Hans Jonas, Warum die moderne Technik ein Gegenstand für die Ethik ist: „Mit jedem neuen Schritt (= »Fortschritt«) der Großtechnik setzen wir uns schon unter den Zwang zum nächsten und vermachen denselben Zwang der Nachwelt, die schließlich die Rech­nung zu zahlen hat. Aber auch ohne diese Fernsicht stellt schon das tyrannische Element als solches in der heutigen Technik, das unsere Werke zu unseren Herren macht und uns sogar zwingt, sie weiter zu vervielfachen, eine ethische Herausforderung an sich dar – jenseits der Frage, wie gut oder schlecht jene Werke im einzelnen sind.“

Warum die moderne Technik ein Gegenstand für die Ethik ist

Von Hans Jonas

Daß, ganz allgemein gesprochen, die Ethik in Angelegenhei­ten der Technik etwas zu sagen hat, oder daß Technik ethischen Erwägungen unterliegt, folgt aus der einfachen Tatsache, daß die Technik eine Ausübung menschlicher Macht ist, d. h. eine Form des Handelns, und alles mensch­liche Handeln moralischer Prüfung ausgesetzt ist. Es ist ebenso eine Binsenwahrheit, daß ein und dieselbe Macht sich zum Guten wie zum Bösen benutzen läßt und man bei ihrer Ausübung ethische Normen beachten oder verletzen kann. Die Technik, als enorm gesteigerte menschliche Macht, fällt eindeutig unter diese generelle Wahrheit. Aber bildet sie einen besonderen Fall, der eine Bemühung des ethischen Denkens erfordert, die verschieden ist von der, die sich für jede menschliche Handlung schickt und für alle ihre Arten in der Vergangenheit ausreichte? Meine These ist, daß die moderne Technik in der Tat einen neuen und besonderen Fall bildet, und von den Gründen dafür möchte ich fünf anführen, die mich besonders beeindrucken.

1. Ambivalenz der Wirkungen

Im allgemeinen ist jede Fähigkeit »als solche« oder »an sich« gut und wird nur durch Mißbrauch schlecht. Zum Beispiel ist es unleugbar gut, die Macht der Rede zu besitzen, aber schlecht, sie dafür zu benutzen, andere zu täuschen oder zu ihrem Verderben zu verführen. Daher ist es völlig sinnvoll zu gebieten: Gebrauche diese Macht, vergrößere sie, aber mißbrauche sie nicht. Vorausgesetzt ist dabei, daß die Ethik klar zwischen den beiden unterscheiden kann, zwischen dem richtigen und dem falschen Gebrauch ein und derselben Fähigkeit. Aber wie steht es, wenn wir uns in einem Handlungszusammenhang bewegen, in dem jeder Gebrauch der Fähigkeit im großen, sei er in noch so guter Absicht unternommen, einen Richtungssinn mit sich steigernden letztlich schlechten Wirkungen mit sich führt, die untrenn­bar mit den beabsichtigten und nächstliegenden »guten« Wirkungen verbunden sind und diese am Ende vielleicht weit übertreffen? Wenn das der Fall der modernen Technik sein sollte – wie wir guten Grund haben anzunehmen -, dann ist die Frage des moralischen oder unmoralischen Gebrauchs ihrer Mächte nicht mehr eine Angelegenheit selbstevidenter, qualitativer Unterscheidungen und nicht einmal Sache der Absichten, sondern verliert sich im Irrgar­ten quantitativer Mutmaßungen über letzte Folgen und muß ihre Antwort von ihrem Ungefähr abhängig machen. Die Schwierigkeit ist die: Nicht nur wenn die Technik böswillig, d. h. für böse Zwecke, mißbraucht wird, sondern selbst, wenn sie gutwillig für ihre eigentlichen und höchst legitimen Zwecke eingesetzt wird, hat sie eine bedrohliche Seite an sich, die langfristig das letzte Wort haben könnte. Und Langfristigkeit ist irgendwie ins technische Tun eingebaut. Durch ihre innere Dynamik, die sie so vorantreibt, wird der Technik der Freiraum ethischer Neutralität versagt, in dem man sich nur um Leistungsfähigkeit zu kümmern braucht. Das Risiko des »Zuviel« ist immer gegenwärtig in dem Umstand, daß der angeborene Keim des »Schlechten«, d. h. Schädlichen, gerade durch das Vorantreiben des »Guten«, d. h. Nützlichen, mitgenährt und zur Reife gebracht wird. Die Gefahr liegt mehr im Erfolg als im Versagen – und doch ist der Erfolg nötig unter dem Druck der menschlichen Bedürfnisse. Eine angemessene Ethik der Technik muß sich auf diese innere Mehrdeutigkeit des technischen Tuns ein­lassen.

