Peter Gross, Unendliches Begehren nach Mehr (Die Multioptionsgesellschaft, 1994): „Wie auch immer, mit oder seit Augustinus zieht sich die Vorstel­lung, die Seligkeit sei etwas ganz anderes, mehr und mehr zurück und dringt eine diesseitige Glücksvorstellung in die Welt und die Menschen hinein. Der Abgrund zwischen Himmel und Erde, zwischen Gott und der Welt, zwischen der absoluten Wahrheit und der Unsicherheit und Lüge, zwischen Vernunft und Erfah­rung, zwischen Möglichem und Wirklichem wird enthierarchisiert. Die Himmelsleiter führte himmelwärts und endete im ganz Anderen. Nun wird sie wie von einem Baum, dessen Früchte ge­pflückt sind, weggenommen und auf die Erde abgesenkt.“

Fast 30 Jahre ist es her, dass Peter Gross‘ Die Multioptionsgesellschaft bei Suhrkamp erschienen ist. Furios geschrieben mit einer religiösen Grundierung ist das Buch noch immer lesenswert:

Unendliches Begehren nach Mehr (Die Multioptionsgesellschaft)

Von Peter Gross (1941-2023)

Optionensteigerung und Steigerung der Teilhabe bergen deshalb, wenn sie Hand in Hand auftreten, eine nie endende Triebkraft. An die Stelle ideologischer Kämpfe tritt der Dauerkonflikt zwischen Versprechen und Realisierung, zwischen versprochenen und vor- enthaltenen Lebensmöglichkeiten. An die Stelle einer festumrissenen, endlichen, in naher oder ferner Zukunft erreichbaren Utopie treten zersplitterte und zerfaserte Teilseligkeiten. Und an die Stelle eines sich in der Geschichte verwirklichenden objektiven Geistes treten Millionen individualisierter Selbstverwirklichungsvorstel­lungen. Alle sind mit den gleichen Realisierungsbefehlen unter­wegs. Aber der finale Zustand einer homogenen, aller Differenzen ledigen Welt wird nie erreicht, kann, der Logik von Differenzschaffung und Differenzminderung zufolge, nie erreicht werden. Denn die offene Dynamik moderner Multioptionsgesellschaften emaniert täglich neue Differenzen. In einer historisch beispiello­sen Weise werden, dem Steigerungsprogramm folgend, immer neue Handlungsmöglichkeiten aufgetan. Ein entfesseltes Denken denkt neue Möglichkeiten, die getreu dem Slogan von Walt Disney bis General Electric »Was du denken kannst, kannst du auch tun« nach ihrer Realisierung rufen. Die Realisierungsphantasien sind die Lokomotiven der offenen Gesellschaft, sie ziehen den kolum­bianischen Bauern nach Bogotá und die TV- und Videohändler nach Osteuropa, den St. Galler Professor an ein Symposion nach Tokio. Die Bildschirme, die Medien, die Literatur, die Forschung und Technik-Beilagen halten die Verheißungen des Morgen frisch und unbefleckt. Denn die aufgeblendeten Möglichkeiten werden nicht als utopische, sondern als realisierbare genommen, wie­derum transnational von Bogota bis Moskau, transpolitisch von Kohl bis Mitterand. Keine Kultur scheint diesem Programm auf die Dauer widerstehen zu können. Es ist global. Jede göttlich oder militärisch legitimierte Hierarchie ohne das Versprechen der Mul­tioptionsgesellschaft bricht früher oder später zusammen.

