In seinem satirischen Roman »Erewhon« – Anagramm des englischen Wortes nowhere (nirgendwo) -, dessen Handlung in einem gleichnamigen fiktiven Land spielt, entlarvte Samuel Butler 1872 die religiöse und gesellschaftliche Doppelmoral seiner Zeitgenossen als verkehrte Welt. Was er im 13. Kapitel über das Verhalten der Erewhonier gegenüber dem Tod beschreibt, scheint in unserer Gegenwart an Relevanz zu gewinnen.
Über den Tod (Kapitel 13 aus dem Roman Erewhon)
Von Samuel Butler
Die Erewhonier empfinden vor dem Tod weniger Abscheu als vor dem Kranksein. Falls er überhaupt ein Vergehen darstellt, dann jedenfalls eines, das sich dem Zugriff des Gesetzes entzieht, sodass dieses sich darüber ausschweigt. Sie behaupten jedoch, die meisten Menschen, von denen es gemeinhin heißt, sie seien gestorben, seien überhaupt noch nie zur Welt gekommen, jedenfalls nicht in jene unsichtbare Welt, die allein erstrebenswert ist. Was diese unsichtbare Welt anbetrifft, behaupten sie, wenn ich sie recht verstanden habe, dass die einen sie sich verscherzen, ehe sie noch die sichtbare erreicht haben, und andere nachher, während die wenigsten je wahrhaft in sie hineingeboren werden; die Mehrzahl der Menschen im ganzen Land verscherzen sie sich, solange sie noch in der sichtbaren Welt weilen. Und sie sagen, es liege gar nicht so viel daran, wie wir uns einbilden.
Was den sogenannten Tod anbetrifft, sind sie der Ansicht, es sei davon zu viel Aufhebens gemacht worden. Die Gewissheit, sagen sie, dass wir eines Tages sterben werden, macht uns nicht sehr unglücklich; niemand bildet sich ein, dass er dem Tod entgeht, und so wird auch niemand enttäuscht. Es macht uns auch nicht viel aus, wenn wir wissen, dass wir nicht mehr lange zu leben haben; das einzige, was uns ernstlich zu schaffen machen würde, wäre, genau zu wissen – oder, besser gesagt, zu glauben, wir wüssten es –, in welchem Augenblick es uns dereinst trifft. Zum Glück kann niemand das genau wissen, wenn auch manche sich selber unglücklich machen, indem sie sich bemühen, es herauszufinden. Es ist, als gäbe es irgendwo eine Macht, die uns gnädigerweise davon zurückhält, dem Tod auch noch diesen Stachel einzufügen, was sicher geschähe, wenn wir es könnten, und die dafür sorgt, dass der Tod, obwohl immer ein Schreckgespenst, unter gar keinen Umständen jemals mehr als ein Schreckgespenst sein wird.
Selbst wenn einer dazu verurteilt ist, binnen einer Woche zu sterben, und in einem Gefängnis sitzt, aus dem es kein Entweichen gibt, so hofft er doch immer noch auf rechtzeitige Begnadigung. Außerdem könnte ja das Gefängnis in Brand geraten, sodass er statt durch den Strick durch gewöhnlichen Qualm ums Leben käme, oder er könnte im Gefängnishof vom Blitz getroffen werden. Wenn der Morgen da ist, an dem der arme Teufel gehängt werden soll, dann erstickt er vielleicht an seinem Frühstück oder stirbt an einem Herzschlag, bevor das Fallbrett unter ihm nachgibt, und selbst wenn er das noch erlebt, ist er des Todes immer noch nicht ganz sicher; denn sicher kann er es erst wissen, wenn der Tod eingetreten ist, und dann ist es zu spät. Die Erewhonier sind deshalb der Ansicht, der Tod – wie auch das Leben – sei mehr eine Sache der Angst als der Pein.
Sie kremieren ihre Toten, und die Asche wird dann an irgendeiner Stelle verstreut, die der Verstorbene selber bestimmen kann. Niemand darf einem Toten diese Gastfreundschaft verweigern; die meisten nennen deshalb einen Garten oder sonst einen Lieblingsplatz, den sie in ihrer Jugend kannten. Abergläubische Leute behaupten, dass diejenigen, deren Asche auf irgendeinem Stück Land ausgestreut wird, von da an eifersüchtig darüber wachen; und die Lebenden gefallen sich in dem Gedanken, mit diesem oder jenem Ort eins zu werden, an dem sie einst glücklich waren.
