Lesslie Newbigin, Das Evangelium als öffentliche Wahrheit (The Gospel as Public Truth): „Die Kirche darf keine andere Art von Autorität anstreben als die des gekreuzigten und auferstandenen Jesus. Der endgültige ‚Beweis‘ der These kann nur am Ende der Geschichte erfolgen, bei der endgültigen Vollendung, deren Unterpfand und Erstlings­frucht die Auferstehung Jesu ist.“

Das Evangelium als öffentliche Wahrheit (The Gospel as Public Truth)

Von Lesslie Newbigin

Lesslie Newbigin (1909-1998) war ein britischer Theologe, Missiologe, Missionar und Autor. Obwohl er ursprünglich in der Kirche von Schottland ordiniert wurde, verbrachte Newbigin einen Großteil seiner Laufbahn als Missionar in Indien und wurde der Kirche von Südindien und der Vereinigten Reformierten Kirche angegliedert und wurde einer der ersten Bischöfe der Kirche von Südindien. Als produktiver Autor, der über ein breites Spektrum theologischer Themen schrieb, ist Newbigin vor allem für seine Beiträge zur Missiologie und Ekklesiologie bekannt.

Das Evangelium ist ein Bericht über Dinge, die geschehen sind. Es ist keine metaphysische Aussage oder ein Programm für Ethik und Politik, obwohl es Auswirkungen auf diese beiden Bereiche hat. Es ist erzählte Geschichte, und (wie alle erzählte Geschichte) wird sie mit einer Überzeugung über ihre Bedeutung erzählt. Diese Überzeugung besteht darin, dass die Ge­schichte erzählt, was Gott für die Erlösung der gesamten Schöpfung und ihre Versöhnung mit der Quelle allen Seins getan hat.

Die Geschichte wird uns durch das lebendige Gedächtnis der Kirche zugänglich gemacht, der Gemeinschaft, die von Anfang an durch das Wirken des Heiligen Geistes befähigt wurde, in Jesus den zu erkennen, der vom Vater zum Heil der Welt gesandt wurde. Diese Gemeinschaft hat das Gedächtnis lebendig gehalten, indem sie die frühesten Aufzeichnungen über Jesus, die Worte und Taten der ersten Zeugen und das Schrifttum, das für das jüdische Volk und damit für Jesus und seine Jünger heilige Schrift war und die Geschichte erzählt, für die das Wirken Jesu der hermeneutische Schlüssel ist, bewahrt, gepflegt und von Generation zu Generation weitergegeben hat. Dieser gesamte Schriftkorpus ist von der Kirche als Norm anerkannt und akzeptiert worden, an der spätere Entwicklungen in der Auslegung des Evangeliums und seiner Implikationen zu prüfen sind.

Die ersten Verkünder des Evangeliums waren die Augenzeugen, die sagen konnten: „Was wir gesehen und gehört haben, das verkünden wir euch.“ Sie waren sich wohl bewusst, dass ihre Geschichte abgelehnt werden konnte und würde und dass nur das Wort des Heiligen Geistes die Menschen von ihrer Wahrheit überzeugen konnte. Aber sie zogen nicht den Schluss, dass die Wahrheit eine Privatangelegenheit des Einzelnen sei. Sie nahmen nicht den Schutz in An­spruch, den das römische Recht für die Ausübung von Religionen des persönlichen Heils vorsah. Sie bekräftigten, dass die Botschaft, die ihnen anvertraut worden war, das Schicksal des ganzen Menschengeschlechts betraf. Derjenige, der gestorben und wieder auferstanden war, war der Retter und Richter der Welt. Die Nachricht war für jeden Menschen von lebens­wich­tiger Bedeutung. Sie war eine öffentliche Wahrheit. Die Treue zu ihr erforderte die fol­gen­schwere Entscheidung, den Kaiser nicht als oberste Macht anzuerkennen. Sie akzeptierten den Preis, der für diese Treue gezahlt werden musste.

Das Evangelium als öffentliche Wahrheit zu bekräftigen, bedeutet also nicht, dass der Glaube an die Wahrheit des Evangeliums durch den Einsatz politischer Macht gesichert werden soll. Es ist von Anfang an klargestellt worden, auch wenn dies in den folgenden Jahrhunderten oft vergessen wurde, dass die Form der Bejahung ein für alle Mal im Zeugnis Jesu in seinem Ster­ben gegeben ist. Die Tatsache, dass das Kreuz das Herzstück des Evangeliums ist und dass es die Mächte des Staates, der Kirche und des Volkes waren, die das göttliche Wort zum Schweigen bringen wollten, muss es der Kirche für immer verbieten, eine Identifizierung des Evangeliums mit der politischen Macht zu suchen. Aber das Evangelium, die frohe Botschaft, die der Kirche anvertraut ist, besteht darin, dass Gott den verworfenen Jesus von den Toten auferweckt hat und dass er jetzt lebt und in der Gemeinschaft wirkt, die er ausgesandt hat, um die Geschichte zu erzählen. Das bedeutet, dass er der rechtmäßige Träger von Gottes Herrschaft ist, auch wenn diese Herrschaft jetzt in Schwäche gehüllt ist. Mit all ihrer Schwäche, ihrer Sündhaftigkeit und ihren Kompromissen ist die Kirche die Körperschaft, der die Verantwortung anvertraut wurde, die Tatsache zu bezeugen, dass derjenige, den Jesus Va­ter genannt hat, der Herr ist und ohne Ausnahme der Richter aller sein wird. Dies ist die öffen­tliche Wahrheit.

