Von Hans G. Ulrich
Ich bin euren Feiertagen gram und verachte sie und mag eure Versammlungen nicht riechen. Und wenn ihr mir auch Brandopfer und Speisopfer opfert, so habe ich kein Gefallen daran und mag auch eure fetten Dankopfer nicht ansehen. Tu weg von mir das Geplärr deiner Lieder; denn ich mag dein Harfenspiel nicht hören! Es ströme aber das Recht wie Wasser und die Gerechtigkeit wie ein nie versiegender Bach, spricht der HERR, der Gott Zebaoth heißt.
Liebe Gemeinde!
Mit diesen Worten, die wir eben gehört haben, ruft, ja schreit Gott seinem Volk zu, was ihn aufs äußerste erregt. Ein leidenschaftlicher Gott redet hier. Er sagt, was er haßt, und ebenso, was er leidenschaftlich erwartet. Kein aufgeregter Prophet, sondern Gott selbst in seiner ganzen Erregung spricht hier. Deshalb muß ich nicht versuchen, als ein lautstarker Prophet zu reden.
Gott selbst sagt, was er haßt und was er leidenschaftlich will. Leidenschaftlich: weil es um Leben und Tod geht. Das Leben und Überleben seines Volkes hängt daran, daß es erkennt, was grundverkehrt ist.
„Eure Gottesdienste helfen nicht, ich hasse sie! Suchet mich, so werdet ihr leben!“ ruft Gott seinem Volk zu – in letzter Minute, in der höchsten Gefahr, in der er sein Volk sieht. „Suchet mich, sonst ist es aus. So wie ihr lebt, kann Leben nicht gedeihen.“
Das ist kein Schock für den Sonntag, keine Gelegenheit für eine lange fällige Abrechnung. Eine lebenswichtige, weitreichende Erkenntnis will Gott wecken. Für eine Erkenntnis will er sein Volk gewinnen. Eine Erkenntnis, keine Angst oder Betroffenheit, mit der einer glaubt zu wissen, was die Gefahr ist, wird hier laut.
Gott ist selbst aufs äußerste betroffen. Deshalb kommt er auf die Gottesdienste zu sprechen. Er sieht die drohende Gefahr – mit allen Sinnen nimmt er sie wahr: So will er nicht mehr riechen, hören, sehen – von den Feiern und Liedern, von den Gottesdiensten. Er will uns die Augen öffnen für die Gefahr, die Ohren, unsere ganze Wahrnehmung.
So sind wir gefragt. Und nun kommt alles darauf an, nicht in die falsche Richtung zu sehen: vielleicht hinüber zur Kirchenmusik oder was uns jetzt einmal „dran zu sein“ scheint.
Die Gottesrede will uns auf den Ursprung der Gefahr aufmerksam machen, damit wir uns eben nicht von irgend einer wichtigen Kritik ablenken lassen!
„Ich bin euren Feiertagen gram und verachte sie … Tu weg von mir das Geplärr deiner Lieder ruft Gott. Dem können wir nicht durch Selbstkritik entsprechen wollen. Wie schön die auch immer gesungen haben – und wir dürfen sogar annehmen, daß dies gar nicht so schlecht gewesen ist: Gott hat Grund hier anzugreifen, genau hier, nicht irgendwo in der Welt: Hier im Gottesdienst sitzt der Ursprung der Gefahr.
Im Gottesdienst geschieht etwas Falsches. Eine „Grundverwechslung“ hat stattgefunden – sagt Martin Buber (zum Text) – zwischen dem, was Menschen erwarten, und dem, was Gott für sie bereithält: „Durch Opfergaben und Lieder“ wollte sich Israel loskaufen. Menschen versuchen, sich zu vergewissern, daß Gott hinter ihren Zielen und Vorstellungen steht: Du, Gott, meinst doch auch, daß das richtig ist, was ich vorhabe. Menschen versuchen, sich zu vergewissern, daß Gott gutheißt, was sie tun, daß sie „vor ihm“ bestehen können. Ob er noch richtig findet, wie ich mein Leben führe? Ob er es als gut befindet, wie wir uns in seiner Schöpfung verhalten, wie wir als Geschöpfe leben … ob er dies und jenes gut findet oder bis zu welcher „Grenze“ er richtig findet, was wir tun? Solche Vergewisserung findet statt, allüberall. Das ist „unser“ Gottesdienst.
Und während wir so fragen, überhören wir, was Gott will, und übersehen, was er uns schenken will. Auch Opfergaben, auch Lieder und Lobopfer sind Geschenke Gottes (Martin Buber!): In allem ist er zu hören! In den Liedern, die wir singen, können wir Gott hören. Auch in den Gebeten dürfen wir das hören, was er uns beten läßt. Sonst hören wir nur uns selbst im Gottesdienst; seinen Willen haben wir nicht gehört. In allem aber ist sein Wille zu hören.
