Carl-Friedrich von Weizsäcker über Luthers De servo arbitrio: „Die Aufklärung wehrt sich mit Leidenschaft gegen das servum arbitri­um. Sie will ein besseres Gesetz und kein Evangelium. So hat in der späteren Neuzeit der Kern christlicher Wahrheit überhaupt keinen Sprecher, der das moderne Bewusst­sein erreicht: die Aufklärung nicht, weil sie den Kern verwirft, die Kirche nicht, die defensiv das Pfund vergräbt.“

Über Luthers De servo arbitrio

Von Carl-Friedrich von Weizsäcker

Nicht das historisch neu auftretende und rasch von der Aufklärung überholte Schriftprinzip ist Luthers Ge­schenk an die Kirche, sondern das, was er in der Schrift las. Es ist die Erfahrung der Rechtfertigung, interpretiert durch die bis heute nicht von der Anthropologie rezipier­te Lehre vom servum arbitrium.

Auch was Luther wiederentdeckt, ja in seiner Fassung als erster entdeckt, ist durch Jesus ermöglicht. Er entdeckt aber nicht Jesus, sondern er entdeckt Paulus und den von Paulus im Glauben erfahrenen Christus. Der Glaube ist ein reales Geschehen, ein Erwachen. Die Rechtferti­gung durch den Glauben ist etwas völlig anderes als die kirchengeschichtlich fast unvermeidlich eintretende Rück­wendung zum Bekenntnis, zur vermeintlichen Rechtferti­gung durch das Bekenntnis des rechtens Glaubens, ein Bekenntnis, das ein gutes Werk ist wie andere Werke. Luther hinterlässt der Kirche eine offene Front. Die ver­fasste lutherische Kirche ist demgegenüber eine um eine tiefe Wahrheit bereicherte, im Blick auf viele andere ka­tholische Güter aber verengte, kontinuierliche Fortsetzung des kulturtragenden Christentums. Mit der lutherischen Orthodoxie und dem tridentinischen Katholizismus (der noch die herrliche Blüte des Barock ermöglicht hat) tritt die christliche Kirche in die kulturelle Defensive ein. Diese hochrespektable Rolle musste im ge­schichtlichen Prozess gespielt werden. Aber der Bewusst­seinswandel ist unaufhaltsam. Die Niederlage ist der De­fensive gewiss. Die Rolle des Trägers der fortschreitenden geschichtlichen Verwandlung, die anderthalb Jahrtau­sende dem Christentum zugefallen war, übernimmt nun die Aufklärung. Die Ambivalenz der Aufklärung hängt freilich tief damit zusammen, dass sie an der Kirche nur das doch Periphere zu würdigen vermag, ihre Leistung als Kulturträger, aber gerade nicht den Kern. Die Aufklärung wehrt sich mit Leidenschaft gegen das servum arbitri­um. Sie will ein besseres Gesetz und kein Evangelium. So hat in der späteren Neuzeit der Kern christlicher Wahrheit überhaupt keinen Sprecher, der das moderne Bewusst­sein erreicht: die Aufklärung nicht, weil sie den Kern verwirft, die Kirche nicht, die defensiv das Pfund vergräbt. Jedes so verkürzte summarische Urteil ist, wie ich weiß, falsch, schon weil es summarisch ist. Aber vielleicht trifft es eine Grundkonstellation der Neuzeit. Das Leiden an der Unerträglichkeit dieser Konstellation speist die Dyna­mik der neueren profanen und Kirchengeschichte.

Quelle: Carl Friedrich von Weizsäcker, Kirchenlehre und Weltverständnis, in: Ders., Deutlichkeit. Beiträge zu politischen und religiösen Gegenwartsfragen, München: Hanser 41986, 108f.

Hier der Text als pdf.

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