2. Zwangsläufigkeit der Anwendung

Im allgemeinen bedeutet Besitz einer Fähigkeit oder Macht (bei Individuen oder Gruppen) noch nicht ihren Gebrauch. Sie kann beliebig lange ruhen, gebrauchsbereit, um bei Gelegenheit und auf Wunsch und nach Ermessen des Subjekts in Tätigkeit zu treten. Der Sprachbegabte braucht nicht unaufhörlich zu sprechen und kann sogar im ganzen schweig­sam sein. Auch jedes Wissen, so scheint es, kann sich seine Anwendung vorbehalten. Dies so einleuchtende Verhältnis von Können und Tun, Wissen und Anwendung, Besitz und Ausübung einer Macht gilt jedoch nicht für den Fundus technischer Vermögen einer Gesellschaft, die wie die unsrige ihre ganze Lebensgestaltung in Arbeit und Muße auf die laufende Aktualisierung ihres technischen Potentials im Zusammenspiel aller seiner Teile gegründet hat. Da gleicht die Sache eher dem Verhältnis des Atmenkönnens und Atmenmüssens als dem des Redenkönnens und Redens. Und was für den gerade vorhandenen Fundus gilt, erstreckt sich auch auf jeden Zuwachs zu ihm: Ist diese oder jene neue Möglichkeit erst einmal (meist durch die Wissenschaft) eröffnet und durch Tun im kleinen entwickelt worden, so hat sie es an sich, ihre Anwendung im großen und immer größeren zu erzwingen und diese Anwendung zu einem dauernden Lebensbedürfnis zu machen. So wird der Technik, die gesteigerte menschliche Macht in permanenter Tätigkeit ist, nicht nur (wie oben gezeigt) die Freistatt ethischer Neutralität, sondern auch die wohltätige Trennung zwischen Besitz und Ausübung der Macht versagt. Die Ausbildung neuer Könnensarten, die ständig erfolgt, geht hier stetig über in ihre Ausbreitung im Blutstrom kollektiven Handelns, aus dem sie dann nicht mehr auszuscheiden sind (es sei denn durch überlegenen Ersatz). Daher trägt hier bereits die Aneignung neuer Fähigkeiten, jede Hinzufügung zum Arsenal der Mittel, mit dieser sattsam bekannten Dynamik vor Augen eine ethische Bürde, die sonst nur auf den einzelnen Fällen ihrer Anwendung lasten würde.

