Pfingstpredigt über Genesis 11,1-9
Von Rolf Wischnath
Es hatte aber alle Welt einerlei Zunge und Sprache. Als sie nun nach Osten zogen, fanden sie eine Ebene im Lande Schinar und wohnten daselbst. Und sie sprachen untereinander: Wohlauf, lasst uns Ziegel streichen und brennen! – und nahmen Ziegel als Stein und Erdharz als Mörtel und sprachen: Wohlauf, lasst uns eine Stadt und einen Turm bauen, dessen Spitze bis an den Himmel reiche, damit wir uns einen Namen machen ; denn wir werden sonst zerstreut in alle Länder. Da fuhr der Herr hernieder, dass er sähe die Stadt und den Turm, die die Menschenkinder bauten. Und der Herr sprach: Siehe, es ist einerlei Volk und einerlei Sprache unter ihnen allen, und dies ist der Anfang ihres Tuns; nun wird ihnen nichts mehr verwehrt werden können von allem, was sie sich vorgenommen haben zu tun. Wohlauf, lasst uns herniederfahren und dort ihre Sprache verwirren, dass keiner des andern Sprache verstehe! So zerstreute sie der Herr von dort in alle Länder, dass sie aufhören muss-ten, die Stadt zu bauen. Daher heißt ihr Name Babel, weil der Herr daselbst verwirrt hat aller Länder Sprache und sie von dort zerstreut hat in alle Länder. (Genesis 11, 1-9, Lutherübersetzung 1984)
I Wohlauf!
Und dabei fing alles so gut an: „Es hatte aber alle Welt einerlei Zunge und Sprache.“ Die Menschen sprachen miteinander. Alle. Man verstand sich. Man war sich einig. Also herrschte Frieden. Und aus Selbstbewusstsein und Lebensfreude entsprang der Plan zum Bau der Stadt und des Turmes. Zeichen sollten gesetzt werden für den Willen zur Gemeinschaft und Einheit. Eine gemeinsame Aufgabe verbindet – Alte und Junge, Nahe und Ferne. Und Stadt und Turm, sichtbare Zeichen für Gemeinschaft und Verstehen, verleihen Richtung und Ziel, geben den Anstrengungen des Lebens Sinn.
Was ist Böses daran? Wie kommt es zum Baustopp, zur Verständnislosigkeit, zur babylonischen Sprachverwirrung? Das erklärt ein Satz. In der Geschichte vom Turmbau zu Babel ist es der Satz gegenseitiger Selbstermunterung:
„Wohlauf, lasst uns eine Stadt und einen Turm bauen, dessen Spitze bis an den Himmel reiche, damit wir uns einen Namen machen; denn wir werden sonst zerstreut in alle Länder“ (1. Mose 11,4).
Der biblische Erzähler sieht darin, dass sich die Menschen „einen Namen machen“ wollen, eine Absicht, die die Gottes- und Menschengemeinschaft gefährdet und letztlich zerstört. Aber was ist schlimm daran? Warum sollen wir uns keinen Namen machen dürfen?
II Name
Der „Name“ eines Menschen ist biblisch gesehen etwas Besonderes, Einzigartiges, weit mehr als ein Wort. Der Name benennt nicht nur jemanden; nach biblischem Verständnis ist der Benannte und Angerufene selbst in ihm präsent. Der Name ist mit der benamten Sache identisch. Ein Mensch ist mit seinem Namen identisch. Und erst recht ist Gott mit seinem Namen „identisch“, d.h. derselbe, übereinstimmend, wesensgleich.
Gottes Name lautet: „Ich bin bei euch!” Dies ist ein Versprechen, in welchem der jüdische Gottesname JAHWE aufgenommen ist. Der Jude Martin Buber hat immer wieder darauf hingewiesen, dass der Gottesname JAHWE nicht einen Zustandsbeschreibung („Ich bin, der ich bin“) beinhaltet, sondern eine Verheißung, ein Versprechen: „Ich bin doch da! Ich bin doch bei euch“.
