Von Heinrich Spaemann
Es werden so entsetzliche Tode gestorben, Krebstode, Tode, in denen Leben nicht im mindesten ausgereift ist, Tode im Mutterleib, Hungertode, Foltertode, Terrortode. Mitten unter diesen Sterbenden sehe ich das Kreuz von Golgotha. Unterscheidet sich Jesu Passion von der anderer Menschen, die vielleicht noch weit schlimmer und länger mißhandelt und am Ende umgebracht werden?
Jesus lebte aus dem Urgrund Liebe. Es gab in seinem Wesen, dessen Energie und Wirkmächtigkeit in der Menschheitsgeschichte einzigartig waren, keine der üblichen Möglichkeiten von Abwehr des Bösen, das ihm andere zufügten, so wenig wie bei einem wehrlosen Kind. Er hatte nur die Waffen der Liebe; aus innerster Freiheit schlug er den Gebrauch jeder anderen Waffe aus. Und so liebend war er, das heißt so sehr der eine Mensch mit uns Menschen, daß er sich mit uns und uns mit sich als etwas völlig Zusammengehöriges erfuhr. Wir gingen und gehen ihn so an, wie wenn meine Augen oder meine Hand Wohltuendes oder Wehes erfahren: das erfahre dann doch ich.
Jesus konnte sich nicht distanzieren und nicht immunisieren gegen das Böse, das rings um ihn geschah – es ging immer auch ihn an -, und erst recht nicht gegen das Böse, das man ihm selbst antat, wie wir das können mit unseren Schutzmechanismen und Abwehrreaktionen. Wenn jemand uns geflissentlich einen Schmerz zufügt oder sich sonstwie feindselig verhält, dann werden wir unwillkürlich selber auch aggressiv. Der uns da etwas antut, bleibt außerhalb von uns, wir weisen und wehren ihn ab, empören uns über ihn, wünschen ihn weg.
Und Jesus? Die einzige Waffe eines dreijährigen Kindes sind seine Tränen. Nun aber denken Sie an den Mann in der Gethsemanenacht. Er sieht sich der geballten Macht des Bösen gegenüber. Sie kommt auf ihn zu. Und sein innerster Mensch geht auf sie zu. Sein Schweiß wird wie Blut, das zur Erde tropft, so sagt Lukas. Was ihm das Blut aus den Poren treibt, ist unser Böses. Das ist noch einmal Adam, zu dem Gott sagt: „Im Schweiße deines Angesichtes sollst du dein Brot essen.“ Das Brot, um das es diesem neuen Adam geht, das seinen Hunger stillt, sind wir, die wir so zu ihm gehören, daß er nicht anders kann und will, als für uns leiden, was er durch uns leidet. Dann fesseln ihn ein paar Menschen, binden ihm Stricke oder Ketten um die Handgelenke; es kommt der Augenblick, wo sie ihn zu geißeln beginnen. 39 Geißelhiebe waren das nach der Regel. Die Lederbänder waren mit spitzen Eisenstücken besetzt. Der Körper wurde aufgerissen, wurde wie eine Wunde, manche starben dabei. Dann setzt ihm die Soldateska einen Dornenkranz auf, die Stacheln dringen ihm tief in die Kopfhaut, in die Schläfen. Aber für ihn sind diese Leute keine Soldateska. Er sieht Menschen. Er sieht jeden einzelnen von ihnen, die von Spott und Hohn oder Wut entstellten Gesichter derer, die die Folter vollziehen. Aber da er nur eines kann und will: lieben, weil die Liebe sein Wesen ist, sieht er hinter diesen Gesichtern zugleich ihre arme Vergangenheit, ihre Kindheit, die Umgebung, in der sie groß wurden. Er lebte selber ja 30 Jahre in einer Stadt, die weithin ihresgleichen bewohnten. In einer Stadt, von der Nathanael sagt: „Was kann aus Nazareth Gutes kommen?“, deren Bürger ihn nach seiner ersten Predigt in ihrer Synagoge zu steinigen versuchten – da entlud sich ihre durch viele Jahre aufgestaute Aggression gegen ihn, sie hielten ihn ja nicht aus, da er so anders war, so rein, so gerecht – sie hielten es nicht aus, daß er sie aushielt. Aus dem Mitleben mit diesen kleinen Leuten weiß Jesus, wie viele Menschen ungeliebt aufwachsen, wie sie ganz früh schon von Engstirnigkeiten, Vorurteilen und Grausamkeiten ihrer Umgebung geprägt, auch wie sie vernachlässigt und verstoßen werden, in wie vielen Zwängen sie stecken.