Zwar bedeutet Produktion gleichzeitig Destruktion, Optionierung immer auch Entobligationierung. Die Traditionen werden, wie die fossilen Energien, in beschleunigtem Tempo verbraucht. Die Aufmarschzonen des Fortschritts säumen Reste verbrannten Treibstoffs und der Ruß erloschener Flammen (Bauman 1992, S. 24). Die Pygmäen tauschen, nach einem Dokumentarbericht des Fernsehens über die afrikanischen Regenwälder, ihre Bast­röcke gegen gebrauchte europäische Unterwäsche um. Nicht nur das Wirtschaftliche wird stumm begleitet von der Naturzerstö­rung, sondern jede Wertschaffung und Wertschöpfung (vgl. Clau­sen 1989; Bardmann 1994). Wer beklagt nicht den unaufhörlichen Schwund, die kritische Aneignung oder, weniger euphemistisch, die unkritische Vernichtung von Traditionen und Obligationen! Aber der Selektionsdruck von Selbstverständlichkeiten und Ver­bindlichkeiten, von Beschränkungen der Freiheit wird dadurch geschwächt. Gleichzeitig werden Potentiale entfesselt: technische, kognitive, aktivistische, mörderische. Ein Kraftfeld baut sich auf, in dessen Sogkraft Menschen, Familien, Regionen, Nationen und Kontinente unbarmherzig hineingezogen und hineingesogen wer­den und werden wollen. In ihrem Schmelztiegel verflüssigen sich Grenzen und Zäsuren und verflüchtigen sich Verbindlichkeiten. Die Welt ist unausschöpfbarer Grund für ein kulturweltgeschicht­liches Recycling. Das Alte ist Baumaterial für das Neue. Das Kräftefeld transformiert und transportiert die Obligationen zum Optionenpol. Bislang Sinnhaftes und Selbstverständliches wird reflexiv entzaubert. Technische Entfatalisierung, kommerzielle Vermarktung und egalitäre Programme füllen die Regale der Mul­tioptionsgesellschaft. Die Baströcke der Pygmäen halten Einzug in den Völkerkundemuseen. Gegen ein kleines Entgelt zeigen Ein­geborene ihre mumifizierten Ahnen her. Die Kirchen werden heute in musealer Absicht aufgesucht. Die Grenzen verschwin­den, die den Küster vom Kustos, den Pfarrer vom Schausteller trennen. Die Fürsten und Freiherren auf ererbten Schlössern mu­tieren zu Schaustellern. Protestantische Kirchengemeinden finan­zieren sich, sofern im Besitz einer sehens­werten Kirche, über Eintrittsgelder von Touristen, die, aus aller Welt heranchauffiert, sich etwa dafür interessieren, in wie viele Einzelteile ein Altar von Riemenschneider zerlegbar, oder, im katholischen Einsiedeln, warum die Wallfahrtsmadonna schwarz ist. Die Wissenschaft klärt die Restbestände des Selbstverständlichen in den Köpfen auf. Durch die Reflexion und breitenwirksame Dauerverhandlung der eigenen Biographie stellt man ihre Erklärungskraft für die Gegen­wart (und etwas anderes kann sie nicht bieten) zur Disposition. Alle mutieren zu Museumswärtern. Es handelt sich dabei nicht um eine organisierte Vernichtung der Dinge im Sinne Baudrillards, sondern um die über Reflexion, Technologie, Markt und Demokratie fort­schreitende, sich fortschnellende Bewegung der Plünderung und Befreiung. Die Dinge erheben sich wie aus einem Dornröschen­schlaf. Mehr Wahrheit, mehr Gerechtigkeit, mehr Freiheit, mehr Möglichkeit und immer wieder von vorn, iterativ, wie der exakt zur Multioptionsgesellschaft passende, den einfachen und alterna­tivlosen Universalismus überbietende optionäre Universalismus genannt wird (vgl. Walzer 1990).

Auf allen Seinsebenen, im Kopf und in den Füßen, und in allen Lebensbereichen, vom Kochen bis zum Fernsehen, wird emanzi­piert, entobligationiert, als politische Gleichstellung, Freiheit der Produktion und Konsumtion, Befreiung der Kunst, des Kör­pers, der Zunge, der Diskurse, der Frau, der Kinder. Die Multi­optionsgesellschaft durchdringt die Dinge, sie steckt zwischen den Buchdeckeln und in den Köpfen. Alles wird simuliert, alles zirkuliert, alles Abwesende wird anwesend; die ganze Geschichte ist, sich aufstauend, präsent. Auf der kognitiven, auf der Bewußtseinsebene kündigt sich ein Zustand an, in dem die Knappheit überwunden und eine Beliebigkeit, ein Spektakel erreicht ist, der das Begehren leerlaufen, den Modernisierungsinfarkt (Beck) be­fürchten läßt. Aber noch einmal: die Geschichte ist Realisierungs­geschichte. Einfache Gesellschaften sind selbstgenügsam, hoch­kulturelle bauen in die Höhe. Die modernen Gesellschaften kolonisieren in die Breite und entwickeln Aufzugsarchitekturen. Alles erscheint möglich, realisierungsmöglich, wenn auch noch in unterschiedlichen Graden. Das flüssige Universum, in dem Simu­lation und Realisation – wie etwa im Cyberspace – in einer neuar­tigen Weise verschmelzen, bleibt auch in luxurierenden Über­quellwelten für eine kleine Weile der Luxus einzelner, markiert Differenz und ruft, in einem Endlosprozeß, sogleich nach Diffe­renzminderung.

