Hans Jonas, Vorwort zu Das Prinzip Verantwortung (1979): „Der endgültig entfesselte Prometheus, dem die Wissenschaft nie gekannte Kräfte und die Wirtschaft den rastlosen Antrieb gibt, ruft nach einer Ethik, die durch freiwillige Zügel seine Macht da­vor zurückhält, dem Menschen zum Unheil zu werden. Dass die Verheißung der modernen Technik in Drohung umgeschlagen ist, oder diese sich mit jener unlösbar verbun­den hat, bildet die Aus­gangsthese des Buches. Sie geht über die Feststellung physischer Be­drohung hinaus. Die dem Menschenglück zugedachte Unterwer­fung der Natur hat im Übermaß ihres Erfolges zur größten Heraus­forderung geführt, die je dem menschlichen Sein aus eigenem Tun erwachsen ist.“

Vorwort zu Das Prinzip Verantwortung

Von Hans Jonas

Der endgültig entfesselte Prometheus, dem die Wissenschaft nie gekannte Kräfte und die Wirtschaft den rastlosen Antrieb gibt, ruft nach einer Ethik, die durch freiwillige Zügel seine Macht da­vor zurückhält, dem Menschen zum Unheil zu werden. Daß die Verheißung der modernen Technik in Drohung umgeschlagen ist, oder diese sich mit jener unlösbar verbun­den hat, bildet die Aus­gangsthese des Buches. Sie geht über die Feststellung physischer Be­drohung hinaus. Die dem Menschenglück zugedachte Unterwer­fung der Natur hat im Übermaß ihres Erfolges, der sich nun auch auf die Natur des Menschen selbst erstreckt, zur größten Heraus­forderung geführt, die je dem menschlichen Sein aus eigenem Tun erwachsen ist. Alles daran ist neuartig, dem Bisherigen un­ähnlich, der Art wie der Größenordnung nach: Was der Mensch heute tun kann und dann, in der unwiderstehlichen Ausübung dieses Könnens, weiterhin zu tun gezwungen ist, das hat nicht sei­nesgleichen in vergangener Erfahrung. Auf sie war alle bisherige Weisheit über rechtes Verhalten zugeschnitten. Keine überlieferte Ethik belehrt uns daher über die Normen von »Gut« und »Böse«, denen die ganz neuen Modalitäten der Macht und ihrer mög­lichen Schöpfungen zu unterstellen sind. Das Neuland kollektiver Praxis, das wir mit der Hochtechnologie betreten haben, ist für die ethische Theorie noch ein Niemandsland.

In diesem Vakuum (das zugleich auch das Vakuum des heuti­gen Wertrelativismus ist) nimmt die hier vorgelegte Untersuchung ihren Stand. Was kann als Kompaß dienen? Die vorausgedachte Gefahr selber! In ihrem Wetterleuchten aus der Zukunft, im Vor­schein ihres planetarischen Umfanges und ihres humanen Tief­ganges, werden allererst die ethischen Prinzipien entdeckbar, aus denen sich die neuen Pflichten neuer Macht herleiten lassen.

Dies nenne ich die »Heuristik der Furcht«: Erst die vorausgese­hene Verzerrung des Menschen verhilft uns zu dem davor zu be­wahrenden Begriff des Menschen. Wir wissen erst, was auf dem Spiele steht, wenn wir wissen, daß es auf dem Spiele steht. Da es dabei nicht nur um das Menschenlos, sondern auch um das Menschenbild geht, nicht nur um physisches Überleben, sondern auch um Unversehrtheit des Wesens, so muß die Ethik, die beides zu hüten hat, über die der Klugheit hinaus eine solche der Ehr­furcht sein.

Die Begründung einer solchen Ethik, die nicht mehr an den unmittelbar mitmenschlichen Bereich der Gleichzeitigen gebun­den bleibt, muß in die Metaphysik reichen, aus der allein sich die Frage stellen läßt, warum überhaupt Menschen in der Welt sein sollen: warum also der unbedingte Imperativ gilt, ihre Existenz für die Zukunft zu sichern. Das Abenteuer der Technologie zwingt mit seinen äußersten Wagnissen zu diesem Wagnis äußerster Be­sinnung. Eine solche Grundlegung wird hier versucht, entgegen dem positivistisch-analytischen Verzicht der zeitgenössischen Phi­losophie. Ontologisch werden die alten Fragen nach dem Verhält­nis von Sein und Sollen, Ursache und Zweck, Natur und Wert neu aufgerollt, um die neu erschienene Pflicht des Menschen jenseits des Wertsubjektivismus im Sein zu verankern.