3. Globale Ausmaße in Raum und Zeit

Darüber hinaus gibt es einen Aspekt schierer Größe von Handlung und Wirkung, der moralische Bedeutsamkeit gewinnt. Das Ausmaß und der Wirkungsbereich der moder­nen technischen Praxis als ganzer und in jedem ihrer ein­zelnen Unternehmungen sind so, daß sie eine ganze zusätzli­che und neuartige Dimension in den Rahmen ethischer Rechenwerte einbringen, die allen früheren Handlungsarten unbekannt war. Wir sprachen zuvor von einer Situation, in der »jeder Gebrauch einer Fähigkeit im großen« einen Richtungssinn sich steigernder und schließlich schlechter Wirkungen mit sich führt. Wir müssen jetzt hinzufügen, daß heute jede Anwendung einer technischen Fähigkeit durch die Gesellschaft (der einzelne zählt hier nicht mehr) dazu neigt, ins »Große« zu wachsen. Die moderne Technik ist zuinnerst auf Großgebrauch angelegt und wird darin viel­leicht zu groß für die Größe der Bühne, auf der sie sich abspielt – die Erde – und für das Wohl der Akteure selbst – die Menschen. Soviel ist gewiß: Sie und ihre Werke breiten sich über den Erdball aus; ihre kumulativen Wirkungen erstrecken sich möglicherweise über zahllose künftige Geschlechter. Mit dem, was wir hier und jetzt tun, und meist mit Blick auf uns selbst, beeinflussen wir massiv das Leben von Millionen andernorts und künftig, die hierbei keine Stimme hatten. Wir legen Hypotheken auf künftiges Leben für gegenwärtige kurzfristige Vorteile und Bedürfnisse – und was das betrifft, für meist selbsterzeugte Bedürfnisse. Viel­leicht können wir nicht ganz vermeiden, so oder ähnlich zu handeln. Aber wenn das der Fall ist, dann müssen wir äußerste Achtsamkeit aufwenden, dies in Fairneß zu unserer Nachkommenschaft zu tun – nämlich so, daß deren Chance, mit jener Hypothek fertig zu werden, nicht im voraus kompromittiert worden ist. Der springende Punkt hier ist, daß das Eindringen ferner, zukünftiger und globaler Dimen­sionen in unsere alltäglichen, weltlich-praktischen Entscheidungen ein ethisches Novum ist, das die Technik uns aufgeladen hat; und die ethische Kategorie, die vorzüglich durch diese neue Tatsache auf den Plan gerufen wird, heißt: Verantwortung. Daß diese wie nie zuvor in den Mittelpunkt der ethischen Bühne rückt, eröffnet ein neues Kapitel in der Geschichte der Ethik, das die neuen Größenordnungen der Macht spiegelt, denen die Ethik von nun an Rechnung tragen muß. Die Anforderungen an die Verantwortlichkeit wachsen proportional zu den Taten der Macht.

