Karl Rahner, Dimensionen des Martyriums. Plädoyer für die Erweiterung eines klassischen Begriffs (1983): „Wir dürfen uns das passive Erdulden des To­des nicht einfach nur in der Weise vorstellen, wie wir uns die altchristlichen Märtyrer vor einem Richterstuhl und ihre gerichtliche Verurteilung zum Tod anschaulich zu machen pflegen. Das passive, aber in willentlicher Entscheidung an­ge­nommene Erdulden des Todes kann in ganz anderen Weisen geschehen. Die modernen «Christenverfolger» werden den Christen von heute gar keine Gelegenheit geben, ihren Glau­ben im alten Stil der ersten christlichen Jahrhun­derte zu bekennen und einen Tod durch Ge­richtsbeschluß anzunehmen. Aber ihr Tod kann dennoch in diesen anonymeren Formen heutiger Christenverfolgung ebenso wie bei den Märty­rern alten Stiles vorausgesehen und angenommen werden.“

Dimensionen des Martyriums. Plädoyer für die Erweiterung eines klassischen Begriffs

Von Karl Rahner

Hier soll der Versuch unternommen werden, für eine gewisse Erweiterung des traditionellen Be­griffes des Martyriums zu plädieren.

Der traditionelle Begriff, so wie er heute in der Kirche verwendet wird, ist bekannt. Es steht hier nicht zur Frage, wie er sich im Laufe der Kir­chengeschichte entwickelt hat, wie er sich zum biblischen Begriff des Martyriums verhält, wie dieser neutestamentliche Begriff selber wieder mit verwandten Begriffen und Vorstellungen wie Verkündigung, Prophet, Bekenntnis, Tod usw. zusammenhängt. Hier setzen wir den heute in der Kirche traditionellen Begriff des Martyriums voraus; bei diesem dogmatisch-fundamentaltheologischen Begriff ist die freie, duldende, nicht aktiv (wie z. B. beim Soldaten) kämpfende Annahme des Todes um des Glaubens willen gemeint. Bei «Glaube» ist die christliche Sitten­lehre mitverstanden, was sich ja z. B. deutlich daran zeigt, daß die hl. Maria Goretti, die 1902 von einem Burschen einer Nachbarsfamilie er­stochen wurde, weil sie sich gegen seine Zudring­lichkeiten energisch zur Wehr setzte, von der Kirche als Märtyrerin verehrt wird. Bei «Glau­be» kann es sich um das Ganze des christlichen Bekenntnisses handeln oder um eine einzelne Wahrheit der christlichen Glaubens- und Sitten­lehre, wobei aber natürlich diese einzelne Wahr­heit immer im Ganzen der christlichen Botschaft gesehen wird. Der Tod «in odium fidei» muß bewußt angenommen werden, so daß das Marty­rium und die «Bluttaufe» unterschieden werden müssen.

Das Eigentümliche dieses Begriffes liegt nun darin, daß heute kirchlicherseits bei diesem Be­griff ein Tod in einem aktiven Kampf ausge­schlossen wird. Unsere Frage lautet deshalb, ob ein solcher Ausschluß eines Todes, der im akti­ven Kampf um den christlichen Glauben und seine sittlichen Forderungen (auch bezüglich der Gesellschaft) erlitten wird, notwendig und für immer mit dem Begriff des Martyriums verbun­den bleiben muß. Diese Frage hat ein beträchtli­ches Gewicht für das christliche und kirchliche Leben, weil die Zuerkennung des Martyriums einem kämpfenden Christen gegenüber eine be­deutsame kirchenamtliche Empfehlung eines sol­chen aktiven Kampfes als eines nachahmenswer­ten Beispieles für andere Christen bedeuten würde.

