Von Karl Barth
Wer heute die Erinnerung an den am 27. Mai 1564 in Genf gestorbenen Johannes Calvin begehen will, sehe wohl zu, daß er ihn selbst dabei für und nicht etwa gegen sich habe! Daß der Ort, an dem er begraben wurde, damals schon nach wenigen Jahren in Vergessenheit geraten konnte, war kein Zufall. Das Monument, auf dem er heute mit einigen berühmten Calvinisten geistlichen und weltlichen Standes seines Zeitalters in Genf zu sehen ist, wurde bestimmt nicht in seinem Sinne errichtet. Calvin war kein Held und eignet sich nicht zur Heldenverehrung. Er wollte, ohne je Spuren eines besonderen prophetischen Sendungsbewußtseins zu zeigen, nur eben der erste Diener des göttlichen Wortes in der christlichen Gemeinde der Stadt Genf, und, wenn er von anderen solchen Gemeinden gefragt war, auch für diese sein. Er wollte also weder verehrt noch bejubelt noch auch nur geliebt, sondern nur eben als Zeuge der Sache, der er sich, nachdem sie ihn einmal für sich gewonnen hatte, verpflichtet wußte, gehört sein. Er konnte wohl Recht haben wollen, eifern und zürnen und hat es gewaltig bis zur Anstößigkeit getan. Er tat aber auch das nie in Selbstgefälligkeit. Es war, wenn er von der Ordnung der christlichen Existenz sprach, nicht umsonst die Lehre von der notwendigen Ertötung des eigenen zugunsten des göttlichen Selbst, seines Willens und Wohlgefallens, auf die er fast alles Gewicht legte. So hat er — zeitlebens ein kränklicher und in seinen letzten Jahren ein schwer kranker Mann — gelebt. So ist er gestorben. Darin will er, was seine Person betrifft, respektiert sein.
In der Reihe der Reformatoren war Calvin — im Unterschied zu Luther und Zwingli — der führende Mann der zweiten Generation. Seine geistige Heimat war der von Deutschland her schon vor ihm in evangelischem Sinn beeinflußte französische Humanismus. Die Welt seiner reifen Tätigkeit war einmal die der kirchlichen Gegenreformation, die in der Gründung und Ausbreitung des Jesuitenordens und in den über zwei Jahrzehnte sich erstreckenden Beratungen und Entschließungen des Konzils von Trient ihre eindrucksvollsten Höhepunkte hatte — war aber zum Anderen auch der in mannigfachen philosophischen, wirtschaftlichen und politischen, aber auch ästhetischen und religiösen Bewegungen sich ankündigende Anbruch der Neuzeit. Im Rahmen der Auseinandersetzung mit diesen beiden sich widerstrebenden, aber auch zutiefst zusammengehörenden Elementen seiner Zeit hat Calvin sein Werk getan und will er verstanden sein. Er hat zur Erneuerung der Kirche und ihrer Botschaft von ihrem Grund in der heiligen Schrift her wie für und gegen das sich selbst bestätigende christliche Mittelalter und Altertum, so auch für und gegen den eben erwachenden modernen Menschen gedacht, gehandelt und geredet.
Die Summe aller Weisheit, so schrieb er gleich am Anfang seines literarischen Hauptwerks, sei die rechte Erkenntnis Gottes und des Menschen. Die rechte Erkenntnis Gottes sei die des nicht nur allmächtigen, sondern heiligen, aber auch väterlich gütigen Gottes. Und es sei die rechte Erkenntnis des Menschen die des auf Gottes freie Gnade und Offenbarung gänzlich angewiesenen, ohne ihn dem Nichtigen verfallenen, allein in der Beziehung zu ihm wirklich lebenden Menschen. So wurde Calvins Grundthema die Geschichte des laut des Alten Testamentes begründeten, laut des Neuen Testamentes vollzogenen und seiner Vollendung entgegengehenden Bundes Gottes mit den von ihm erwählten und durch sein Wort in der Macht seines Heiligen Geistes berufenen, erleuchteten und geheiligten Menschen. Für sie sei Gottes Sohn selbst Mensch geworden, sei er gestorben und auferstanden. Gottes Gemeinschaft mit ihnen sei der Anfang und das Ziel aller seiner Wege in und mit seiner Schöpfung. Im Gehorsam des Glaubens unter dem Gesetz dieses Gnadenbundes zu existieren, sei die unendliche Wohltat, aber auch das unverbrüchliche Gebot und so der Sinn ihres Daseins. Eben durch dieses Gesetz werde aber auch ihre Gemeinschaft untereinander konstituiert: ihre Existenz als der Ehre Gottes dienendes irdisches Gottesvolk auf dem Weg seiner Wanderschaft dem ihm verheißenen Erbe des ewigen Lebens entgegen.
