redliche Empörung gegen das Christentum kann nur dann gemacht werden, wenn man redlich bekennt, was das Christentum ist, und wie man sich selbst dazu verhält.“
Ja, selbst noch im Blick auf die von ihm so verabscheuten Abmilderungen des Christentums in seiner Geschichte will er dabei sein, wenn wenigstens das „Eingeständnis“ gemacht wird, daß unsere Art von Christentum nicht das des Neuen Testaments ist.
„Für diese Redlichkeit will ich wagen. Hingegen sage ich nicht: daß ich für das Christentum wage. Nimm denn an, nimm an, daß ich ganz buchstäblich ein Opfer würde: ich würde doch kein Opfer für das Christentum, sondern weil ich Redlichkeit wollte. Aber während ich nicht sagen darf, daß ich für das Christentum wage, bin ich doch völlig und selig dessen gewiß, daß dies mein Wagen Gott wohlgefällig ist, seine Zustimmung hat. Ja, das weiß ich. Es hat seine Zustimmung, daß in einer Welt von Christen, wo Millionen und Abermillionen sich Christen nennen, daß das ein Mensch ausdrückt: ich darf mich nicht einen Christen nennen; aber Redlichkeit will ich. Und zu dem Ende will ich wagen.“
So viel zum rechten Verständnis dieser beiden eben gehörten leidenschaftlichen Forderungen nach Redlichkeit zu sagen wäre, mögen sie uns hier nur als Anstoß dienen für unser Fragen nach der Wahrheit Gottes und der menschlichen Wahrhaftigkeit in dem Satz: „Ich glaube an Gott.“
Aber von welchem Gott reden wir? Es muß zum vornherein klar sein — und gerade das dürfte zur Redlichkeit des theologischen Denkens gehören —, daß wir nicht von Irgendeinem, sei es personal, unpersönlich oder überpersönlich gedacht — reden, das vom religiösen oder denn auch antireligiösen und a-religiösen Menschen als G-o-t-t etikettiert wird. Wir reden nicht von irgend einem Gottesbild oder Gottesbegriff, weder von einer Gottes-Idee noch von einem moralischen Gottes-Postulat, nicht von dem Gott oder den Göttern der Religionsgeschichte, nicht von dem Gott der Metaphysik und auch nicht von „dem Göttlichen“ der Mystik. Wir reden nicht voraussetzungslos und rechnen es zur Redlichkeit des Denkens, den Wahn der Voraussetzungslosigkeit gerade in der Frage nach der Wahrheit Gottes und der menschlichen Wahrhaftigkeit zu durchschauen und zu verneinen. Wir reden von dem Gott, der seine Wahrheit manifestierte und offenbarte, indem ER, der allein Wahrhaftige und Treue, sich selbst in Jesus Christus an den Fluch der unwahrhaftigen menschlichen Wahrhaftigkeit stellvertretend preisgab. Wenn wir hören, daß der Sohn Gottes sich an das Fluchholz des Kreuzes schlagen ließ, dann ist die Pointe der Rebellion, die in der Kreuzigung kulminiert, je der Aufstand des religiösen Menschen gegen Gott. Der in seinem religiösen Selbstverständnis wahrhaftige Mensch ist es, der um der Wahrheit Gottes willen, unter der Berufung auf die ihn bezeugende Heilige Schrift wähnt, Gott diese Kreuzigung schuldig zu sein. Wer davon auch nur eine Silbe versteht, kann sich nicht historice sichern, indem er nur auf eine vergangene Gestalt des homo religiosus in einer vergangenen Situation blickt. Er kann auch nicht echappieren, indem er nur einen Menschen oder nur einen „Gott der Metaphysik“ an jenes Kreuz geschlagen sein läßt, und dann etwa mit Hegel über einen spekulativen Charfreitag philosophiert. Wenn, — verstehen Sie, meine Zuhörer und Zuhörerinnen! —, wenn diese ihrem Vorzeichen und ihrem Wesen nach mit keiner anderen vergleichbare Geschichte das Zentrum der Geschichte der Wahrheit Gottes in der Begegnung mit der menschlichen Wahrhaftigkeit ist, dann gilt es, im Zeichen dieser Geschichte nach dem Verhältnis von Wahrheit und Wahrhaftigkeit zu fragen.