Und sind jetzt nicht ihm jene die Nächsten, die man doch lieben soll wie sich selbst, die ihm das Schlimme antun? Wer sonst? Unaufhörlich betet er in seinem Innern für sie – nicht erst am Kreuz: „Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun.“ Er weiß, es ist besser, alles Böse tobt sich gegen ihn aus, als gegen irgendeinen anderen, der dadurch auch wieder böse und vielleicht noch böser wird, weil dieser ja nicht anders kann, weil er ja die Kraft nicht hat, dem Bösen, je böser es ist, Gutes entgegenzuhalten. Darum ist es doch besser, das Böse trifft ihn, Jesus, so daß es nicht weitergeht, sondern an ihm sich erschöpft. Einer muß es doch sein, bei dem dies geschieht, gegen einen muß es sich zusammenziehen. Einer muß es doch durch das Gute überwinden.
Einer muß darum auch bewirken, daß alles Böse, damit es besiegt werde, sich unweigerlich ihm stelle; einer muß es so provozieren, daß es enttarnt wird, daß auch und gerade die Bösen, die es so gar nicht zu sein meinen und scheinen, mit ihrem Bösen aus ihren Verstecken heraus massiv böse werden. Wen hat Jesus denn in besonderem Maße provoziert? Wer hat am Ende Jesus getötet? Wegelagerer, Räuber? Wer hat beschlossen, ihn aus der Gemeinschaft seines Volkes und der Menschheit so wirksam auszumerzen, an fünf Nägeln aufgehängt, daß seiner als eines notorischen Verbrechers nicht mehr gedacht würde? Verantwortungsträger der Religion und Politik seiner Zeit, Menschen von hohem moralischen Ansehen, deren Existenz aufging in Studium und Auslegung von Gesetz und seine Anwendung auf alle Lebenslagen. Sie kannten sich aus mit diesen Vorschriften. Diese Kenntnis machte ihre Autorität, aber zugleich auch ihre Überlegenheit gegenüber Laien, Analphabeten, Armen und Sündern aus. Und eben darin lag zugleich auch ihre tiefe Gefahr, die der Erblindung in Hinsicht auf das eigene Herz, die Gefahr des Blickes nach unten, des Stolzes, des Balkens im eigenen Auge – jede andere Sünde ist ja nur ein Splitter von diesem Holz. Mit seiner grenzenlosen Liebe, die bestimmte gesetzliche Grenzziehungen in messianischer Vollmacht aufhob, mit seinem heilenden Berühren von Aussätzigen, mit seinem Zutischesitzen bei Gesetzlosen, aus denen er Jünger erwählte, mit seinen Heilungen am Sabbat, hat Jesus niemand anders so sehr wie die Hüter des Gesetzes provoziert. Aber auch das geschah aus Liebe, aus Liebe zu ihnen. Nicht anders konnte er sie – wie Gott den Adam aus seinem Versteck – aus der Burg ihrer Selbstgerechtigkeit hervorrufen zu entsprechendem Tun. Das lauernd Böse, das Mordende der im Stolz verborgenen Nichtliebe mußte so offenbar werden. Es gab und gibt Jesus gegenüber, als dem Licht, das in die Finsternis leuchtet, nur eine Alternative: es als rettendes zu erkennen oder den Versuch zu machen, es auszulöschen. Jesus hat das gewußt und sehr früh vorausgesagt, daß man ihn töten würde. Er wußte, daß seine Liebe bis zu diesem schrecklichen Ende seiner Kreuzigung gehen müsse, wenn er die Menschen aus ihren Fesseln befreien und zu der Freiheit seines eigenen Wesens führen wollte. Abel wehrte sich nicht gegen Kain. Warum erschlug ihn Kain? Weil er ihm sein eigenes Nichtbestehen vor Gott verdeutlichte. Diese Verdeutlichung ist der Anfang der Ermöglichung von Umkehr. Nur Abel, wehrlos, bekehrt auch Kain.