Das war in kürzesten Worten die Theologie, die Weisheit — die, wie man auf den ersten Blick sieht, höchst praktisch in ihrer Weise, höchst tröstliche, vor allem aber auch höchst anspruchsvolle Weisheit — für die Calvin in seinem Jahrhundert begrenzend und bestimmend nach rechts wie nach links in seinen Predigten, Vorlesungen und Briefen und zusammenfassend in seiner 1536 in ihrer ersten, 1559 in ihrer endgültigen Form erschienenen Institutio Religionis Christianae eingetreten ist.
Die Größe von Calvins Konzeption spiegelt sich in der psychologisch und soziologisch gleichermaßen formenden Kraft, die sie weit über die paar Jahrzehnte seines Lebens, weit über das kleine Genf, weit über Europa, aber auch weit über die spezifisch kirchlichen Bezirke hinaus in immer neuen Wandlungen bewiesen hat. Was wir heute die „westliche“ Welt, Kultur und Zivilisation nennen, wäre ohne sie undenkbar. Man kann aber ihre Größe, wenn man will, auch daran ermessen, daß sich, mit ihrer Thematik, ihren Konturen und Dimensionen zusammengehalten, nur allzu viele von den späteren, im engeren Sinn theologischen Diskussionen bis hin zu denen unserer Tage wie Gespräche zwischen Pygmäen, um nicht zu sagen: Gartenzwergen ausnehmen. Welche axiomatische Gewißheit im Ansetzen und im Durchhalten! Welche Sammlung um die eine Aussage der ganzen heiligen Schrift, wie sie nun einmal lautet! Welche immer kühne, aber nie trennende oder vermischende Zusammenschau von Gott und Welt: Ubi cognoscitur Deus, etiam colitur humanitas! „Wo Gott erkannt wird, da kommt auch die Humanität zu Ehren!“, hat Calvin einmal formuliert. Welche alle willkürlich schweifenden Einfälle zurückdämmende Zucht des Denkens und der Sprache! Welche in sich immer konsistente und darum zuverlässige Gedankenführung und Unterrichtung! Welche Gebundenheit an den konkreten Dienst, auf den hier alles Denken und Reden als solches ausgerichtet ist! Etwas von der Majestät des in der heiligen Schrift dokumentierten geordneten Ganges des göttlich-menschlichen Geschehens, von dem Alles herkommt, dem Alles entgegeneilt, schimmert in Calvins Lebenswerk durch, wie es in menschlichen Lebenswerken so nur selten der Fall ist, trägt es als Ganzes auch in seiner menschlichen Gebrechlichkeit und Bedenklichkeit.
Calvins Autorität war auch seinen mehr oder weniger getreuen Nachfolgern nicht das Maß aller Dinge, wie es die Luthers für die Seinigen alsbald geworden und bis auf diesen Tag geblieben ist. Es muß jedem Kenner seiner besonderen theologischen Schule auffallen, wie selten er literarisch zitiert worden ist. Calvinische Orthodoxie (auch der Begriff „Calvinismus“!) war und ist ein Widerspruch in sich selber. Bei Calvin konnte und kann man nur in die Schule gehen und lernen. Und indem er seine Gemeinde und mit ihm seine sonstigen Hörer und Leser selber nur in die Schule der heiligen Schrift einweisen wollte, mußten und müssen bei der von ihm zu empfangenden Unterrichtung auch die Grenzen seiner Größe, auch die Schwächen seiner Stärke sichtbar und zu ernsten Problemen werden.