Das will aber sofort noch schärfer in der Abweisung eines nur allzu naheliegenden Mißverständnisses in bezug auf den Sieg der Wahrheit Gottes bedacht sein. Es geht ja um den in seiner Göttlichkeit einzigartigen Sieg Gottes zu Gunsten der Wahrheits-Rebellen! Die Auferweckung dieses, gerade dieses Gekreuzigten ist ja das Ja Gottes zu den Wahrheitsfeinden, an deren Stelle sich Gott selbst in dem Menschen preisgab, den die Schrift als den „Sohn Gottes“ bezeugt, den einen wahrhaftigen Zeugen, durch den und in dem die Wahrheit Gottes rettend zum Siege kommt. Er ist ja nicht nur der Zeuge für die Wahrheit Gottes unter uns, sondern selbst die Wahrheit Gottes für uns. — Wie gestalten sich die Verhältnisse in der Relation von Wahrheit und Wahrhaftigkeit, wenn das die Wahrheit, vielmehr, wenn er selber, Jesus Christus, die Wahrheit Gottes für uns ist? Wird das nicht besagen, daß die Wahrheit selbst allein die Macht hat, uns von ihrem Wahr-Sein zu überführen? Wird es nicht ein Akt ihrer Selbstoffenbarung sein, wenn der Mensch, in seiner Unwahrheit aufgedeckt und gerichtet, in der durch Gnade befreiten, geschenkten Wahrhaftigkeit die Wahrheit des Gottes bekennt, der den Gottlosen rechtfertigt und den Lügner wahrhaftig macht?
Aber lassen Sie uns hier gerade Schritt um Schritt bedenken, was zu bedenken, ja, was, recht verstanden, zu bedanken ist!
Wenn wir nämlich fragen: „Von welcher Wahrheit reden wir?“ dann muß eins — unter der Voraussetzung, versteht sich, der Wahrheit des bereits Bedachten — klar sein. In Jesus Christus begegnet uns die Wahrheit, bei der die ewige Priorität ist vor unserer Wahrhaftigkeit, und denn vor aller unserer Erkenntnis der Wahrheit Gottes. Dann ist die Reihenfolge Wahrheit — Wahrhaftigkeit unumkehrbar! Sie ist dann auch nicht im Sinne eines Zusammenwirkens zwischen beiden zu verstehen oder so, daß die göttliche Wahrheit bei der menschlichen Wahrhaftigkeit anknüpfte und ihrer wohl gar als einer Voraussetzung benötigte, um überhaupt selber zum Zuge kommen zu können. Nein, die Wahrheit ist und bleibt eine Ewigkeit früher auf dem Plan als die von ihr geschaffene, geschenkte, gerichtete, gerettete, befreite und gebundene Wahrhaftigkeit.
In unlöslicher Einheit damit gilt es anzuerkennen, daß die Wahrheit, wie sie selber allein wahrhaftig ist, allein wahrhaftig macht. Die Geschichte der Wahrheit Gottes unter uns und für uns ist ja die Geschichte des „wahrhaftigen“ Gottes, der, indem er als der Bundesgott zu seinen Verheißungen steht, seine Treue in der Überlegenheit seines Erbarmens durchhält, und zwar gegen die pervertierte Wahrhaftigkeit des Menschen, der gerade in seinem innersten Selbst sich selbst als wahrhaftig verstand. Wir haben die tradierten Sätze im Ohr von dem Gott, der allein gerecht ist und gerecht macht. Wir mögen uns auch erinnern an den leidenschaftlichen Kampf der Reformatoren gegen die Behauptung eines besten Stücks im Menschen, das dann die Voraussetzung bildete für jenes „facere, quod in se est“. Ist uns aber auch klar, daß es in der Frage nach dem Verhältnis von göttlicher Wahrheit und menschlicher Wahrhaftigkeit — im Gegensatz zum gesamten deutschen Idealismus, und nicht nur zu ihm — jenem Selbstverständnis zu widerstehen gilt, das die Wahrhaftigkeit des menschlichen Selbst auf Grund seiner mystischen Verwandtschaft mit dem Göttlichen nun doch als „das beste Stück“ interpretiert?! Ist uns klar, daß wir damit, wir mögen uns drehen und wenden, wie wir wollen — zuletzt unsere Wahrhaftigkeit zur Norm und zum Kriterium über die Wahrheit Gottes machen?! Wenn das aber gelten sollte, dann würde die Schrift lügen, die sagt: alle Menschen sind Lügner! (Römer 3,4). Aber was noch schwerer wiegt: wenn wir zutiefst und zuletzt in unserm Gottesverhältnis doch, ein jeder auf die Wahrhaftigkeit je meiner selbst zurückgeworfen würden, dann blieben wir in dem endlich-unendlichen Gefängnis dieses unseres Selbst gefangen, und dann mögen sich Religiosismus und Nihilismus plötzlich der Eine in dem Andern anblicken und finden.