In der zeitgenössischen „modernen“ Kultur ist das Modell der öffentlichen Wahrheit in zeit­losen gesetzesähnlichen Aussagen zu finden, die sich idealerweise in mathematischer Form ausdrücken lassen. Seit seinen frühen Wurzeln im griechischen Denken hat dieses Modell in der europäischen Kultur eine starke Wirkung entfaltet. Das vielleicht wichtigste Beispiel dafür ist der enorme Einfluss der Arbeiten von Isaac Newton auf die Denker des „Zeitalters der Vernunft“, in dem die moderne westliche Kultur geprägt wurde. Seit dieser Zeit ist es üblich, die „öffentliche Wahrheit“ mit Dingen zu identifizieren, die auf diese Weise festgestellt werden können. Das Wort „wissenschaftlich“ wird verwendet, um diese Art von Wissen von solchen zu unterscheiden, die auf Glauben beruhen. Dabei wird vergessen, dass die gesamte „wissenschaftliche Weltanschauung“ auf Annahmen beruht, die im Glauben angenommen werden, aber nur in der Praxis der Wissenschaft als wahr bewiesen werden können. Das Evan­gelium als öffentliche Wahrheit zu bejahen, bedeutet, einen neuen Ausgangspunkt für das Denken zu akzeptieren, dessen Wahrheit sich erst im Laufe eines Lebens der Reflexion und des Handelns erweisen wird, das sich als der Gesamtheit der menschlichen Erfahrung ange­messener erweist als seine Konkurrenten. Die Behauptung, das Evangelium sei die öffentliche Wahrheit, bedeutet also keineswegs, eine Art Vorherrschaft der Kirche anzustreben. Es bedeutet, sich auf einen Glaubensweg zu begeben, der die endgültige Rechtfertigung erst am Ende sucht. Es geht nicht darum, für das Evangelium irgendeine Zwangsgewalt in der Arena der öffentlichen Debatte anzustreben, sondern darauf zu bestehen, dass das Evangelium als Bekräftigung der Wahrheit gehört werden muss, die schließlich alle Facetten des menschli­chen Lebens bestimmen muss. Es geht nicht darum, dass das Evangelium alle anderen Stim­men ausschließen soll, sondern nur darum, dass es gehört wird. Die allgemeine Anerkennung, dass Jesus der Herr ist, ist etwas, das für das Ende verheißen ist, nicht für das gegenwärtige Zeitalter.

Das Evangelium als öffentliche Wahrheit zu bekräftigen, bedeutet nicht, Herrschaft zu behaupten, sondern zum Dialog einzuladen. Die Verkündigung des Geschehenen ist nicht die Frucht des Dialogs, sondern sein Ausgangspunkt, denn die Bedeutung und die Implikationen des Verkündeten müssen im Dialog gelernt werden. Für die Nachricht von Ereignissen sind wir auf kompetente Zeugen angewiesen. Der Dialog ist kein Ersatz für eine zuverlässige In­formation. Die erste Aufgabe der Kirche ist es, ein glaubwürdiges Zeugnis über das zu geben, was geschehen ist. Aber das muss zum Dialog führen, denn die bezeugende Gemeinschaft weiß nicht im Voraus, was die Botschaft bewirken wird, welche Folgen ihre Annahme in den verschiedenen Bereichen des menschlichen Lebens haben wird. Das Neue Testament selbst zeigt, dass die Kirche, als sie sich von ihren Wurzeln in Israel aus zu allen Völkern ausbreitete, lernen musste (und davon überrascht wurde), welche Auswirkungen dies haben würde (z. B. Apostelgeschichte 10 und 11). In gleicher Weise muss die Kirche lernen, welche Auswirkungen das Evangelium z. B. auf die Bereiche Wirtschaft, Bildung und Heilung haben kann. Dies kann nur durch einen Dialog geschehen, in dem die Kirche, wie Jesus versprochen hat, neue Dinge lernen muss (Johannes 16,12-15). Und es ist wichtig, sich daran zu erinnern, dass Jesus in diesem Zusammenhang seinen Jüngern sagte, sie müssten mit Anfeindungen und Ablehnung rechnen. Die Kirche darf keine andere Art von Autorität anstreben als die des gekreuzigten und auferstandenen Jesus. Der endgültige „Beweis“ der These kann nur am Ende der Geschichte erfolgen, bei der endgültigen Vollendung, deren Unterpfand und Erstlings­frucht die Auferstehung Jesu ist.

Der Ausgangspunkt ist das Evangelium selbst, die Erzählung jener Ereignisse, in denen der Urheber allen Seins gehandelt hat, um eine entfremdete Schöpfung zu erlösen und zu versöhnen und sie auf ihr wahres Ziel auszurichten. Und da die überreiche Gnade und Herrlichkeit Gottes all unser Denkvermögen und unsere Vorstellungskraft übersteigt, dürfen wir zuversichtlich erwarten und darum beten, dass wir die Tragweite von Gottes Plan für un­sere Gesellschaft neu verstehen und neue Kraft schöpfen, um unseren Teil dazu beizutragen.

Vorgetragen unter dem Titel „The Gospel as Public Truth“ auf der Swanwick Consultation im Juli 1992. In gekürzter Form ins Deutsche übersetzt.

Hier der Text als pdf.

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