Zunächst einmal ist es selbstverständlich, daß solche Begriffe wie die, um die es sich hier handelt, eine Geschichte haben und legitim va­riabel sind. Es handelt sich ja eigentlich nur um die Frage, ob in diesem Falle ein duldendes Erleiden des Todes um des Glaubens willen und das Erleiden des Todes in einem aktiven Kampf für den Glauben (oder einzelne seiner Forderun­gen) nicht unter einen Begriff des Martyriums zusammengefaßt werden können, weil in diesen beiden Todesarten eine sehr weite und tiefgrei­fende Gemeinsamkeit gegeben ist und weil durch einen solchen einen Begriff für beide Todesarten eine bleibende Verschiedenheit zwischen beiden nicht geleugnet wird. Es gibt ja viele Begriffe, die zwei Wirklichkeiten zusammenfassen wegen ih­rer sachlichen Ähnlichkeit, ohne darum ihre Verschiedenheiten zu leugnen oder notwendig zu verdunkeln. (Der Begriff «Sünde» z. B. wird im kirchlichen Sprachgebrauch für das Erbver­derbnis und für den persönlich verschuldeten Sündenzustand gemeinsam verwendet, ohne daß darum eine radikale Verschiedenheit dieser bei­den Zustände geleugnet werden soll.) Es ist nun gewiß richtig, daß das duldende Erleiden des Todes um des Glaubens willen eine besondere Beziehung zu dem Tode Jesu hat, der gerade durch seinen erlittenen Tod der getreue und zuverlässige Zeuge schlechthin geworden ist. Aber dieser nicht zu leugnende Unterschied zwi­schen den beiden Todesarten schließt eine Zu­sammenfassung unter dem einen Begriff und Wort des Martyriums nicht aus.

Um dies zu sehen, um also die innere und wesentliche Gleichheit dieser beiden Todesarten bei aller ihrer auch gegebenen Verschiedenheit sich deutlich zu machen, muß auf vieles reflek­tiert werden. Zunächst einmal ist doch der «pas­siv erduldete» Tod Jesu die Konsequenz eines Kampfes Jesu gegen die religiösen und politi­schen Machthaber seiner Zeit. Er starb, weil er kämpfte, sein Tod darf nicht isoliert gesehen werden von seinem Leben. Umgekehrt «duldet» auch der, der im aktiven Kampf für die Forde­rungen seiner christlichen Überzeugung (unter Umständen natürlich auch in der Dimension der öffentlichen Gesellschaft) fällt, seinen Tod. Auch ein solcher Tod wird ja nicht einfach als solcher direkt gesucht, er schließt ein passives Element genauso ein, wie der Tod des Märtyrers im herkömmlichen Sinn auch ein aktives Element an sich hat, da ja auch ein solcher Märtyrer durch sein aktives Zeugnisgeben und Leben die Situa­tion heraufbeschworen hat, in der er nur durch eine Verleugnung seines Glaubens dem Tod ent­gehen könnte.

Es mag natürlich eine Frage bleiben, wie ge­nauer der aktive Kampf beschrieben und von ähnlichen Geschehnissen abgegrenzt werden muß, damit der Tod in diesem aktiven Kampf als Martyrium angesprochen werden kann und soll. Nicht jeder, der in einem Religionskrieg auf christlicher oder katholisch-konfessioneller Seite fällt, muß als Märtyrer bezeichnet werden. In solchen Religionskriegen spielen konkret zuviele irdische Motive mit; die Frage bleibt offen, ob jeder Kämpfer in solchen Kriegen wirklich sehr mit seinem Tod rechnet und ihn wirklich an­nimmt. Aber warum sollte z. B. ein Erzbischof Romero, der im Kampf für die Gerechtigkeit in der Gesellschaft fällt, in einem Kampf, den er aus letzter christlicher Überzeugung führt, nicht ein Märtyrer sein? Er hat sicher mit seinem Tod gerechnet.

Wir dürfen uns das passive Erdulden des To­des nicht einfach nur in der Weise vorstellen, wie wir uns die altchristlichen Märtyrer vor einem Richterstuhl und ihre gerichtliche Verurteilung zum Tod anschaulich zu machen pflegen. Das passive, aber in willentlicher Entscheidung an­ge­nommene Erdulden des Todes kann in ganz anderen Weisen geschehen. Die modernen «Christenverfolger» werden den Christen von heute gar keine Gelegenheit geben, ihren Glau­ben im alten Stil der ersten christlichen Jahrhun­derte zu bekennen und einen Tod durch Ge­richtsbeschluß anzunehmen. Aber ihr Tod kann dennoch in diesen anonymeren Formen heutiger Christenverfolgung ebenso wie bei den Märty­rern alten Stiles vorausgesehen und angenommen werden. Und zwar auch als Konsequenz eines aktiven Kampfes für die Gerechtigkeit und ande­re christliche Wirklichkeiten und Werte. Es ist ja seltsam, daß die Kirche Maximilian Kolbe als Bekenner und nicht als Märtyrer heiligspricht.

