Von Wilhelm Löhe
Es gibt einen homiletischen, einen katechetischen und einen liturgischen Vortrag. Der leichteste, das ist am leichtesten zu fördernde und einzuhaltende ist der katechetische, weil er, wenn er dialogisch ist, dem Leben am nächsten steht, wenn er aber akroamatisch ist, durch die Absicht der Belehrung auf der bestimmtesten Bahn geführt wird. Zwischen inne steht der homiletische, weil er, obwohl der gewöhnlichen Rede verwandt, doch seinem Inhalte nach sich so sehr im genus dicendi grande bewegt, daß sich ein Kanzelton so leicht und schier natürlich einschleicht. Die heilige Rede könnte und sollte ganz in natürlicher Individualität des Redners vorwärtsschreiten, aber freilich in geheiligter Natürlichkeit, und eben das macht den homiletischen Vortrag schon schwerer als den katechetischen. Am schwersten aber ist ohne Zweifel der liturgische Vortrag. Der liturgische Vortrag ist schwierig, man singe oder spreche. Ein Alter sagt, man singe die Kollekten und Lektionen, weil für die Liturgie kein Vorwalten der Individualität, keine subjektive Betonung gestattet werden könne; so müsse gesungen werden, daß ein jeder seinen eigenen Ton hineinlegen könne. Um nun das zu erreichen, macht man den liturgischen Gesang heute zu einem puren Rezitativ und schult die jungen Geistlichen für denselben ein. Da gibt es dann junge Leute, die geistlos an den Altären tönen, womit weder der Gemeinde gedient ist noch Gott geehrt wird. Der liturgische Gesang ist, trotzdem daß die Subjektivität zurücktreten muß, dennoch einer Betonung fähig; denn es gibt eben eine Betonung, wie sie aus dem Verhältnisse der Gemeinde Gott dem Herrn gegenüber hervorgeht, und der Liturg am Altare muß sich in seiner geistlichen Vorbereitung gewissermaßen von seiner eigenen Stimmung und seinem Gefühlsleben loswickeln und den Ton suchen, der allen gemein ist und gemein sein sollte; diesen kirchlichen Sing- und Redeton zu finden, ist keinem ungeistlichen Menschen möglich und, wie ich glaube, auch keinem, der die Aufgabe und das Bewußtsein nicht in sich trägt, die Stimme der Gemeinde vor Gott zu sein. Zu der Zeit, wo auch die Protestanten an den Altären nach Tradition sangen und redeten, wo jeder jüngere Geistliche alle Tage hören konnte, was traditionell liturgischer Ton sei, hatte man noch weit mehr echt liturgischen Gesang und Vortrag als jetzt, wo man sich erst durch Studium und Reflektion hineinfinden muß. Es mag vor den Ohren der jungen Geistlichkeit fast beleidigend klingen, aber am Ende ist doch etwas Wahres daran, wenn man sagt: wie man liturgisch singen solle, könne man weitaus am besten kirchlich gebildeten römischen Priestern ablernen. — Indes haben wir es hier mit dem Gesang am Altar nur deshalb zu tun, weil er mit dem redenden Vortrag am Altare den einen Hauptgrundsatz gemein hat, daß die Subjektivität, subjektives Fühlen und Betonen vermieden werden müssen. Um am Altare richtig lesen zu können, muß man im Falle sein, am Altare lesen zu sollen. Die Schule der liturgischen Sprache geht erst an, wenn die Studienjahre hinter einem liegen und das amtliche Leben eintritt. Ein neu ordinierter Diener Jesu und seiner Gemeinde muß dann in Demut und Andacht fassen, was er soll, nämlich nicht zu eigener Andacht, sondern im Namen der Gemeinde zu Gott zu sprechen und Gottes und seiner Apostel ipsissima verba dem Volke so vorzutragen, daß es die Stimme des guten Hirten erkennt und sie fassen lerne. Beherrscht dieser Beruf den Liturgen, so wird ihm ein Geistlicher, der mit und neben ihm dient, am leichtesten die Fehler und Mängel sagen können; das Gespräch mit einem solchen über das Gelingen oder Mißlingen seiner Leistung wird seine Fühlhörner erziehen, daß er je länger je mehr inne wird, was kirchlich liturgischer Vortrag ist. Gelinge es aber auch soviel es wolle, so wird doch Fähigkeit und Geschick schnell wieder abnehmen und verschwinden, wenn nicht die geistliche Vorbereitung auf den liturgischen Dienst und die eigene Andacht vor und bei demselben dem Liturgen treu verbleibt; wer im Namen der Gemeinde in Geist und Wahrheit beten und lesen will, der bedarf vor allem subjektiver Frömmigkeit und geistlicher Übung; wem die eigene Andacht und Vorbereitung zum liturgischen Dienst kein Ernst ist, der lernt am allerwenigsten die große Kunst heiliger Diener Gottes, am Altar richtig zu lesen und zu betonen, und wer es unterläßt, sich vorzubereiten, der wird bald am Altare ein Handwerker werden, dem der Geist eine Erinnerung in sein Herz bringen wird: „Tu nur weg das Geplärr deiner Lieder; denn ich mag dein Psalterspiel nicht hören.“ [Amos 5,23]
Quelle: Wilhelm Löhe, Der evangelische Geistliche, in: Ders., Gesammelte Werke, Bd. 3,2, Neuendettelsau: Freimund-Verlag, 1958, S. 256f.