Er ist dem Reichtum und der Tiefe des prophetischen und apostolischen Zeugnisses, so treulich er ihm folgen wollte, doch auch zu nahe getreten. Jener Gnadenbund Gottes mit dem Menschen konnte und sollte nach ihm doch nur ein Bund Gottes mit einem Kreis bestimmter Menschen sein, von dessen Licht und Wohltat er die übergroße Mehrzahl des Menschenvolkes auf Grund eines unerforschlichen und unveränderlichen göttlichen Ratschlusses für ausgeschlossen hielt, über die nötige Unterscheidung des Bösen vom Guten hinaus bekam von daher die zwischen den vielen bösen und den wenigen guten Menschen, die Reinigung der Gemeinde von allen nur scheinbar zu ihr Gehörigen, ein offensichtlich unsachliches Übergewicht. Der so berüchtigt gewordenen Verurteilung und Exekution des Michael Servet und ähnlicher Vorgänge wäre hier zu gedenken. Hier bekam aber auch die Disziplin der Rekrutierung und des Exerzitiums der wahren Christen einen Akzent, der dem Ganzen unverkennbar und unleugbar den Charakter einer gewissen beklemmenden Düsterkeit geben mußte, der gegenüber schon damals und später allerlei Reaktionen unvermeidlich wurden. Niemand sollte sich heute einbilden, daß er, um von Vergnügen nicht zu reden, mit gutem Gewissen in dem von Calvin regierten Genf hätte leben können! Es kam dazu, daß er einen gewissen platonisierenden Dualismus in der Verhältnisbestimmung zwischen Leib und Seele, auch zwischen Himmel und Erde, Diesseits und Jenseits zeitlebens nicht los geworden ist. Er erlaubte ihm nicht, den Menschen in der Ganzheit seines Daseins, seines Elends, aber auch seiner Erlösung zu Gesicht zu bekommen und zur Sprache zu bringen: ein Mangel, der eine seiner Ethik, aber auch und vor allem seiner Zukunftserwartung eigentümlich lebensfremde Kälte nach sich ziehen mußte. Calvin war zweifellos stärker, wenn er vom Glauben und vom Gehorsam, als wenn er von der Liebe und von der Hoffnung redete. Auf diesen und anderen Linien war er nicht nur ein Kind seiner Zeit, sondern auch der Gefangene gewisser Starrheiten seines eigensten Ansatzes. Man versteht von daher die Grenzen, die auch der wahrlich tiefen und weiten Auswirkung seines Lebenswerkes, die nicht zuletzt auch seinem kirchlich-ökumenischen Wollen und Streben gesetzt waren.
Man wird aber, indem man das alles ruhig einsieht und zugibt, auch das nicht verkennen können, daß es zu aller nötigen Kritik und Korrektur Calvins außer den biblischen Propheten und Aposteln kaum einen besseren Lehrer und Meister gibt als — Calvin selber! War er es nicht, der einmal den herrlichen Satz geprägt hat: status mundi in Dei laetitia fundatus est, „die Gestalt der Welt ist in der Freudigkeit Gottes begründet“? Und in anderem Zusammenhang: Es gebe kein Element noch Teilchen der Welt, das nicht in Bestätigung seines gegenwärtigen Elends „auf die Hoffnung seiner Auferstehung ausgerichtet wäre“: in spem resurrectionis intenta sit! Hat uns nicht eben Calvin die Souveränität des gnädigen Gottes auch über das Böse und so auch über die Bösen, die wir alle sind, unvergeßlich eingeprägt? Wo, wenn nicht bei ihm, kann und muß man es denn lernen, daß das tötende Gesetz die Gestalt und Funktion des lebendigmachenden Evangeliums, daß gerade Gottes Forderung zuerst und vor allem seine Gabe ist? Von wem, wenn nicht von ihm, ist die christliche Gemeinde so energisch dahin instruiert worden, daß ihre Existenz kein Selbstzweck sei, daß sie Licht und nicht neue Düsterkeit um sich zu verbreiten, daß sie selber Licht zu sein und als solches Gott, aber damit offenbar auch der gottlosen Welt zu dienen habe? Calvins Konzeption als Ganzes ist so gediegen, daß sie sich auch und gerade gegenüber den weniger glücklichen Aufstellungen, in denen er nicht selten stecken geblieben ist, bewährt. Lohnt es sich also nicht, „Calvinist“ zu werden, so lohnt es sich doch in fast einzigartiger Weise, Calvins freier Schüler zu werden. Kann man heute nach den Erfahrungen, die wir mit seinem Lebenswerk in seiner historischen Gestalt gemacht haben — kann man in neuem Rückgang auf die Quellen und Ursprünge, auf die er so dringlich hingewiesen hat, nur mit ihm denken und reden, indem man in wichtigen Stücken über ihn hinausgeht, so kann man doch auch nur in fruchtbarer Weise über ihn hinausgehen, indem man in der von ihm gewiesenen Richtung erst recht mit ihm weiter denkt und redet: im Rückblick auf die Tage seiner Arbeit, seiner Kämpfe und seiner Leiden in großer Ehrfurcht und in echter Dankbarkeit.
Quelle: Evangelische Theologie 24 (1964), S. 225-229.