So bleibt der Realisierungsdruck, die Fortschrittsprogramma­tik, die Drift. Es bleibt die spezifisch abendländisch formulierte und nachchristlich reformulierte Differenz zwischen Wirklichem und Möglichem, die, aus der Vertikalen in die Horizontale gekippt, zum Übersprung einlädt, zu neuen Horizonten treibt. Mein Reich ist nicht von dieser Welt – das war die beruhigende und besänftigende Rede von Christus; das ewige Leben als andere Se­ligkeit, keine Alternative, keine Verlängerung der diesseitigen Welt, sondern immerwährende selige Verklärung! Der außerwelt­liche heilige Kosmos, dieser Inbegriff des unendlichen Begehrens ist weggerückt, fristet in Schriften und Bildern noch sein nicht mehr verstandenes Dasein. Die Tränen des Eros auf den Wachsbil­dern der Jahrhundertwende, die umflorten Augen der Mutter Gottes, die Umarmung der blutüberströmten Glieder Jesu Chri­sti – sublimierte Gesten für messianische Träume, in denen alle Differenzen aufgehoben, alle Lebensmöglichkeiten zu himmli­schen Seligkeiten wurden.

Die moderne Ära, diese gigantische Anstrengung, den Ab­grund, der zwischen Vernunft und Erfahrung liegt, zu verringern, sprengt nicht nur den heiligen Kosmos, sondern wie ein Erdbe­ben, immer neue Klüfte auf. Die transzendentale Seinssphäre, die die irdischen Probleme in sich aufgesogen und die Energien gleichsam tiefgefroren oder in ebenso gewaltigen wie gegenüber Fabriken nutzlosen Klöstern, Kirchen und Kathedralen investiert hat, wird ausgehöhlt, die außerweltliche Erlösung preisgegeben. Den Himmel überläßt das Heute den Engeln und Spatzen. Die ganze Landstriche in Armut stürzende Verbildlichung der in der Apokalypse visionär geschilderten Gottesstadt in monumentalen Sakralbauten hat im Mittelalter eine pro­duktivere Verwendung von Arbeit und Kapital verhindert. Möge die militärisch-technische Hochrüstung unserer Welt vor dem Ende der Ost-West-Geschichte, vor dem Ende des bipolaren Zustandes von der Nachwelt zumindest in einem Punkt einmal nachsichtig beurteilt werden, nämlich als Vernichtung des sonst die Wachstums- und Zivilisa­tionsdynamik anheizenden Kapitals! Die militärischen Monu­mentalanlagen als säkularisierte Analoga kirchlicher Sakralbauten und die Militärparaden mit ihren über den Köpfen brausenden stählernen Maschinen als weltliche Aberrationen kirchlicher Prachtentfaltung!

Wie auch immer, mit oder seit Augustinus zieht sich die Vorstel­lung, die Seligkeit sei etwas ganz anderes, mehr und mehr zurück und dringt eine diesseitige Glücksvorstellung in die Welt und die Menschen hinein. Der Abgrund zwischen Himmel und Erde, zwischen Gott und der Welt, zwischen der absoluten Wahrheit und der Unsicherheit und Lüge, zwischen Vernunft und Erfah­rung, zwischen Möglichem und Wirklichem wird enthierarchisiert. Die Himmelsleiter führte himmelwärts und endete im ganz Anderen. Nun wird sie wie von einem Baum, dessen Früchte ge­pflückt sind, weggenommen und auf die Erde abgesenkt. Es erfolgt jene Richtungsänderung des Blickens und des Blickes, die immer neue Horizonte und damit immer neue Möglichkeiten ge­wahr macht. Das vom religiösen Prinzip dominierte Weltalter wird abgelöst von einer irdisch-synchronen Seinsweise, in der der Konjunktiv ins Diesseits gerät. Die Seligkeit des Paradieses, die Wonnen des Himmels schleichen sich in die Wahrnehmung der Erde, der Gesellschaft, der Welt ein. Messianische Träume von neben Löwen grasenden Lämmern: welch ministerielle Vorstel­lung einer friedlich durchmischten, multikulturellen Gesellschaft! Sie wird nicht mehr gemessen an der Wahrheit, an der Vernunft, am Guten, sondern am möglichen Mehr. Der Blick schweift in die Ferne. Die aktuelle Welt gerät aus dem Gleichgewicht. Der Ab­grund zwischen Erdendasein und himmlischer Seligkeit wird reformuliert in ein Gefälle zwischen Wirklichkeit und Möglichkeit in der Wirklichkeit. Daraus resultiert diese unabsehbare Korrek­turwut, an der Welt, am anderen, an uns.