4. Durchbrechung der Anthropozentrik

Indem sie den Horizont raumzeitlicher Nachbarschaft über­schreitet, bricht jene erweiterte Reichweite der menschlichen Macht das anthropozentrische Monopol der meisten frühe­ren ethischen Systeme, seien diese nun religiös oder säkular. Immer war es das menschliche Gut, das gefördert werden sollte, die Interessen und Rechte von Mitmenschen, die zu respektieren waren, ihnen geschehenes Unrecht, das gutzu­machen war, ihre Leiden, die gelindert werden sollten. Gegenstand menschlicher Pflicht waren Menschen, äußer­stenfalls: die Menschheit, und sonst nichts auf dieser Erde. (Gewöhnlich war der ethische Horizont viel enger gezogen, wie etwa in »Liebe deinen Nächsten«.) Nichts von dem verliert seine bindende Kraft. Aber jetzt beansprucht die gesamte Biosphäre des Planeten mit all ihrer Fülle von Arten, in ihrer neu enthüllten Verletzlichkeit gegenüber den exzessiven Eingriffen des Menschen, ihren Anteil an der Achtung, die allem gebührt, das seinen Zweck in sich selbst trägt – d. h. allem Lebendigen. Das Alleinrecht des Men­schen auf menschliche Rücksicht und sittliche Beachtung ist genau mit seinem Gewinn einer fast monopolistischen Macht über alles andere Leben durchbrochen worden. Als eine planetarische Macht ersten Ranges darf er nicht mehr nur an sich selbst denken. Zwar drückt das Gebot, unseren Nachkommen kein verödetes Erbteil zu hinterlassen, diese Erweiterung des ethischen Blickfeldes immer noch im Sinne einer menschlichen Pflicht gegenüber Menschen aus – als Einschärfung einer interhumanen Solidarität des Überlebens und des Nutzens, der Neugier, des Genießens und Erstau­nens. Denn verarmtes außermenschliches Leben, verarmte Natur, bedeutet auch ein verarmtes menschliches Leben. Aber recht verstanden reicht die Einbeziehung der Existenz der Fülle als solcher in das menschliche Gute und damit der Einschluß ihrer Erhaltung in des Menschen Pflicht über den nutzenorientierten und jeden anthropozentrischen Blick­punkt hinaus. Die erweiterte Sicht verbündet das menschli­che Gute mit der Sache des Lebens im ganzen, anstatt jenes diesem feindlich gegenüberzustellen, und gewährt dem außermenschlichen Leben sein eigenes Recht. Seine Aner­kennung bedeutet, daß jede willkürliche und unnötige Auslöschung von Arten an sich schon zum Verbrechen wird, ganz abgesehen von den gleichlautenden Ratschlägen des verständigen Selbstinteresses; und es wird zur transzenden­ten Pflicht des Menschen, die am wenigsten wiederherstell­bare, unersetzbarste aller »Ressourcen« zu schützen – den unglaublich reichen Genpool, der von Äonen der Evolution hinterlegt worden ist. Es ist das Übermaß an Macht, das dem Menschen diese Pflicht auferlegt; und gerade gegen diese Macht – also gegen ihn selbst – ist sein Schutz erforderlich. So kommt es, daß die Technik, dies kühl pragmatische Werk menschlicher List, den Menschen in eine Rolle einsetzt, die nur die Religion ihm manchmal zugesprochen hatte: die eines Verwalters oder Wächters der Schöpfung. Indem die Technik seine Wirkungsgewalt bis zu dem Punkte vergrö­ßert, wo sie fühlbar gefährlich wird für den Gesamthaushalt der Dinge, dehnt sie des Menschen Verantwortung auf die Zukunft des Lebens auf Erden aus, das nunmehr wehrlos dem Mißbrauch dieser Gewalt ausgesetzt ist. Die menschli­che Verantwortung wird damit zum erstenmal kosmisch (denn wir wissen nicht, ob das Weltall sonst noch ein Gleiches hervorgebracht hat). Die beginnende Umweltethik, die wahrhaft präzedenzlos sich unter uns regt, ist der noch zögernde Ausdruck dieser präzedenzlosen Ausdehnung unserer Verantwortung, die ihrerseits der präzedenzlosen Ausdehnung der Reichweite unserer Taten entspricht. Es bedurfte der sichtbar werdenden Bedrohung des Ganzen, der tatsächlichen Anfänge seiner Zerstörung, um uns dazu zu bringen, unsere Solidarität mit ihm zu entdecken (oder wiederzuentdecken): ein beschämender Gedanke.

5. Die Aufwerfung der metaphysischen Frage

Schließlich stellt das apokalyptische Potential der Technik – ihre Fähigkeit, den Fortbestand der Menschengattung zu gefährden oder deren genetische Unversehrtheit zu verder­ben oder sie willkürlich zu ändern oder gar die Bedingungen höheren Lebens auf der Erde zu zerstören – die metaphy­sische Frage, mit der die Ethik nie zuvor konfrontiert war, nämlich, ob und warum es eine Menschheit geben soll; warum daher der Mensch so, wie ihn die Evolution hervor­gebracht hat, erhalten bleiben, sein genetisches Erbe respek­tiert werden soll; ja, warum es überhaupt Leben geben soll. Die Frage ist nicht so müßig, wie sie (mangels eines ernsthaften Verneiners all dieser Imperative) erscheint, denn die Antwort darauf ist bedeutsam dafür, wieviel wir erlaub­terweise in unseren großen technischen Wetten riskieren dürfen und welche Risiken gänzlich unzulässig sind. Wenn es ein kategorischer Imperativ für die Menschheit ist zu existieren, dann ist jedes selbstmörderische Spielen mit dieser Existenz kategorisch verboten, und technische Wag­nisse, bei denen auch nur im entferntesten dies der Einsatz ist, sind von vornherein auszuschließen.