Es braucht kaum noch ausdrücklich unterstrichen zu werden, daß die Wahrheit Gottes in ihrer ewigen Priorität und Überlegenheit jeder Verobjektivierung im Sinne einer uns verfügbaren supranatural-wißbaren Wahrheit ebenso widersteht wie ihrer Versubjektivierung, die in der subjektiven Existenz als solcher die Wahrheit postuliert. Wer die göttliche Subjektivität der Wahrheit anerkennt, kann die eigene Subjektivität nur noch als die eines subjectus veritati verstehen, d. h. als die Subjektivität des Existierenden, der seine Existenz seinem Schöpfer, Richter und Retter verdankt.
Noch steht aber die eigentliche Zuspitzung unseres Gedankenganges aus, der ja unter der Frage nach dem Verhältnis von Wahrheit und Wahrhaftigkeit im Glauben an Gott steht. Im gewissen Sinne freilich war der Glaube schon zur Stelle, und zwar eben in der von der Wahrheit selbst her ermöglichten und geschenkten Wahrhaftigkeit des im Gericht von Gott begnadigten Menschen. Im Glauben wird ja der Mensch für die Wahrheit Gottes geöffnet und befreit, die ihm in Jesus Christus begegnet. Dabei steht die Entscheidung, in deren Krisis der Mensch durch die ihm so begegnende Wahrheit gerufen wird, im Zeichen eines Kampfes auf Tod und Leben. Wenn nämlich, wie wir bedachten, gerade der selbst-wahrhaftige Mensch sich gegenüber der Wahrheit bis zur offenen Rebellion zu behaupten sucht, dann wird es zum Jabbokskampf der Wahrhaftigkeit mit dem Glauben kommen, so, daß die besiegte Wahrhaftigkeit zum Lobpreis der siegenden Wahrheit befreit wird. Ja, indem der Unbekannte an der Furt des Jabbok sich von Jakob besiegen läßt, besiegt er und segnet er ihn.
Der unsägliche Widerspruch, der die Existenz des Menschen in der Begegnung mit der Wahrheit aufbrechen läßt, ist aber nicht einfach unser Widerspruch gegen die Wahrheit, sondern der Widerspruch der Wahrheit gegen ihren Widersprecher. In der Kraft ihres majestätischen Widerspruchs begegnet die Wahrheit aber darin, daß sie von ihrer rettenden Gnade überführt, indem sie den Menschen unter ihre absolute Forderung beugt. Wir meinen das Geheimnis der Dialektik von Gesetz und Evangelium! Das, was man das Geheimnis im Geheimnis nennen könnte, fällt den Menschen so an, daß er die absolute, keinen Kompromiß leidende Forderung der Wahrheit Gottes bejahen muß. Gleichzeitig kann er sich von der Erfüllung dieser Forderung nur unwahrhaftigerweise, in Wahrheit also nicht dispensieren. Das Wort der Wahrheit begegnet ihm aber in Jesus Christus mit der Zumutung, sich durch Gott von der Erfüllung schon dispensiert sein zu lassen, sofern nämlich, als die Forderung von Jesus Christus schon erfüllt, der Fluch ihrer Nichterfüllung schon stellvertretend getragen ist! So wird der Mensch durch die fordernde und richtende Wahrheit der schenkenden und rettenden Wahrheit zugetrieben. In diesem Zugetriebenwerden ereignet sich durch den Heiligen Geist als den Sprecher des Wortes der Wahrheit der Glaube. So ist also der Glaube die Wahrhaftigkeit des von Gott zu Gott flüchtenden Menschen, die einzig wahrhaftige, je von neuem durch Gott selbst ermöglichte Zuflucht des Menschen, der sich auf nichts und niemand anders mehr fallen läßt als auf das ihm so zugesprochene Wort, schärfer gesagt: in die Arme des Sprechers, die ihn im Wort ergreifen. Hier erst und hier allein wird die vordem verschleierte, sich vor Gott im Gebüsch ihres Selbstverständnisses versteckende Wahrhaftigkeit befreit zur Doxologie der Wahrheit, zur verherrlichenden Rühmung dessen, der die Wahrheit ist. Hier wird sie durchsichtig, nicht etwa in einem Spiegel ihrer selbst, sondern in dem Licht der Wahrheit, deren Auge den Menschen durchschaut, ohne ihn schlechterdings zu vernichten. So verstanden ist der Glaube selbst die Wahrhaftigkeit des Menschen vor Gott, er allein seine Redlichkeit. Das kann aber nur dann in seiner Wahrheit verstanden werden, wenn erkannt wird, daß vor Gott kein Redlicher existiert, der nicht in seiner Unredlichkeit vor Gott offenbar wurde.