Diese nun wird kanalisiert in den einzelnen ausdifferenzierten Lebensbereichen, in Wirtschaft, Politik, Kultur, Wissenschaft. Mögen sie unterschiedlichen Imperativen folgen und unterschied­liche Steuerungsmedien haben! Über ihnen schwebt aber ein Zen­tralbefehl. Auch sie verfolgen Wachstums- und Steigerungsziele. Wenn Steigerung die Erbsünde der Moderne ist, so sind auch die nach Orientierungswissen rufenden Philosophen und die vor der Steigerungsprogrammatik warnenden Ökologen Sünder. Auch sie wollen mehr, wollen besser sein, näher an der Wahrheit, Gerech­tigkeit, Glückseligkeit. Die Schließung und Ausdifferenzierung ermöglicht, wie die sportliche Beschränkung auf eine Disziplin, immer neue Höchstleistungen von Systemen. Legitimiert wird das Wachstum zudem durch die Inklusionsforderung, die Teilhabe­programmatik, die zur Differenzminderung auffordert. Statt Se­lektionsdruck herrscht Differenzminderungsdruck, Realisierungs­druck, Druck zur Mimesis – der verschärft wird durch den modernen Zeitdruck. Auch der Zeitdruck ist ein Resultat der Ver­weltlichung. Die mit dem Leerfegen des Himmels verbundene Vernichtung einer Entlastungsmöglichkeit in einem Jenseits führt zur Kompression des und zum Druck auf das Diesseits. Weltzeit schrumpft auf Lebenszeit zusammen. Zeit wird Frist. Mehr Wis­sen, mehr Innovationen, mehr Gerechtigkeit, mehr Bildung, alles muß schneller, wenn möglich gleichzeitig, passieren. Aber alle neu eröffneten Handlungsmöglichkeiten implizieren immer neue Dif­ferenzvergrößerungen. Das Paradigma der aufholenden Entwick­lung gilt beileibe nicht nur für die Drittweltländer, und es ist nicht nur für diese eine empirische und – wegen der Dialektik von Dif­ferenzierung und Differenzminderung – prinzipielle Fata Mor­gana. Deren Teilhabeforderungen begleiten die internationalen Konferenzen, auch wenn, zumindest im Reich des Geistes, eine Kritik am »Kult der Differenz« und an entsprechenden abendländischen Monopolen, etwa am logisch-rationalen Denken, geübt wird (vgl. dazu Hountondji 1993). Das Paradigma beherrscht die Kindergärten und Schulen. Es wird gepflegt im Beruf und in der Partnerschaft. Gleichzeitig erweckt das Projekt der Moderne zwar den Eindruck des Endlosen. Auf jeder einmal erreich­ten Stufe eröffnen sich neue Ausblicke. Auf keiner Stufe gerät das Diffe­renzminderungsprogramm aus den Augen. Auf jeder Stufe tun sich erneut und noch einmal Differenzen auf. Aber nicht für alle dieselben! Die unterschiedlichen Realisierungszustände verdek­ken das Repetitive und Vergebliche der Bewegung.