Dies also sind einige Gründe, warum die Technik ein neuer und besonderer Fall für ethische Erwägungen ist, ja dafür, bis in die Grundlagen der Ethik überhaupt hinabzusteigen. Besonders hinzuweisen ist dabei auf das Zusammen­spiel der Gründe i und 3, der Argumente der »Ambivalenz« und der »Größe«. Auf den ersten Blick erscheint es leicht, zwischen wohltätiger und schädlicher Technik zu unter­scheiden, indem man einfach auf die Verwendungszwecke der Werkzeuge blickt. Pflugscharen sind gut, Schwerter sind schlecht. Im messianischen Zeitalter werden Schwerter in Pflugscharen umgeschmiedet werden. In moderne Technolo­gie übersetzt: Atombomben sind schlecht, chemische Dün­ger, die die Menschheit zu ernähren helfen, sind gut. Aber hier springt das vexierende Dilemma der modernen Technik in die Augen. Ihre »Pflugscharen« können auf lange Frist ebenso schädlich sein wie ihre »Schwerter«! (Und die »lange Frist« anwachsender Wirkungen ist, wie erwähnt, zuinnerst mit der Verwendung moderner Technik verbunden.) In dem Falle sind aber sie, die segensreichen »Pflugscharen« und ihresgleichen, das eigentliche Problem. Denn wir können das Schwert in seiner Scheide lassen, aber nicht die Pflug­schar in ihrer Scheuer. Ein totaler Atomkrieg wäre in der Tat apokalyptisch auf einen Schlag; aber obwohl er jederzeit eintreten kann und der Alptraum dieser Möglichkeit alle unsere künftigen Tage verdunkeln mag, braucht er nicht einzutreten, denn hier findet sich noch der rettende Abstand zwischen Potentialität und Aktualität, zwischen dem Besitz des Werkzeuges und seinem Gebrauch – und dies gibt uns Hoffnung, daß der Gebrauch vermieden wird (was hier in der Tat der paradoxe Zweck seines Besitzes ist). Aber es gibt unzählige andere, gänzlich gewaltlose Dinge, die ihre eigene apokalyptische Drohung enthalten und die wir einfach jetzt und fernerhin tun müssen, um uns überhaupt über Wasser zu halten. Während der böse Bruder Kain – die Bombe – angebunden in seiner Höhle liegt, fährt der gute Bruder Abel – der friedliche Reaktor – ganz undramatisch fort, sein Gift für künftige Jahrtausende abzulagern. Selbst da können wir vielleicht rechtzeitig weniger gefährliche Alternativen fin­den, um den wachsenden Energiedurst einer globalen Zivili- sation zu löschen, die dem Schwinden konventioneller Quellen entgegensieht – wenn Glück mit unserer ernsthaften Bemühung einhergeht. Wir könnten sogar erreichen, das Ausmaß der Gefräßigkeit selbst herabzusetzen und dazu zurückzukehren, mit weniger auszukommen, ehe eine kata­strophale Erschöpfung oder Verschmutzung des Planeten uns zu Schlimmerem als Enthaltsamkeit zwingt. Aber es ist (z. B.) ethisch undenkbar, daß die biomedizinische Technik davon abläßt, die Kindersterblichkeit in »unterentwickel­ten« Ländern mit hohen Geburtsraten herabzusetzen, selbst wenn das Elend in der Folge der Überbevölkerung noch schrecklicher sein könnte. Beliebig viele andere, ursprüng­lich segensreiche Wagnisse der Großtechnologie könnten angeführt werden, um die Dialektik, die Zweischneidigkeit der meisten dieser Wagnisse zu illustrieren. Der Hauptpunkt ist, daß gerade die Segnungen der Technik, je mehr wir auf sie angewiesen sind, die Drohung enthalten, sich in einen Fluch zu verwandeln. Ihre angestammte Neigung zur Maß­losigkeit macht die Drohung akut. Und es ist klar, daß die Menschheit viel zu zahlreich geworden ist – dank derselben Segnungen der Technik um noch frei zu sein, zu einer früheren Phase zurückzukehren. Sie kann nur nach vorwärts gehen und muß aus der Technik selbst, mit einer Dosis mäßigender Moral, die Heilmittel für ihre Krankheit gewin­nen. Dies ist der Angelpunkt einer Ethik der Technik.