Ein unvoreingenommenes Verständnis für Maxi­milian Kolbe wird mehr als auf sein früheres Leben auf sein Verhalten im Konzentrationslager und in seinem Tod blicken und ihn als Märtyrer selbstlos christlicher Liebe verstehen.

Jedenfalls sind die Unterschiede zwischen ei­nem Tod um des Glaubens willen im aktiven Kampf für ihn und dem Tod um des Glaubens willen in einem passiven Erdulden zu fließend und zu schwer zu bestimmen, als daß man sich die Mühe machen müßte, diese beiden Todesar­ten begrifflich im Wort genau auseinanderzuhal­ten. Beides ist letztlich die gleiche, ausdrückliche und entschlossene Annahme des Todes aus der­selben christlichen Motivation heraus; in beiden Fällen ist der Tod die Annahme des Todes Chri­sti, die als höchster Akt der Liebe und des Starkmutes den Menschen als Glaubenden rest­los in die Verfügung Gottes gibt, die eine radikal­ste Einheit von Tat der Liebe und des Erleidens des letzten notvollen Sichselbstgenommenseins angesichts des unbegreiflichen, aber machtvollen Nein der Menschen zu der sich offenbarenden Liebe Gottes darstellt. In beiden Fällen erscheint der Tod als die vollendete und offenbare Erschei­nung des eigentlichen Wesens des christlichen Todes überhaupt. Auch dort, wo der Tod im Kampf für die christliche Überzeugung erlitten wird, ist er das Zeugnis des Glaubens von restlo­ser, das ganze Dasein in den Tod hinein integrie­render Entschlossenheit aus der Gnade Gottes mitten In der tiefsten inneren und äußeren Machtlosigkeit, die der Mensch duldend an­nimmt. Das gilt auch für den Tod im Kampfe, weil ja dieser Kämpfer genauso wie der duldende Märtyrer im traditionellen Sinne in der Erfah­rung seines äußeren Scheiterns die Macht des Bösen und seine eigene Ohnmacht erfährt und ausleidet.

Wir können uns bei diesem Plädoyer für eine gewisse Ausweitung des traditionellen Martyriumsbegriffes durchaus auch auf Thomas von Aquin berufen. Thomas sagt in IV. Sent. dist. 49 q. 5 a.3 qc. 2 ad 11, durch einen Tod, der eine deutliche Beziehung auf Christus hat, sei einer ein Märtyrer, wenn er die Gesellschaft (res publica) verteidige gegen die Angriffe ihrer Feinde, die den christlichen Glauben zu verderben trachten, und in dieser Verteidigung den Tod erleide. Die Verderbnis des Glaubens Christi, gegen die sich ein solcher Verteidiger der Gesellschaft wehrt, kann sich selbstverständlich auch auf eine einzel­ne Dimension der christlichen Überzeugung beziehen, weil ja sonst auch das passive Erdulden des Todes um einer einzelnen christlichen und sittlichen Forderung willen nicht Martyrium ge­nannt werden dürfte. Thomas verteidigt also in seinem Sentenzenkommentar einen umfassende­ren Begriff des Martyriums, so wie er hier vorge­schlagen wird.

Eine legitime «politische Theologie» und eine Theologie der Befreiung sollten sich dieser Be­griffserweiterung annehmen. Sie hat eine sehr konkrete praktische Bedeutung für ein Christen­tum und eine Kirche, die ihrer Verantwortung für Gerechtigkeit und Frieden in der Welt sich bewußt sein wollen.

Quelle: Concilium 19 (1983), S. 174-176.

Hier der Text als pdf.

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