Die beschleunigte Bewegung der Gesellschaft nach vorn läßt sich nicht für alle mitmachen. Transzendenz macht sanft, Imma­nenz gewalttätig (Blumenberg)! Nicht wenige kommen unter die Räder, verstecken sich, tauchen ab, emigrieren, ziehen sich zu­rück, machen ihrem Leben ein Ende. In den Klüften und Schründen bleiben viele, auch ganze Länder, als »Weltsozialfälle« zurück, deren Überleben durch global organisierte Sozialhilfe gesichert werden muß (vgl. Kurz 1991; Münch 1993). Wer sich bedroht fühlt, ist nur mehr mit der Abwehr dieser Bedrohungen beschäf­tigt. Die Abwehr nimmt ebenfalls handgreifliche Formen an. Wen die aufgeblendeten Optionen paralysieren und krank machen, weil alles innerhalb eines kurzen Menschenlebens realisiert und vollendet werden muß (»Wofür die andern eine Ewigkeit haben, dafür bleiben mir nur ein paar armselige Jahre« soll Hitler geäußert haben – Bormann-Zitate, in: Blumenberg 1986, S. 83), der wird die Optionen fliehen, ihre Auflösung herbeisehnen oder diese auszulöschen versuchen. Das jüngste Gericht wird nicht nur in den Köpfen der Amokläufer herbeigesehnt, und die Anrufung der Apokalypse ist keineswegs nur schlechter Geschmack gutmeinen­der Intellektueller (Koch 1994, S. 146). Die Churer Aushilfsser­viertochter, die zu Hause zwei behinderte Kinder zu betreuen hat und die sich eine Schweiz ohne Asylbewerber wünscht, spricht aus, was ganz und gar kein Ausnahmegedanke ist, den Wunsch nach einem neuen Atomschlag, »damit man noch einmal von vorne beginnen kann« (Karrer 1990). Noch einmal von vorne be­ginnen! Alles anzünden, was einem zwischen die Finger kommt, wie es der Wunsch von Bearis und Butt-Head in der gegenwärtig erfolgreichsten amerikanischen Comic-Serie ist. Dieses Ineinan­der von Welthaß und Neuanfangswunsch ist gerade ein Resultat der Risikogesellschaft. Die Katastrophe erscheint somit als Ret­tung, weil sie »demokratisch« ist, das heißt, alle trifft!

Die allerorts beklagte zunehmende Gewalt und Irregularität, die Freude an der Destruktion, die Installierung elektrischer Hunde in den Vorstadtvillen, die beschmierten U-Bahnschächte, die Sendung »Aktenzeichen: XY… ungelöst«, die allabendlich gezeigten Mord- und Totschlä­ge am Fernsehen, das allgegenwär­tige »Falling Down«-Syndrom, sind es gesteigerte Versuche, die aufgeblendeten Optionen irregulär, im Untergrund, schwarz, kri­minell zu realisieren oder wenigstens an sie heranzukommen? Wären sie es, dann hätten wir den diffusen Welt-Bürgerkrieg (wie ihn Enzensberger immer wieder befürchtet), in dem nicht mehr Ideen gegen Ideen, Armeen gegen Armeen, Uniformen gegen Uniformen antreten, sondern jeder gegen jeden ankämpft. Der sich aufspielende Terror ist freilich weder leer, noch sind die Ein­zeltaten motivlos; es sei denn, man würde den Steigerungs- und Teilhabeimperativ in ihrer substanzlosen Generalisierung so nen­nen. Der subpolitische Umschlag erfolgt global und national. Der schwelende Krieg ist in der Tat kein Rassen- oder Klassenkampf, sondern ein Kampf um Teilhabe. Die Katastrophenfaszination ist Faszination an der blitzartigen Zerstörung von Differenzen. Auf hunderttausend Füßen marschiert und kriecht die kognitiv kolonialisierte Restwelt mit ihrem Mehrwillen in die luxurierenden Multioptionsgesellschaften hinein. Deren Vorrichtungen zur Ka­nalisierung der Nutzen- und Gefährdungspotentiale, der produktiven und destruktiven Energien, sind bekannt. Im ausgedünnten Kaum zwischen leeren Traditionen und entfesselten Optionen sind Laufgräben, Systeme, Organisationen und Administrationen eingelassen, die eine transitorische Verhaltenssicherheit versprechen. Transitorisch, weil jedermann weiß, daß die Gesetze und Reglemente, die Ordnungen und Vorschriften vom Menschen gemacht und damit brüchig sind. Gleichzeitig kehren die durch Großorga­nisationen entpolitisierten Individuen in die Gesellschaft zurück, aber, angesichts des unaufhörlich zunehmenden sekundären Anal­phabetismus (vgl. Bronner 1994) – möglicherweise nicht mit dem Stimmzettel, sondern mit dem Baseballschläger.