Wiederum braucht es kaum ausdrücklich gesagt zu werden, daß die gerade von Theologen rationalistisch oder auch mystisch vorgenommene Identifikation des Geistes unserer intellektuellen Redlichkeit mit dem Heiligen Geist nicht nur das Gericht sondern auch die Gnade in der Begegnung zwischen der Wahrheit Gottes und der Wahrhaftigkeit des Menschen verfehlt und verfälscht.
Wer der eigentlichen Intention des Gedankenganges gefolgt ist, wird verstanden haben, daß alles auf die Überlegenheit der Gnade hinausläuft, die den Menschen zur Redlichkeit vor Gott befreit. Er wird ja nicht von der Wahrhaftigkeit gegenüber der ihn total und absolut beanspruchenden Wahrheit Gottes, sondern für sie befreit, zu jenem hörenden Gehorsam, der mit der Freude an der Wahrheit, durch die Wahrheit und in der Wahrheit des Wortes Gottes in eins geht. Von da her fällt denn das Licht einer überlegenen Verheißung auf das Verhältnis des nach Wahrheit fragenden Menschen zu allen Wahrheiten, deren Erkenntnis er in der Befragung geschöpflicher Wirklichkeit erstrebt. Gewiß ist er im Verhältnis zu den zeitlichen Wahrheiten immerfort von der Versuchung bedroht, sie, und letztlich sich selbst in seiner Wahrhaftigkeit zu verabsolutieren. Es wäre aber ein verhängnisvolles Mißverständnis, wenn wir das im Zeichen von Gericht und Gnade, von der Wahrhaftigkeit des Menschen vor Gott Gehörte dazu mißbrauchen wollten, uns selbst von der Wahrhaftigkeit gegenüber irgendeiner Wahrheit, sofern und soweit sie uns erkennbar wurde, zu dispensieren. Wenn gerade das in der Theologie immer wieder geschah, so wird doch gerade vor der Wahrheit Gottes der Versuch des Menschen, der meint, für Gott lügen zu dürfen, im Feuer der Wahrheit vergehen. Der Grat, auf den die Wahrhaftigkeit gewiesen ist, läuft hier zwischen zwei Abgründen: auf der einen Seite der Verabsolutierung unserer Wahrhaftigkeit, auf der andern Seite der Verleugnung jenes Lichtes der Verheißung, das unsere Wahrhaftigkeit gegenüber jeder sich uns zu erkennen gebenden Wahrheit ermöglicht und fordert.
In dem Satz „Ich glaube an Gott“ geht es nicht um das Verhältnis zu einer Wahrheit unter oder denn über allen Wahrheiten, sei es schon im Sinne ihres Inbegriffs, sondern um die Wahrheit dessen, der der Schöpfer, Richter, Retter und Herr unserer Wahrhaftigkeit ist. In kraft seiner siegenden Gnade ist es möglich, legitim, allein redlich und wahrhaftig, je von neuem zu sprechen:
Ich glaube an Gott.
Wahrheit und Wahrhaftigkeit im Glauben an Gott. 32 Thesen von Heinrich Vogel
- Die Wahrheit Gottes geht der Wahrhaftigkeit des Menschen ewig zuvor; die Wahrhaftigkeit des Menschen kann der Wahrheit Gottes nur folgen.
- Der Ursprung der Wahrhaftigkeit in der Wahrheit leidet keine Umkehrung der Reihenfolge.
- Die Wahrheit Gottes ist der Schöpfer der Wahrhaftigkeit.
- Die Wahrheit Gottes ist die Krisis der Wahrhaftigkeit, indem sie als ihr Richter ihr Retter ist.
- Die Wahrheit Gottes ist die Freiheit der Gnade, die den Menschen befreit zu der Wahrhaftigkeit, in der der Mensch frei wird für die Gnade.
- Die Wahrhaftigkeit ist die Freiheit des Dankenden für die Gnade der Wahrheit.
- Durch ihre Selbstauslieferung an den Fluch der Wahrheitspervertierung befreit die Wahrheit Gottes in Christo die Wahrhaftigkeit zum Lobpreis der Wahrheit.