Alle Träger von Macht und Rang sind progressiv gefährdet vom Defizit an Betroffenheit, an Betroffenheit durch eine Armut, die zur Identifikation provoziert und die das eigene Herz angeht – vom Defizit an konkreter Begegnung mit dem Leid der Kreatur, mit den quälenden Problemen von Mitmenschen, sofern sie nicht selbst gegen dieses Defizit etwas ganz Konkretes tun. Die maßgebenden Autoritäten in Jerusalem haben Jesus, bevor sie seine Kreuzigung beschlossen, weder selbst gehört noch seine Heilstaten gesehen, auch das Glück und die Seligkeit derer nicht gesehen, die er heilte. Sie achteten nicht der Blinden, die wieder sehen, und der Lahmen, die wieder gehen konnten. Jesus selbst ist sein Leben hindurch bis zum Tod der unmittelbaren Betroffenheit von Leid, Jammer, Elend, Krankheit und Sünde seiner Brüder und Schwestern nie ausgewichen – im Gegenteil, in eine solche Welt ging er hinein und in ihr verblieb er bis zu seiner Kreuzigung. Wo keine Betroffenheit mehr ist, beginnt die grausame Abstraktion von der Praxis der Liebe, beginnt der Schwund im Begreifen der Wirklichkeit, die im Kreuz von Golgotha, diesem Inbegriffzeichen von Wehrlosigkeit und Machtlosigkeit, ihre Mitte bekommen hat, beginnt die Verfallenheit an die falsche Macht. Wer, vielleicht zunächst völlig unwillkürlich, zum Kreuz in praktische Distanz gerät, es nur noch im Kult, in der Beobachtung eines religiösen Pensums, wirklich ernst nimmt, während seine ganze Lebensweise und Denkart ein Widerspruch dazu wird, beginnt unweigerlich andere ans Kreuz zu nageln.
Jesu Geheimnis war, daß er wie kein anderer vor ihm und nach ihm der Liebe glaubte. Er, der „Anführer und Vollender unseres Glaubens“ (Hebr 12,2), vertraute, daß die Liebe Gottes alles verantwortete, was ihm begegnete, daß sie stärker war, als alle den Tod herbeiführenden Mächte, ja als der Tod selbst. Mit diesem Vertrauen behielt er recht. Er, die Urliebe selbst in ihm, das Leben in der Quelle, entgrenzte die Grenzen des Todes, durchbrach die Grabesdecke über der Unterwelt nach oben hin zum lebendigen Gott, er als erster von uns; denn nun erst recht erweist sich unser Leben, unsere Zukunft, ja schon unser Hier und Jetzt, mit ihm als eins: der eine Mensch mit uns Menschen ist für uns und mit uns zu Gott erhöht, wir sind in ihm, er ist in uns, er ist unsere Heimat, unsere Geborgenheit, unser Lebenslicht.
Es ist schwer zu fassen, daß Ostern, dieses schlechthin revolutionärste Ereignis der Menschheitsgeschichte und des Kosmos, das Ereignis der Überwindung des Todes, und damit einer Welt der Zwänge und der Angst, die allermeisten Christen so wenig erschüttert, und darum auch in der Ausrichtung und Praxis ihrer Existenz so wenig verändert – dahin verändert, daß sie der alles überwindenden Macht der Liebe glauben und aus ihr zu leben suchen.
Denn wenn es eine Quintessenz der Erkenntnis aus dem Geschehen der Kreuzigung Jesu gibt, eine mit umwerfenden Folgen, dann ist es diese: Gott zwingt nicht, er vertraut; Gott tötet nicht, er erweckt von den Toten.
Nicht zu allen Zeiten der Kirchengeschichte waren Bewußtsein und Gewissen der Christen, ähnlich wie heute, von der Erkenntnis erhellt, daß die Welt der Zwänge nicht die Welt Gottes ist, daß sie unmenschlich und widergöttlich ist. Wenn Gott kommt, dann heißt das: er kommt, um Geknechtete zu befreien. Als dieser Befreier eröffnet er bereits den Wortlaut der Zehn Gebote: „Ich bin der Herr, dein Gott, der dich aus dem Land Ägypten, aus dem Sklavenhaus herausgeführt hat“ (Ex 20,2).