Die Organisationen programmieren die Bahnen und kanalisie­ren die Menschenströme. Sie sind Praxen der Kontingenzbewältigung, temporäre und räumliche Handlungsoasen, die die religiö­sen, rituellen und institutionellen Gewißheiten abgelöst haben. Als Reflexionsmodi von Traditionen bilden sie eine Zwischenwelt zwischen Erde und Himmel, zwischen Obligationen und Optio­nen aus. Eine Zwischenwelt, die aus der Erledigung der großen gesellschaftlichen Institutionen resultiert, diese kompensiert und andauernd umgebaut, reguliert und dereguliert wird. In der Zwi­schenwelt residiert ein Zwischen-, ein Lochmensch (Berger & Ber­ger); ein Mensch, der wie in ein Transzendenzloch gefallen ist und sich nun, die Augen reibend, auf einer Art Zwischendeck wieder­findet. Christus, geheimnisvolle Sozialitäten, Mystik, Zen, Alan Watts und Rudolf Steiner, der Wassermann, New Age, Lichtadel, alles, was in der multikulturellen Multioptionsgesellschaft herbeiruf- und herbeizitierbar ist, wird zur kompensatorischen Aufhei­zung des Lochmenschen bemüht: Leichengewänder, die – in Umkehrung von Penelopes bekannter Verzögerungstaktik -H Nacht für Nacht genäht und untertags, untertrubeltags wieder aufgetrennt werden.

Das Steigerungs- und Teilhabeprogramm verheißt letztlich ho­mogene Verteilung, die Beseitigung letzter, das Teilhabepro­gramm erst in Gang setzender Differenzen, die Abkopplung der Erdenschwere des Menschen und der Planetenschwere des menschlichen Lebens. Solange wir Körper haben, wird das Leiden den Unterbau der Gesellschaft bilden, also befreien wir uns aus diesem Gefängnis. Und solange wir von diesem Planeten leben müssen, müssen wir mit seinen Ressourcen sorgfältig umgehen. Koppeln wir uns also vom Planeten ab! Der erste Satz, den Präsi­dent Clinton bei seiner Pressekonferenz zur Nomination zum Präsidentschaftskandidaten im Hotel Hilton in New York sinnge­mäß abgab, lautete, daß er eine Tochter habe und daß diese davon träume, Weltraumstationen zu bauen! Angesichts des Zustands vieler Weltstädte, zurzeit besonders und gerade Washingtons, kann man diese Exodus-Vorstellung nur zu gut verstehen. Und angesichts der bedrohlichen Überalterung der entwickelten Ge­sellschaften auch die Hoffnung auf einen kollektiven Auszug aus dem plagenden Körper.

Es ist die Technik, die solche Fluchtwege anbietet. In ihr bün­deln sich die Energien der Moderne. Nicht mehr Platons Politeia, nicht mehr Campanellas der Lobpreisung Gottes dienender Son­nenstaat, sondern Bacons Neu Atlantis und Jules Vernes technophobe Romane geben den Ton an. Mit Hilfe der Technik werden uns im interplanetarischen Exodus, für den in Kalifornien im Bio­sphärenzelt geübt wird, die irdischen Sorgen abgenommen. Welt­raum heißt der sechste Kontinent. Die Erde wird sukzessive zur Bronx, zu einer Sträflingsinsel, einem Planeten der Rest- und Randkategorien des Sozialen. Immer mehr Städte, jetzt noch in den USA, werden inmitten affluenter Multioptionsgesellschaften Alpträume; Detroit, Los Angeles usf. Schon wird die Pufferregion zwischen den Nachfahren des Sowjetimperiums und den europäi­schen Staaten als »mitteleuropäische Bronx« gebrandmarkt. Die schöne Neue Welt ist nicht im transzendentalen, sondern im phy­sikalischen Jenseits der Schwerkraft. Nicht genug damit. Zwar arbeitet die Robotik, wie wir es von der Eidgenössischen Techni­schen Hochschule hören, an automatischen Tischtennisspielern, vielleicht auch an künstlichen Heeren. Mit Cyberspace müssen wir nicht mehr zu den Welten hin, sondern diese werden vor uns aufgefahren. Robotik und Simulation sind aber, gegenüber den -invasiven«, die Körperlichkeit substituierenden oder eliminierenden Techniken gleichsam Freilufthanswurstiaden. Flusser, der kürzlich verstorbene Kommunikationsphilosoph, hat benannt, was das Problem ist, bei dessen Eliminierung fast alle Probleme, mit denen wir kämpfen, eliminiert wären: unser Säugetierleib. Alle körperliche Behinderung wird durch die Abschaffung des Körpers erledigt. Die Perfektion des Menschen steht noch am Anfang, aber immer mehr Energie wird daraufhin umgelenkt (vgl. Paepke 1994). Mit der Erlösung vom Körper wäre die finale Teil­habe aller an allen und allem erreicht, die Unterschiede zwischen (Größen, Alter, Rassen, Geschlechtern, Verwandtschaftssystemen, Nationen, was man immer will, sind den auf Maschinen (in einem weltumspannenden Interface) kopierten Geistern zumin­dest nicht anzusehen.