Diese kurzen Reflexionen sollten zeigen, wie eng die »Ambivalenz« der Technik mit ihrer »Größe« verbunden ist, d. h. mit dem Übermaß ihrer Wirkungen in Raum und Zeit. Was »groß« und was »klein« ist, bestimmt sich durch die Endlichkeit unseres terrestrischen Schauplatzes – ein Gege­benes, das wir nie aus dem Auge verlieren dürfen. Genaue Grenzwerte der Toleranzen sind für keine der vielen Rich­tungen bekannt, in die des Menschen Expansionismus vorstößt. Aber man weiß genug, um behaupten zu können, daß einige unserer technischen Handlungsketten – darunter lebenswichtige – wenigstens die Größenordnung erreicht haben, in der jene Grenzwerte liegen, und daß andere sich ihnen dort zugesellen werden, wenn man ein weiteres Wachstum im gegenwärtigen Tempo zuläßt. Die Zeichen warnen, daß wir uns in der Gefahrenzone befinden. Ist erst einmal eine »kritische Masse« in der einen oder anderen Richtung erreicht, dann kann die Sache uns davonrennen: Eine positive Rückkoppelung könnte einsetzen und einen exponentiellen Prozeß auslösen, in dem die Kosten den Nutzen in einem steigenden und vielleicht unumkehrbaren Crescendo verschlingen. Eben dies muß die langfristige Verantwortung zu verhindern suchen. Da aber die glänzende Seite der technischen Errungenschaften das Auge blendet und nahe Gewinne das Urteil bestechen und die sehr realen Bedürfnisse der Gegenwart (ganz zu schweigen von ihren Süchten) nach Priorität schreien, werden die Ansprüche der Nachwelt, die jener Verantwortung anvertraut sind, einen schweren Stand haben.

Im eben Gesagten ist neben der Größenordnung und Ambivalenz noch ein weiterer Charakterzug des technologi­schen Syndroms sichtbar geworden, der von eigener ethi­scher Bedeutsamkeit ist: Das quasi-zwanghafte Element in seinem Voranschreiten, das sozusagen unsere eigenen Weisen der Macht zu einer Art selbsttätiger Kraft hypostasiert, der wir, ihre Ausüber, paradox untertan werden. Die Beein­trächtigung menschlicher Freiheit durch die Verdinglichung ihrer eigenen Taten hat es zwar immer gegeben, in individu­ellen Lebensläufen wie vor allem in kollektiver Geschichte. Die Menschheit ist von jeher zum Teil durch ihre eigene Vergangenheit bestimmt gewesen, aber dies hatte sich im allgemeinen mehr im Sinne einer bremsenden als einer bewegenden Kraft ausgewirkt: Die Macht der Vergangenheit war eher die der Trägheit (»Tradition«) als die des Vorantrei­bens. Schöpfungen der Technik jedoch wirken genau im letzteren Sinne und geben damit der vielverschlungenen Geschichte menschlicher Freiheit und Abhängigkeit eine neuartige und folgenträchtige Wendung. Mit jedem neuen Schritt (= »Fortschritt«) der Großtechnik setzen wir uns schon unter den Zwang zum nächsten und vermachen denselben Zwang der Nachwelt, die schließlich die Rech­nung zu zahlen hat. Aber auch ohne diese Fernsicht stellt schon das tyrannische Element als solches in der heutigen Technik, das unsere Werke zu unseren Herren macht und uns sogar zwingt, sie weiter zu vervielfachen, eine ethische Herausforderung an sich dar – jenseits der Frage, wie gut oder schlecht jene Werke im einzelnen sind. Um der menschlichen Autonomie willen, der Würde, die verlangt, daß wir uns selbst besitzen und uns nicht von unserer Maschine besitzen lassen, müssen wir den technologischen Galopp unter außertechnologische Kontrolle bringen.

Quelle: Hans Jonas, Technik, Medizin und Ethik. Zur Praxis des Prinzips Verantwortung, Frankfurt am Main: Insel Verlag 1985, S. 42-52.

Hier der Text als pdf.

Kommentar verfassen

Trage deine Daten unten ein oder klicke ein Icon um dich einzuloggen:

WordPress.com-Logo

Du kommentierst mit deinem WordPress.com-Konto. Abmelden /  Ändern )

Facebook-Foto

Du kommentierst mit deinem Facebook-Konto. Abmelden /  Ändern )

Verbinde mit %s