Was aber will Gott?
Nichts, liebe Gemeinde, wird deutlicher gesagt als dies. Hier herrscht keine Unsicherheit, die Vergewisserung verlangt – kein Reden davon, welches Menschen werk das gefährlichste ist. Es wird die Lebensbedingung genannt, nicht eine Lösung fürs Überleben. Die Lebensbedingung für Gottes Volk sind Recht und Gerechtigkeit. Israel scheint wohl gewußt zu haben, was er meint. Eine Erklärung braucht es nicht. Was Gott von uns will, ist klar. Schon das Bild sagt klar, was Gott will. Recht und Gerechtigkeit sollen fließen wie ein Wasserstrom. Gemeint ist ein Fluß, der immer Wasser hat und nicht vertrocknet, kein Fluß, der einmal Wasser hat und einmal nicht. Es ist kein Regenguß gemeint, der vorübergeht – und alles ist wieder trok- ken. Es ist ein Fluß, der das ganze Jahr Wasser führt, an dem es sich wohnen läßt, an dem niemand verdursten muß.
Es ist der Fluß, auf den sich jeder verlassen kann. Ja, wir können sagen: Gott will, daß wir Menschen so ein „Fluß“ sind.
Das Bild sagt, was Recht und Gerechtigkeit sind: verläßliche Zugewandtheit, können wir sagen. „Gemeinschaftstreue“ hat man das genannt – auch deshalb, weil wir in unserer Sprache kein genaues Wort dafür haben. Halten wir uns an das Bild. Es zeigt das, worauf Menschen wirklich zählen können, womit sie rechnen können wie mit einem Fluß, der die Lebensader ist, an der Menschen wohnen können.
Leidenschaftlich kämpft Gott immer wieder um diese Einsicht: daß kein Mensch leben kann, der nicht an einer solchen Lebensader seine Wurzeln hat, der angewiesen bleibt auf einen Regentropfen, der ihn zufällig trifft. Leidenschaftlich kämpft Gott um die Erkenntnis dieser und keiner anderen Lebensbedingung. Es ist die „Struktur“, möchten wir heute sagen, auf die der Blick gelenkt wird. Wie ein Fluß die Landschaft durchzieht, so zeichnet sie Gott in unser Leben. Lebensadern: Da kann jeder hinzutreten und trinken.
Nur so kommen die Armen in den Blick: daß sie nicht von den zufälligen Wassertropfen leben, die sie treffen, sondern eine Lebensader finden. Das fragen viele Menschen: Worauf kann man sich noch verlassen? Wo gibt es einen Wasserstrom, der nicht plötzlich wieder austrocknet? Worin sind Menschen verläßlich? Wo wird etwas verbindlich?
Ich erinnere mich an einen Obdachlosen (er möge verstehen, daß er hier nicht „nur“ ein Beispiel ist), der einige Jahre regelmäßig zu uns kam. Oft kam er nur, wollte nichts, wollte auch nichts reden, wollte sich nur vergewissern, daß ihm die Tür aufgemacht wird – so hatten wir den Eindruck. Und später rief er an, aus der Telefonzelle, um zu wissen, daß wir da sind.
Was geschieht mit Menschen, wenn sie Hilfe oder Präsenz nur aufgrund des guten Willens von anderen erwarten können, wenn sie davon abhängig werden? Sie müssen versuchen, sich zu vergewissern. Aber das suchen sie nicht. Sie fragen nach Verbindlichkeit. Wo ist sie zu finden?
Wie schnell wird dies zur Lebensfrage, wenn wir bemerken, daß wir darauf angewiesen sind. Ein plötzlich bewegendes Mitleid, eine kurze Betroffenheit, eine augenblickliche Aufmerksamkeit? Solidarität ist in aller Munde! Sollte das „Recht und Gerechtigkeit“ meinen? „Solidarität“, lese ich diese Woche in der Zeitung, ist ein Strohfeuer. Es ist ein Zeichen für das, was fehlt. Auch „Gemeinschaft“ meint das oft, wenn wir davon reden.
Gottes Wort macht uns darauf aufmerksam: Gerechtigkeit soll fließen wie ein Wasserstrom. Und Gerechtigkeit hält diesen Vergleich aus! Nichts anderes.
Mich beschäftigt noch eine erregte Diskussion unter Kollegen unserer Universität über die jüngsten Affären um den Atommüll. Da gibt es Gesetze, Verordnungen, Verträge und Auflagen – aber die entscheidende Frage ist: Können Menschen noch als zuverlässig gelten? Darauf kommt es doch letztlich an! Und wenn diese Zuverlässigkeit für die Gemeinschaft fehlt, wenn sich zeigen sollte, daß es – sagen wir’s mit diesem Wort! – an dieser Gerechtigkeit, dieser für die Gemeinschaft lebenswichtigen Treue fehlt dann droht Gefahr. Wenn Menschen mit einer solchen Technik umgehen – wieviel menschliche Zuverlässigkeit braucht es dann? Das war die besorgte Frage in der Diskussionsrunde. Und Sie können sich vorstellen, wie sehr die Meinungen auseinandergingen.