Das eigentliche Thema jedoch ist diese neu hervorgetretene Pflicht selber, die im Begriff der Verantwortung zusammengefaßt ist. Gewiß kein neues Phänomen in der Sittlichkeit, hat die Ver­antwortung doch noch nie ein derartiges Objekt gehabt, auch bis­her die ethische Theorie wenig beschäftigt. Sowohl Wissen wie Macht waren zu begrenzt, um die entferntere Zukunft in die Vor­aussicht und gar den Erdkreis in das Bewußtsein der eigenen Kau­salität einzubeziehen. Statt des müßigen Erratens später Folgen im unbekannten Schicksal konzentrierte sich die Ethik auf die sittliche Qualität des augenblicklichen Aktes selber, in dem das Recht des mitlebenden Nächsten zu achten ist. Im Zeichen der Technologie aber hat es die Ethik mit Handlungen zu tun (wie­wohl nicht mehr des Einzelsubjekts), die eine beispiellose kausale Reichweite in die Zukunft haben, begleitet von einem Vorwissen, das ebenfalls, wie immer unvollständig, über alles ehemalige weit hinausgeht. Dazu die schiere Größenordnung der Fernwirkun­gen und oft auch ihre Unumkehrbarkeit. All dies rückt Verant­wortung ins Zentrum der Ethik, und zwar mit Zeit- und Raum­horizonten, die denen der Taten entsprechen. Demgemäß bildet die bis heute fehlende Theorie der Verantwortung die Mitte des Werkes.

Aus der erweiterten Zukunftsdimension heutiger Verantwor­tung ergibt sich das abschließende Thema: die Utopie. Die welt­weite technologische Fortschrittsdynamik birgt als solche einen impliziten Utopismus in sich, der Tendenz, wenn nicht dem Pro­gramm nach. Und die eine schon existierende Ethik mit globaler Zukunftssicht, der Marxismus, hat eben im Bunde mit der Tech­nik die Utopie zum ausdrücklichen Ziel erhoben. Dies nötigt zu einer eingehenden Kritik des utopischen Ideals. Da es älteste Menschheitsträume für sich hat und nun in der Technik auch die Mittel zu besitzen scheint, den Traum in ein Unternehmen umzusetzen, ist der vormals müßige Utopismus zur gefährlich­sten – gerade weil idealistischen – Versuchung der heutigen Mensch­heit geworden. Der Unbescheidenheit seiner Zielsetzung, die ökologisch ebenso wie anthropologisch fehlgeht (ersteres nach­weislich, letzteres philosophisch aufzeigbar), stellt das Prinzip Verantwortung die bescheidenere Aufgabe entgegen, welche Furcht und Ehrfurcht gebieten: dem Menschen in der verbleibenden Zweideutigkeit seiner Freiheit, die keine Änderung der Umstän­de je aufheben kann, die Unversehrtheit seiner Welt und seines Wesens gegen die Übergriffe seiner Macht zu bewahren.

Ein »Tractatus technologico-ethicus«, wie er hier versucht wird, stellt seine Anforderungen an Strenge, die den Leser nicht weniger als den Autor treffen. Was dem Thema einigermaßen ge­recht werden soll, muß dem Stahl und nicht der Watte gleichen. Von der Watte guter Gesin­nung und untadeliger Absicht, der Be­kundung, daß man auf seiten der Engel steht und gegen die Sün­de ist, für Gedeihen und gegen Verderben, gibt es in der ethischen Reflexion unserer Tage genug. Etwas härteres ist vonnöten und hier versucht. Die Absicht ist überall systema­tisch und nirgends homiletisch, und keine (zeitgemäße oder unzeitgemäße) Löblichkeit der Gesinnung kann philosophischen Unzulänglichkeiten des Gedankenganges zur Entschuldi­gung dienen. Das Ganze ist ein Argument, das durch die sechs Kapitel schrittweise – und, ich hoffe, dem Leser nicht zu mühselig – entwickelt wird. Nur eine Lücke im theoretischen Gang der Entwicklung ist mir selber bewußt: zwischen dem dritten und vierten Kapitel wurde eine Untersuchung über »Macht oder Ohnmacht der Subjektivität« fortgelassen, worin das psycho­physische Problem neu behandelt und der naturalistische Determinismus des Seelenlebens wider­legt wird. Obwohl systematisch notwendig (denn mit Determi­nismus keine Ethik, oder ohne Freiheit kein Sollen), wurde aus Gründen des Umfangs beschlossen, diese Abhandlung hier her­auszulösen und statt dessen später gesondert vorzulegen.