Und wie befreit Gott? Setzt er zu unserer Befreiung aus Krankheit, Angst, Not und Sünde einen anderen Zwang? Beseitigt er seine Widersacher nur durch seine entsprechend größere Macht? Mit den gleichen Mitteln? Mit psychischer oder physischer Gewalt, unter Drohung oder Lockung? Was tut er? Das genaue Gegenteil von allem, was Zwingen heißt: er vertraut. Er beginnt sein Leben als Mensch damit, sich uns anzuvertrauen als ein schutzloses Kind. Gott vertraut jenem Rest von Freiheit im Menschen, durch den auch der Sünder noch Person ist. An diesem Vertrauen hält er fest bis zu der Stunde, in der er selbst das Lamm ist, das seinen Mund nicht auftut vor seinem Scherer. Er wird sich nicht untreu. Er vertraut auch jetzt, da man ihn kreuzigt. Die wehrlose Liebe Jesu appelliert an die vielleicht einzige Stelle im Menschen, wo er noch frei ist, seinerseits eine Entscheidung für wirkliche Freiheit zu treffen. Es mag nicht viel Vertrauenswürdiges an uns sein: wenn der Mensch dem Glauben, mit dem ein dreijähriges Kind an ihn glaubt, recht zu geben beginnt, oder wenn er dem Durst eines Gemarterten den Becher Wasser nicht verweigert, so ist ein Anfang gewonnen, in dem der Mensch zu sich selbst kommt, weil er zu Gott kommt, der in diesem Kind oder in diesem Dürstenden auf ihn wartet. Von dieser Stelle aus kann die Freiheit ihn wieder erobern, da sein innerster Lebensgrund mit ihr korrespondiert. Ein Samenkorn ist in ihn eingesenkt, das die Lebenskraft hat, die Sprengkraft, auch eine Betondecke von Selbstsucht und Mißtrauen, die sich über seinem Innersten gebildet hat, zu durchdringen. Gott schenkt Liebe so, daß er sich zugleich ausliefert an die Notwendigkeit, daß man auch ihn liebe, in diese Konsequenz ist eingeschlossen sein Golgotha. Denn die Macht des Bösen sieht in der Ohnmacht des Machtlosen ihre Chance. Aber die Passion der Liebe siegt über die Macht des Bösen. Sie ist die Macht, mit dem das Lamm die Wölfe in Lämmer verwandelt.
Der gewaltlose, wehrlose Gott befreit uns von einer falschen Gottesvorstellung: er nimmt uns die Angst. Sie ist das Stigma einer unerlösten Welt. Wer andere zwingt, hat selber Angst. Sie kommt aus der noch unerkannten und unüberwundenen Enge seines eigenen Innern. Angst ist die Witterung, daß die geheimen Zwänge, in denen einer lebt und die er an anderen ausläßt, sich einmal ausweglos gegen ihn selber zusammenziehen könnten.
Seinen Jüngern sagt Jesus: „Seht, ich sende euch wie Lämmer unter die Wölfe“ (Lk 10,3). Ob wir Lamm oder Wolf sind, das unterscheidet uns – bei der letzten Trennung kommt es heraus. Vorerst geht dieser Unterschied zu unserer immer neuen Bekehrung vielleicht noch mitten durch unser eigenes Herz hindurch. Lämmer sind, die der Entscheidung nach „dem Lamme folgen, wohin es geht“ (Offb 14,4), es geht den Weg der Passion zu Gott. Wölfe sind, die sich selber oder die ihrer Meinung nach gute Sache gewaltsam durchsetzen wollen. In den Gewaltlosen hat Jesu Herrschaft Raum. Sie sind zur Inbesitznahme der kommenden Welt disponiert. Im 37. Psalm und in der dritten Seligpreisung der Bergpredigt wird ihnen das kommende Reich zugesprochen. Es fällt ihnen zu ohne Schwertstreich. Die bleibenden Eroberungen machen jene Leute, die den Mut haben, kein Wesen auf dieser Erde unter Gewaltdruck zu bringen, weder mit physischen noch mit psychischen noch mit geistigen Mitteln, also die Standhaften in der Liebe, die auf Gott, den Herrn der Geschichte, beharrlich Vertrauenden. Sie gewinnen wieder, was Adam verlor, die gottgemäße Herrschaft über diese Erde. Weil sie sie nicht für sich selber suchen, fällt sie ihnen zu. Alles fügt sich zuletzt in die Hand derer, die sich ihrer Mitgeschöpfe nicht zu bemächtigen, sondern ihnen zu dienen suchen.
Gesandt aber werden die Lämmer unter die Wölfe, damit sie diese in ihre eigene Natur verwandeln, aus Wölfen Lämmer machen. Dazu wird ihnen die Vollmacht gegeben. Töten, das können Wölfe. Das Herz verändern, das kann nur Gott. Und das können die, in denen Gottes Liebe Macht hat. Diese Sendung schließt in sich ein, daß sie bereit sein müssen, sich ganz herzugeben. Auf dem Sieg der Gewaltlosen beruht die Rettung der Welt. Johannes Chrysostomus sagt: „Solange wir Lämmer sind, siegen wir. Mögen uns auch tausend Wölfe umringen, wir werden die Oberhand gewinnen und Sieger sein. Wenn wir aber Wölfe werden, dann weicht von uns die Hilfe des Hirten, der nicht Wölfe, sondern Lämmer weidet.“ – Wenn wir als Wölfe über die Wölfe siegen, so haben sie uns besiegt.
Quelle: Geist und Leben 63, 1990, S. 81-86.