Aber zunächst noch schafft jede Realisierung neue Möglichkei­ten, jede neue Möglichkeit schafft neue Differenzen und jede Diffe­renzbildung ruft nach Differenzminderung: jedes Buch, jede neue Mode, jeder neue Zeitgeist, die neue Racketbespannung, die neue Swatch-Kollektion, der neue Handke, der neue Sloterdijk, der neue Beck, auch wenn er vor dem Neuen warnt und gleichzeitig mit ihm lockt. Jede Horizontergreifung läßt den Blick zu neuen Hori­zonten schweifen. Das unendliche Begehren nach Mehr ist in den finalen technischen Realisierungen auf absehbare oder unabseh­bare Zeit nur für wenige erreichbar. Ein Tunnel wird vorangetrie­ben, an dessen Spitze ein Fingerhut voll Menschen Platz hat, ein Lift wird konstruiert, der mit ein paar Astronauten in die Galaxis katapultiert wird. Gleichzeitig aber werden in den weltumspan­nenden medialen und insbesondere telematischen Parallelwelten die phantastischsten technischen Möglichkeiten aufgeblendet. Alle in der Phantasie freigesetzten Seligkeiten erscheinen an irgend­einem Punkt der Welt realisiert und damit prinzipiell realisierbar. Eine nichtrepressive, sondern offensive Entsublimierung durch­bricht jede Art von dualistischer Ontologie und scheint früher oder später alles allen verfügbar zu machen.

Das Fallen der im Transzendenten wie in einer Wolke ver­schwindenden, in diesem Leben nicht erreichbaren Himmelsleiter auf den Boden, die daraus resultierende Einflächung, Zweidimensionalisierung, läßt die ins Horizontale geklappten Klüfte mit Kraft und Technik und nicht mehr durch Gebete überbrückbar erscheinen. Der christliche Futurismus hat jegliche Hoffnung ver­worfen, die sich im Gegebenen erfüllen wollte; ja er hat aus dieser Vergeblichkeit die Sehnsucht nach dem anderen und letzten, nach dem Jüngsten Gericht und der ewigen Seligkeit gesteigert (Kohler 1992). Nun tritt an die Stelle der jüdisch-christlichen Heilserwar­tung das irdische Welt- und Menschenverbesserungsbedürfnis. Die Gegenwart wird unausschöpfbarer Grund menschlicher Machseligkeit. Das Begehren läuft angesichts des Zustands der Gegenwart, entgegen den beruhigenden Annahmen französischer Postmodernisten (z.B. Baudrillard), nicht leer. Im Gegenteil: Eine Sättigung der Konsumtion, der Information, der politi­schen Transformation und damit der Produktion und Innovation kann nie erfolgen. Im Namen der Steigerungs- und Inklusionspro­gramme wird alles orgiastischer. Eine entsperrte, obsessive Phan­tasie fließt, strömt ohne Zähmung von oben nach unten, vom Kopf in die Füße und setzt diese in Bewegung, implosionsartig, tagtäg­lich, stündlich, sekündlich in Abermillionen von Leibern. Der letzte Ureinwohner wird mit dem Kopf in Optionen getaucht. Das ist die Taufe der Multioptionsgesellschaft! Nicht nur Methangas wird in den Mägen der Menschen freigesetzt – ein trotz des Ernstes der Lage kurioses Bild – und führt mit zur Beeinträchtigung der Atmosphäre. Nein, konstruktive und destruktive Energie drängt mit jeder aufgenommenen und verdauten telematischen Nahrung in die Welt und preßt sie nach vorne. Und nicht nur die Atmo­sphäre wird beeinträchtigt, sondern die Lebenssphäre insge­samt.

Peter Gross, Die Multioptionsgesellschaft, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1994, S. 367-377.

Hier der Text als pdf.

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