Dieselbe Erwägung führte auch dazu, einen der gesamten sy­stematischen Untersuchung angehängten »angewandten Teil«, welcher die neue Art von ethischen Fragen und Pflichten an einer Auswahl von jetzt schon konkreten Einzelthemen illustrieren soll, einer Sonderveröf­fentlichung binnen Jahresfrist vorzubehalten. Mehr als eine solche vorläufige Kasuistik kann gegenwärtig nicht versucht werden. Zu einer systematischen Pflichtenlehre (die schließlich anzustreben wäre) ist beim Werdestadium ihrer »Din­ge« noch nicht die Zeit.

Der Entschluß, nach Jahrzehnten fast ausschließlich engli­scher Autorschaft dies Buch auf deutsch zu schreiben, entsprang keinen sentimentalen Gründen, sondern allein der nüchternen Berechnung meines vorgerückten Alters. Da die gleichwertige Formulierung in der erworbe­nen Sprache mich immer noch zwei- bis dreimal so viel Zeit kostet wie die in der Muttersprache, so glaubte ich, sowohl der Grenzen des Lebens wie der Dringlich­keit des Gegenstandes wegen, nach den langen Jahren gedank­licher Vorarbeit für die Niederschrift den schnelleren Weg wäh­len zu sollen, der immer noch langsam genug war. Dem Leser wird es natürlich nicht entgehen, daß der Verfasser die deutsche Sprachentwicklung seit 1933 nicht mehr »mitbekommen« hat. Ein »archaisches« Deutsch ist ihm bei Vorträgen in Deutschland von Freundesseite nachgesagt worden; und was den vorliegenden Text betrifft, so nannte ein überaus wohlwollender Leser des Manuskripts (von bewiesener Stilkundigkeit) die Sprache sogar stellenweise »altfränkisch« – und riet mir, sie von anderer Hand modernisieren zu lassen. Aber dazu hätte ich mich selbst bei Ab­wesenheit des Zeitfaktors und Anwesenheit des idealen Bearbei­ters nicht bringen können. Denn wie ich mir bewußt bin, daß ich einem höchst zeitgemäßen Gegenstand mit einer durchaus nicht zeitgemäßen, fast schon archaischen Philosophie zu Leibe gehe, so scheint es mir nicht unangemessen, daß eine ähnliche Spannung sich auch im Stile ausdrücke.

Durch die Jahre des Werdegangs dieses Buches wurde man­ches aus verschiedenen Kapiteln schon in Aufsatzform in Ame­rika veröffentlicht. Nämlich: (aus Kapitel 1) »Technology and Responsibility: Reflections on the New Tasks of Ethics«, Social Research 40/1, 1973; (aus Kapitel 2) »Responsibility Today: The Ethics of an Endangered Future«, ibid. 43/1,1976; (aus Kapitel 4) »The Concept of Responsibility: An Inquiry into the Foundations of an Ethics for our Age«, in Knowledge, Value, and Belief, ed. H. T. Engelhardt & D. Callahan, Hastings-on-Hudson, N.Y. 1977. Ich danke den betr. Publikationsorganen für ihre Erlaubnis zum jetzigen und von Anfang an vorgesehenen Gebrauch.

Dank sei hier zuletzt auch Personen und Institutionen ausge­sprochen, die das Werden dieses Werkes durch Gewährung gün­stiger Umstände gefordert haben. The National Endowment for the Humanities und The Rockefeller Foundation finanzierten großzügig ein akademisches Urlaubsjahr, in dem die Nieder­schrift begonnen wurde. In der schönen Abgeschiedenheit der Villa Feuerring in Beth Jizchak (Israel), die so manchen Geistes­arbeiter beherbergt hat, durfte ich die ersten Kapitel schreiben. Der großherzigen Gastgeberin, Frau Gertrud Feuerring in Jerusa­lem, sei hierfür nun auch öffentlich gedankt. Mit gleicher Dank­barkeit gedenke ich weiterer behüteter Arbeitsklausuren in Freun­deshäusern in Israel und der Schweiz, die über die Jahre wieder­holt dem Werk zugute kamen, wenn geographische Ferne vom Amtssitz den besten Schutz gegen Übergriffe des Professorats in Ferien und Urlaube bot.

In der Widmung sind die genannt, denen im Sinne des Buches anderes geschuldet ist als Dank.

New Rochelle, New York, U. S. A.                                                                          Hans Jonas
Juli 1979

Quelle: Hans Jonas, Das Prinzip Verantwortung, Frankfurt am Main: Insel, 51986, S. 7-12.

Hier der Text als pdf.

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