Namensnennung ist von daher ein Akt des Ergreifens, im Umgang mit Menschen und erst recht im Umgang mit Gott. Darum soll man, wie es das 3. Gebot fordert, „den Namen Gottes nicht unnützlich führen,“ wie Luther übersetzt. Und darum beten wir immer wieder im „Vaterunser“: „…. geheiligt werde dein Name“. Gottes Name – das ist ER selbst.
Aber auch des Menschen Name – das ist er selbst. Auch für den Menschen gilt biblisch: sein Name ist nicht Aufkleber oder Etikett, sondern beglaubigendes Siegel, Identifizierung. Was für ein Name? Gott nennt diesen Namen und verbindet ihn mit seinem eigenen Namen – unlöslich. Was der Mensch in Wahrheit ist und sein soll, erfährt er biblisch gesehen in diesem Namen, den Gott ihm verliehen hat. Welcher Name? „Da Gott den Menschen schuf, machte er ihn nach seinem Bilde; als Mann und Frau schuf er sie. Und er segnete sie und gab ihnen den Namen Adam – d. h. Mensch –, damals als sie geschaffen wurden“ (Genesis 5, 1f.).
Merkwürdig, Mann und Frau bekommen hier von Gott denselben Namen „Adam – Mensch; ein Name, der eben nicht männlich oder weiblich jeweils zu vereinnahmen ist. Wir tragen ihn gemeinsam: Adam, d.h. Mensch, Mensch Gottes.
III Sich einen Namen machen
Und nun heißt es in der Turmbaugeschichte: „Lasst uns unseren Namen [selber] machen.“ Indem die Menschen zu Babel das so sagen und unter diesem Programm der eigenen Namensgebung ihr Werk beginnen, streichen sie die Namensgebung Gottes durch. „Wir wollen unseren Namen selber machen“ – das heißt, wir wissen auch ohne Gott, wer wir sind. Wir brauchen die Verbindung zu ihm nicht. Wir sind uns selber das Maß. Wir finden unsere Identität auch ohne Gott. Wir gehören ja uns selbst – eben mit unserem nunmehr selbst bestimmten Namen.
„Sich einen Namen machen“, das kennen wir. „Sich einen Namen machen“, das ist für nicht wenige von uns christlichen Bürgern und Großbürgern aller Anstrengung wert. So viel, dass man und frau dafür auch schon mal ein Plagiat als eigene Doktorarbeit abgeben. Es ist dies ein Zeichen eines auch sonst so bedrückenden politischen Ehrgeizes, welches ans Licht gezogen unsägliche Peinlichkeit verursacht; bei ihr kommt einem sogar die Schadenfreude abhanden.
Aber es gibt ja nicht nur in der Politik, sondern auch in den verfassten Kirchen eine Fülle von Eitelkeiten und Selbstdarstellungen. Was hat sich in den letzten Jahren auch bei den Evangelischen nicht alles eingebürgert: Weiße Talare, bunte oder bemalte oder durchwirkte Stolen (auch über dem schwarzen Talar), übergroße Beffchen, sog. „Lutherröcke“, violette oder rote oder weiße Leibchen mit Kollar (Römerkragen). Und dann gibt es die goldenen Amtskreuze als Ausweis des hohen Amtes. [Ich habe selbst eins neun Jahre getragen.] Spätestens beim Anblick des Amtskreuzes ist dann dem Gemeindelied klar, welchem Hochbegabten es gegenüber steht.[1]
Was soll das? Warum all diese Aufmerksamkeitshascher? Alle Ehre? alle Eitelkeit? alle Trophäen- und Namenssucht? In der Erzählung vom Turmbau zu Babel wird die Wurzel genannt: „Ich will mir einen Namen (selber) machen!“ Letztlich aber zieht all unser Ehrgeiz, der sich hier in diesem Vers aus der Turmgeschichte wie die Strahlen in einem Brennglas sammelt, den faktischen Widerspruch gegen unseren Schöpfer und Namensgeber nach sich. Den uns durch ihn gegebenen Namen legen wir dabei (wissend oder nicht wissend) beiseite und wollen uns mit ihm nicht begnügen, ihn nicht wahrnehmen, als wäre er Schall und Rauch. Und das zieht die Verwirrung und Verständnislosigkeit, die Sprachlosigkeit und Zerstreuung in der menschlichen Gemeinschaft nach sich. In der Geschichte ist es Gott selber, der das Durcheinander bewirkt. Ich meine, Gott bewirkt nur, was der Mensch zuvor sich selber angetan hat. So will es die Geschichte vom Turmbau zu Babel zeigen:
Indem wir den von Gott gegebenen Namen ablegen und damit unsere wahre Identität durchstreichen und ersetzen wollen, entpuppt sich der Turm, der als Symbol des selbstgemachten Namens geplant war, als Monstrum der Selbstbezogenheit. Und in dieser Selbstbezogenheit verstehen wir selbst unsere Nächsten nicht mehr, selbst wenn wir dieselben Worte, dieselbe Sprache sprechen. In der Entfremdung von Gott und uns selbst ist oft nur noch Gerede, aber kein verstehendes, hilfreiches Gespräch mehr möglich, sondern – was als Redewendung in unsere Sprache eingezogen ist – „babylonische Sprachverwirrung“.
