Über Selbstötung
Von Roger Willemsen
Im Flüsterton wird die Nachricht vom jüngsten Selbstmord in Umlauf gebracht. Jeder, der jetzt spricht, stellt sich selbst am Objekt dieses Todes aus. Seziert Episoden aus der Vergangenheit, kommentiert ein Foto, auf dem der Sprecher selbst mit dem Toten zu sehen ist, deutet nachträglich ins Beiläufige gesprochene Worte. Ihr Verstehen manifestiert sich in Worten wie »gemütskrank« oder »Weltschmerz«, lauter Dämme.
Die Hinterbliebenen machen ein Gesicht wie eine Händel-Arie und bezichtigen so kokett wie anmaßend, »das Schlimmste« nicht »verhindert« zu haben. Sie sind vor allem ergriffen und finden symbolische Ausdrücke dafür, lauter Selbstbeschreibungen: Ich war fassungslos, mir kamen gleich die Tränen, ich musste mich setzen – am Ende wirkt die Reaktion auf den Tod erschütternder als dieser selbst.
An den empfindlichsten Stellen im Leben des Selbstmörders brechen diese Hinterbliebenen ein und schauen sich um.
Was sie finden, sind nur noch die Relikte eines gescheiterten Lebens. Indem sie die Entfernung scheinbar verringern, vergrößern sie sie.
Joseph charakterisiert den »heroischen« Selbstmörder durch die imperiale Geste. Der Selbstmörder sucht Weltzeit und Lebenszeit in Einklang zu bringen, wie bei den Imperatoren, die mit ihrem Reich untergehen wollten, oder den chinesischen Kaisern, die vor Sonnenaufgang aufstanden, damit sie sagen konnten: Wir haben den Aufgang der Sonne erst ermöglicht.
Wenn ich untergehe, sagen diese Selbstmörder des imperialen Typs, geht der Rest mit mir unter – so gefasst, hat der Selbstmord größte symbolische Kraft: Ich und die Welt haben ein Ereignis gemeinsam, und das ist mein Tod. Diese Vision des Selbstmords spielt immer wieder hinein in die Delirien der Selbsttötung. Der Suizidäre beansprucht eine Verfügungsgewalt über sich, die Welt und auch über den Schmerz der Zurückbleibenden.
Auf der anderen Seite, so Joseph, das Passivische: Nicht das Ich konfrontiert sich mehr mit der Welt, sondern die Landschaft sagt, du bist nicht mehr, die Speise, der Kuss sagen es. Der Selbstmörder ist also Artist durch die Entwicklung eines Spürsinns, der unter alle Wahrnehmungsformen greift, bei dem Signale ankommen, die nirgends sonst aufgefasst werden. Er ist das Medium einer höheren Empfindlichkeit und extrapoliert die vorhandene Verzweiflung. Dieser Selbstmörder gibt seinem Handeln eine demonstrative Bedeutung: Es gab einen, der so sehr wach war, dass er nur unter dieser Wachheit sterben konnte, der unter dieser Unerträglichkeit so litt, dass er nicht weiterleben konnte. Die Wunde war immer da. Sie wird aber erst jetzt, erst in ihm sichtbar.
Die Signale, die der Selbstmörder auffasst, sind allgegenwärtig, er hat Empfindsamkeiten entwickelt, die Unerträglichkeiten zur Folge haben, wo sich die Sensorien anderer durch Unempfindlichkeit auszeichnen. Der Selbstmörder dieser Art lebt im Indolenzverzicht. Er ist gezeichnet, erkennt Dinge, die andere nicht erkennen, und gerade weil der Schmerz hier ernster genommen wird, erscheint dieser Selbstmörder als politische Figur.
Quelle: Roger Willemsen, Der Knacks, Frankfurt a.M.: S. Fischer, 2008.