Den einen oder anderen befällt die Frage, ob es denn solche „Gerechtigkeit“ unter den Menschen geben kann. Ob darauf wirklich zu setzen ist.
Gott hat sie in seinem Volk vermißt. Das Gegenteil war zu finden: überall der Versuch, sich zu vergewissern, daß Gott gutheißt, was sie tun! Die Botschaft des Alten und des Neuen Testamentes setzt hier ein: daß Recht und Gerechtigkeit Gott selbst zugeschrieben werden. Er ist der Wasserstrom: Er ist es, der zuverlässig den Menschen zugewandt ist. „Das Menschenvolk aber versagt sich dem Gottesstrom“, sagt Martin Buber, „sie weigern sich, ihn ins Leben einrieseln zu lassen, so daß die Wasser sich stauen, bis sie zerstörend niederstürzen und die Gerechtigkeit zum Gericht wird.“ Ist es so, daß wir in unserem Fragen nach Verbindlichkeit und Verläßlichkeit diese Treue Gottes meinen?
Das ist genau der Punkt, an dem Jesus mit seiner Predigt neu einsetzt: „Selig sind, die da hungert und dürstet nach der Gerechtigkeit, denn sie sollen satt werden.“ (Matthäus 5,6)
Werden sie satt werden?
In Israel und seiner Tradition hat man Geschichten erzählt von den „Gerechten“. Einzelne sind es gewesen. Immerhin, an ihnen war zu erfahren, was Gerechtigkeit, Gemeinschaftstreue meint. Und wenn wir dies lesen, machen wir die erstaunlichsten Entdeckungen. Zum Beispiel Josef, den seine Brüder nach Ägypten verkauft haben, wird ein „Gerechter“ genannt. Seine Gerechtigkeit, so sagt die Auslegung, besteht vor allem darin, daß er seinen Brüdern verziehen hat. Vergebung ist Teil, ja Grund der Gemeinschaftstreue.
Vergebung ist Gerechtigkeit, und Treue ist Gerechtigkeit, und verläßliche Zuwendung ist Gerechtigkeit, und unbeirrte Erkenntnis ist Gerechtigkeit, Verbindlichkeit ist Gerechtigkeit. Eine lange Reihe können wir aufzählen, wollten wir den Geschichten von den „Gerechten“ allen folgen. Auch daran sehen wir: Gerechtigkeit ist nichts, was wir herstellen können, sie ist selbst Lebensbedingung: der Boden, auf dem solche Geschichten von Menschen wachsen. Andere „Geschichten“ mögen vergessen sein.
Und daran erkennen wir: In Jesus Christus, dem Gerechten, fließen alle diese Geschichten zusammen. Durch ihn hat Gott uns seine Gerechtigkeit erwiesen. Darin dürfen wir die Gerechtigkeit gewinnen, die er uns schenkt, die wir durch keine Vergewisserung uns verschaffen können.
Und so ist diese Gerechtigkeit anderen mitzuteilen. Es ist der „Strom“, der uns selbst Leben gibt und durch uns hindurch strömt. Gottes Gerechtigkeit ist es, die wir mitzuteilen haben.
So predigt und lebt uns Jesus den Amostext.
Wenn Menschen aufhören, Gott für ihre Ziele in Anspruch zu nehmen, wenn sie aufhören, ihr Recht durchzusetzen; wenn wir nicht glauben, wir könnten Rechte wie Geldscheine verteilen, wenn wir selbst erkannt haben, was es heißt, von der Gerechtigkeit zu leben, und wenn wir beginnen, davon zu leben: Dann feiern wir in der rechten Weise Gottesdienst. Von dieser Gerechtigkeit werden dann auch die Armen satt.
Liebe Gemeinde, der Gefahr, in der Gott sein Volk sieht, tritt er nicht mit einer Zielvorstellung entgegen, in die wir am Ende unsere eigene einfügen könnten, unsere Zielvorstellung davon, was anders sein müßte: Gott tritt dieser Gefahr mit seiner Treue, der Gerechtigkeit entgegen, die er uns schenken will. Aus ihr zu leben, sind wir unseren Nächsten schuldig. Das sei unser Gottesdienst in der Welt.
Amen.
Quelle: Wolfgang Bub/Christian Eyselein/Günter R. Schmidt, Lebenswort. Erlanger Universitätspredigten. Manfred Seitz zum 60. Geburtstag, Erlangen: Junge & Sohn, 1988, S. 70-75.