IV Die Anti-Geschichte der Abraham-Berufung
Aber wie geht es nun weiter? Die Bibel sieht auf ihrer nächsten Seite, wie Gott angesichts des babylonischen Turms dennoch einen neuen Anfang macht, ein neues Wort spricht. Es folgt sogleich im nächsten Kapitel: „Und der Herr sprach zu Abraham: Geh aus deinem Vaterlande … in das Land, das ich dir zeigen werde. Und ich will dich zu einem großen Volk machen und will dich segnen und dir einen großen Namen machen, und du sollst ein Segen sein“ (Genesis 12, 1f.). Auf dieses Wort will die Geschichte vom Turmbau zu Babel hinaus:
Gott hält Gericht, indem er das von den Menschen Angerichtete zulässt, aber er tut es, um ihnen – in all diesem so Angerichteten – einen neuen Namen zu geben, d.h. ihnen eine neue Identität zu schaffen. Er will die Menschen nicht aufgeben, sie nicht sich selbst, in der Fremde und der Befremdung von ihm lassen. Es soll zu neuer Gemeinschaft und zu neuem Segen und darin zur Ehre Gottes und zur Ehre des neuen von Gott uns gegebenen Namen kommen – ein Name, der nicht bedroht ist durch eitle Selbstbezogenheit.
Dieser neue Anfang galt zunächst und vor allen anderen Abraham und Sarah, Isaak und Rebekka, Jakob und Lea und Rahel und all ihren Kindern und Kindeskindern: dem Volk Israel. Und die christliche Kirche und Gemeinde muss diesen Vorrang Israels respektieren, bevor sie sagt und glaubt, dass die dem Abraham gegebene Verheißung auch für die anderen Völker und so auch für uns gegeben worden ist – in einem ganz und gar neuen Namen:
V Die Anti-Geschichte von Pfingsten
Das Ereignis dieser neuen „Namensgebung“ für uns geschieht nach christlichem Glaubensverständnis zu Pfingsten. Ja, man könnte Pfingsten als das „Fest des neuen Namens“ bezeichnen. Von Gottes Namen sagt der Apostel Petrus in der ersten Pfingstpredigt: „… und es wird geschehen: jeder, der den Namen des Herrn anruft, wird gerettet werden.“ Und von diesem Pfingstgeschehen aus kann es dann später aus dem Mund desselben Predigers („erfüllt mit dem Heiligen Geist“ wie es heißt) heißen: „Und in keinem anderen ist das Heil; denn uns Menschen ist kein anderer Name unter dem Himmel gegeben, durch den wir gerettet werden“[2] als der Name Jesus Christus.
Es ist dieses pfingstliche Evangelium eine Anti-Geschichte zur Turmbaugeschichte, eine Gegenpredigt zu 1. Mose 11. Darum geschieht in dieser Geschichte ja auch, dass die Sprachverwirrung und alles Unverständnis aufgehoben wird. Die Pfingstgeschichte will die Warnung und die tiefe Wahrheit der Turmbaugeschichte nicht aufheben. Aber sie will uns doch verwehren, die babylonische Destruktion und Verwirrung und Zerstreuung als ein unabänderliches Geschick hinzunehmen:
Vielmehr sind die Pfingstgeschichte und die erste Predigt des geisterfüllten Petrus eine hinreißende Botschaft:
Sie gibt Antwort auf die Frage der Turmbaugeschichte: Gibt es eine Befreiung
- aus der unheilvollen Selbstbezogenheit,
- aus der Zerrissenheit der Menschheit
- aus ihren zerbrechenden, sprachunfähigen Gemeinschaften?
