Sibylle Lewitscharoff im Interview mit Andreas Öhler vom Januar 2022: „Immer öfter befällt mich der Gedanke: Reicht es jetzt nicht endlich? Da mir aber die Mittelchen, die einen Tod herbeiführen, nicht zur Verfügung stehen, erübrigt sich erst einmal die Frage.“

Sibylle Lewitscharoff im Interview mit Andreas Öhler vom Januar 2022

Lewitscharoff: Multiple Sklerose ist eine böse Schleichkatze. Sie inszeniert keinen Theaterdonner wie eine Migräne.

ZEIT Sinn: Wann haben Sie denn die Diagnose bekommen?

Lewitscharoff: Vor ungefähr zwölf Jahren.

ZEIT Sinn: Was ging in Ihnen vor, als Sie erfuhren, dass Sie daran erkrankt sind? Können Sie sich noch an den Moment erinnern?

Lewitscharoff: Na klar. Zunächst habe ich es heftigst bestritten, weil ich zwei Damen kannte, die daran erkrankt waren und die ich beide furchtbar egoistisch fand. Für mich waren sie Zerrbilder des weiblichen Egoismus und ein abschreckendes Beispiel, wie man mit einem eigenen Leiden nicht umgehen darf.

ZEIT Sinn: Der Krankheit sagt man nach, dass sie den Charakter verändert.

Lewitscharoff: Das kann ich bei mir nicht feststellen. Jeder, der mich gut kennt, würde sagen, dass ich mir keine Sonderbosheiten erlaube. Früher war ich viel schärfer und angriffslustiger als heute. Ich mache meine Krankheit im Alltag auch nicht zum Thema. Aber wenn ich mit ihr alleine bin, ist sie in schlechten Phasen schon eine schwere Bürde. In solchen Momenten wünsche ich mich mittlerweile ins Grab. Immer öfter befällt mich der Gedanke: Reicht es jetzt nicht endlich? Da mir aber die Mittelchen, die einen Tod herbeiführen, nicht zur Verfügung stehen, erübrigt sich erst einmal die Frage. Aber die Idee eines selbstbestimmten Sterbens hat mich schon ziemlich am Wickel. Einfach, weil die Krankheit mir in manchen Situationen so sehr alles nimmt.

ZEIT Sinn: Denken Sie da auch an eine Freitodbegleitung nach dem Schweizer Modell?

Lewitscharoff: Durchaus. Aber ich finde es töricht, mich irgendwohin karren zu lassen. Früher habe ich übrigens über die Sterbehilfe ganz anders gedacht, als ich es heute tue. Ich bin inzwischen dafür, dass man bei schwerer, unheilbarer Krankheit legal an die entsprechenden Mittel herankommen sollte. Vor zehn Jahren hätte ich noch anders geredet. Für mich wäre es eine Befreiung, wenn ich wüsste: Falls ich es wirklich will, kann ich am Ende die tödliche Arznei ohne Weiteres bekommen. Dann würde ich nicht mehr so in Panik verfallen, was den eigenen Verfall anbetrifft. Ich sage das vor dem Eindruck, dass die Medizinforschung immer neue lebensverlängernde Produkte entwickelt, die ein Leiden in der Endphase noch weiter in die Länge ziehen können.

Quelle: DIE ZEIT – Christ & Welt, Nr. 4, 20. Januar 2022, S. 1

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