- Die selbstherrliche Wahrhaftigkeit ist in ihrer Pervertierung der Wahrheit die Lüge.
- Die Autonomie des Menschen gegenüber Gott ist der Wahn und das Unheil seiner Religiosität.
- Der Religiosismus und der Atheismus sind die beiden radikalen Fluchtversuche der menschlichen Wahrhaftigkeit vor der Wahrheit Gottes.
- Der Indifferentismus ist die Selbstpreisgabe der Wahrhaftigkeit in der Vermeidung jeder Begegnung mit der Wahrheit Gottes.
- Die intellektuelle Redlichkeit, die der Mensch zur letzten Norm und zum Kriterium seiner Suche nach der Wahrheit erhöht, ist zutiefst unredlich vor Gott.
- Es existiert kein Redlicher, der nicht vor Gott in seiner Unredlichkeit offenbar würde.
- Die Redlichkeit des Denkens verfällt in der Abstraktion von der Redlichkeit des Denkenden der Unredlichkeit vor Gott.
- Die Unredlichkeit der Existenz verdirbt die Redlichkeit des Intellekts.
- Der Mensch, der nicht veritati subjectus sein will, muß die Wahrheit verobjektivieren.
- Wer die Wahrhaftigkeit in ihrer Subjektivität zur Wahrheit macht, verkennt und verleugnet das Subjekt-sein der Wahrheit.
- Die Wahrhaftigkeit wird auf der ersten Tafel der Gebote Gottes zur Ehrung seiner Wahrheit gerufen.
- Die Wahrhaftigkeit verfällt aber der Heuchelei, wenn sie wähnt, die Wahrheit Gottes in den Geboten der ersten Tafel unter gleichzeitiger Verachtung seiner Gebote auf der zweiten Tafel noch ehren zu können.
- Auch in seiner Wahrhaftigkeit lebt der Mensch vor Gott kraft der Rechtfertigung des Gottlosen durch Christus, der die Wahrheit Gottes für uns ist.
- Der Glaube ist die für die Wahrheit Gottes freigewordene Redlichkeit des Menschen vor Gott.
- Nicht aber ist die menschliche Redlichkeit der Ursprung oder die Substanz des Glaubens.
- Die Identifikation des Geistes der eigenen intellektuellen Redlichkeit mit dem Heiligen Geist ist die Ursünde nicht nur aller rationalistischen, sondern auch aller, das menschliche Selbst vergöttlichenden mystischen Theologie.
- Die Wahrhaftigkeit, deren Schöpfer und Herr der Heilige Geist ist, durchbricht alle Verstellungen und Entstellungen der Wahrheit Gottes durch menschlichen Wahrheitswahn.
- Die Wahrheit Gottes läßt das redliche Denken die ihm erkennbar werdenden Wahrheit e n in ihren Grenzen respektieren.
- Die zur Anerkenntnis der ewig überlegenen Wahrheit Gottes befreite Wahrhaftigkeit wird die Wahrheit nicht dazu benutzen dürfen, das relative Wahrsein der zeitlichen Wahrheiten zu diskriminieren.
- Wer die Wahrheit Gottes nur als die oberste Wahrheit unter den Wahrheiten wertet, vergeht sich an ihrer Majestät.
- Wer die zeitlichen Wahrheiten verabsolutiert, vergötzt dieselben.
- Wer das relative Wahrsein zeitlicher Wahrheiten wider besseres Wissen und Gewissen leugnet, verleugnet das Licht der ewigen Wahrheit in der Kraft ihrer Verheißung über allen Wahrheiten.
- Damit, daß die ewige Wahrheit Gottes in Jesus Christus unserer geschichtlichen Existenz innewohnte, hat sie uns in den Jabbokskampf der Wahrhaftigkeit gestellt, über die Gottes Wahrheit siegt, indem sie sich vom Glauben besiegen läßt.
- Im Glauben an Gott, den Vater, den Sohn, den Heiligen Geist, werden wir zur Doxologie des allein wahrhaftigen und wahrhaftig machenden Gottes durch die Gott verherrlichende Wahrhaftigkeit befreit.
- Die unmittelbare Evidenz der Wahrheit für die zur letzten Durchsichtigkeit erlöste neue Kreatur ist unsere in dem kommenden Christus uns verheißene Zukunft.
Vorlesung zur Semester-Eröffnungsfeier der Kirchlichen Hochschule am 24. April 1968.
Evangelische Theologie 29, 1969, S. 236-244.