Ja, es gibt diese Befreiung – nicht nur als Möglichkeit, sondern als Ereignis und als die uns schon jetzt umgebende barmherzige Wirklichkeit des Auferstandenen:
- in der Kraft seiner Gegenwart,
- in der Kraft des Heiligen Geistes,
- in der Kraft seines Namens:
„Sie fingen an zu predigen in anderen Zungen, wie der Geist ihnen gab auszusprechen … Und ein jeder und eine jede hörten sie in der eigenen Sprache sprechen“ (Apostelgeschichte 2, 4f.), heißt es in der Pfingstgeschichte.
VI In der Kraft des neuen Namens
Wo geschieht das? In welcher menschlichen Gemeinschaft? Wir sollten nicht so vermessen sein, die vorfindlichen Kirchen als Gottes Antwort zu preisen und von Pfingsten als einem „Geburtstag der Kirche“ sprechen. Nein, zu Pfingsten hat der neue Name „Geburtstag“ – für alle. Und durch das Wort Gottes, durch das Zeugnis des Namens des Nazareners wird jedem und jeder zugesagt, dass dieser Name mit seinem Namen so verbunden ist, dass wir dieses Band nicht mehr lösen können. Nur von diesem Geschenk des Heiligen Geist her lässt sich sagen: Ohne die Gemeinde Jesu Christi kommt Gottes Antwort auf die von der Turmbaugeschichte gestellte Frage nicht zu den Leuten. Ohne die Kirche können wir das Evangelium nicht gemeinsam hören.
Es kommt nicht zu den Menschen, wenn wir es nicht ausrichten. Und es kann auch nicht bei ihnen bleiben und wohnen, wenn wir ihm dafür keinen Raum geben und in diesen Raum nicht kommen. Das ist eine hohe Aufgabe für die Gemeinde Jesu Christi. Recht eigentlich ist das ihre einzige Aufgabe, in der sie unvertretbar ist: Das Evangelium muss zu den Leuten und die Leute müssen das Evangelium hören und dabei ein Dach über dem Kopf haben. Denn das Evangelium ist die gottgeschenkte Verständigung hinweg über alle
- Sprachlosigkeiten,
- Grenzen,
- Barrieren.
In der Kraft und Zuversicht des Evangeliums werden wir auch nicht gehindert, Städte und Kirchen und Türme zu entwerfen, zu planen und zu bauen. Denn in der Kraft des Namens Jesu dürfen wir selbstbewusst sein. Selbstbewusstsein muss nicht eitel sein. In seinem Geist, dem heiligen Geist, dürfen wir Städte und Türme und Kirchen bauen, dürfen wir uns einer anderen, neuen Identität freuen. Lasst uns darum den neuen, uns zu Pfingsten gegebenen Namen der Rettung – Jesus Christus – wahrnehmen, indem wir uns in der Kraft und Bescheidenheit des Heiligen Geistes auch gegenseitig neu wahrnehmen, verstehen und vertragen – und uns bescheiden. „Ihr werdet die Kraft des Geistes empfangen und werdet meine Zeugen sein“, hat der Auferstandene seinen Jüngern verheißen. Wie sollten wir daran zweifeln, dass er dieses Versprechen heute auch an uns erfüllt?
Gehalten an Pfingstsonntag, 28. Mai 2023 in der Martin-Luther-Kirche in Gütersloh.
[1] Vgl. zu diesen Gebräuchen das Kapitel „Fünfte Untugend: Selbstherrlichkeit – Von den Neigungen der Kleriker“, in: Friedrich Wilhelm Graf, Kirchendämmerung, München 2011, S. 99 – 109. Es ist noch viel schlimmer, als Graf hier aufschreibt.
[2] Zürcher Übersetzung 2007
Rolf Wischnath (* 1948) ist Pastor in Gütersloh und Soest.