Gedenksteine mit Inschriften werden keine aufgestellt, obwohl sie in früheren Zeiten denselben Gebräuchen huldigten wie wir. Stattdessen ist ein neuer Brauch aufgekommen, der ungefähr auf dasselbe hinausläuft; der Trieb, seinen Namen über den leiblichen Tod hinaus zu verewigen, wohnt offenbar der ganzen Menschheit inne. Sie lassen zu ihren Lebzeiten Statuen von sich selber machen (das heißt diejenigen, die es sich leisten können) und schreiben selber Sprüche darunter, die oft ebenso unwahr sind wie unsere Grabsprüche, nur in einem anderen Sinn. Sie tragen nämlich keine Bedenken, sich selber als Opfer ihrer Unverträglichkeit, Eifersucht, Sinnlichkeit oder dergleichen zu bezeichnen, schreiben sich dagegen fast immer körperliche Schönheit zu, ob dies nun zutrifft oder nicht, und oft auch den Besitz eines größeren Aktienpaketes. Wenn einer hässlich ist, dann sitzt er dem Bildhauer nicht selber; er veranlasst den schönsten unter seinen Freunden, für ihn einzuspringen, und wenn man jemand ein Kompliment machen will, dann bittet man ihn, für ein solches Denkmal Modell zu stehen oder zu sitzen. Die Frauen stehen für ihre Statue meistens selber Modell, da sie nicht gerne zugeben, dass jemand anders schöner ist als sie; doch erwarten sie, dass der Bildhauer es nicht so genau nimmt. Ich habe mir sagen lassen, die Menge dieser Statuen werde in den meisten Familien allmählich als lästig empfunden, und der Brauch werde wohl bald in Verfall geraten.
Dies ist sogar zur allgemeinen Befriedigung bereits eingetreten, was die auf öffentlichen Plätzen aufgestellten Denkmäler anbetrifft, von denen in der ganzen Hauptstadt nicht mehr als drei zu finden sind. Als ich meine Verwunderung darüber ausdrückte, wurde mir gesagt, etwa fünfhundert Jahre früher hätten sich überall in der Stadt diese Gräuel so breitgemacht, dass sie den Verkehr behinderten und die Leute nicht mehr aus noch ein wussten, weil sie sich ständig auf etwas aufmerksam gemacht sahen, das sich bei näherem Hinschauen als für sie belanglos erwies. Die meisten dieser Statuen entsprangen bloß dem Bestreben, für einen Mann oder eine Frau das zu tun, was einer, der Tiere ausstopft, mit mehr Erfolg für einen Hund, einen Vogel oder einen Hecht tut. Gewöhnlich wurden sie der Öffentlichkeit von irgendeinem Klüngel aufgedrängt, der sich selber wichtigmachen wollte, indem er jemand anders wichtig machte, und was den Anstoß dazu gab, war oft nichts Dringenderes, als dass irgendein Mitglied des betreffenden Klüngels einem jungen Bildhauer, mit dem seine Tochter verlobt war, einen Auftrag zuschanzen wollte. Denkmäler, die auf diese Weise entstanden, konnten nie etwas anderes als Missgeburten sein, und auf diese Weise werden sie unweigerlich entstehen, sobald einmal die Kunst, solche zu verfertigen, sich ausgebreitet hat.
Ich weiß nicht, warum; aber die hohen Künste halten sich alle nur sehr kurze Zeit auf der Höhe. Dann beginnen sie zu verfallen, und wenn der Verfall einmal eingesetzt hat, ist es schade, dass man ihnen nicht eins aufs Haupt geben kann; denn eine Kunst ist wie ein Lebewesen: besser tot als langes Siechtum. Es gibt kein Mittel, eine alt gewordene Kunst zu verjüngen; sie muss wieder neugeboren werden, muss als etwas Neues aus den Kinderschuhen herauswachsen und sich ihren eigenen Sinn und Segen erarbeiten, von Bemühung zu Bemühung, mit Zittern und Zagen.
Davon hatten die Erewhonier vor fünfhundert Jahren allerdings keine Ahnung; es fragt sich sogar, ob sie heute etwas davon ahnen. Was sie wollten, war etwas, das einem ausgestopften Menschen so nahe als möglich kam, ohne mit der Zeit zu verschimmeln. Sie hätten so etwas haben sollen wie Madame Tussauds Wachsfigurenkabinett, wo die Gestalten richtige Kleider tragen und naturgetreu bemalt sind. Außerdem hätte ein solches Museum sich selber erhalten: durch das Eintrittsgeld, das man hätte verlangen können. Stattdessen hatten sie ihre armseligen, farblosen und bekleckerten Helden und Heldinnen auf Straßen und Plätzen herumlungern lassen, noch dazu bei jeder Witterung, ohne irgendeinen Ansatz zu einem künstlerischen Abfuhrwesen; es war nirgends vorgesehen, tote Kunstwerke irgendwo zu verscharren, es gab keine Kanalisation, gewissermaßen, mittels welcher Denkmäler, die sich dem Stadtbild genügend einverleibt hatten, um in den Gesamteindruck eingegangen zu sein, als nicht weiter verdaulich hätten ausgeschieden werden können. So stellten sie sie denn leichten Herzens auf, wenn irgendein Klüngel danach krähte, und dann mussten sie und ihre Kinder oft genug mit irgendeinem windigen Phrasendrescher leben, dessen Feigheit das Land massenhaft Blut und Geld gekostet hatte.
Schließlich nahm das Übel so überhand, dass das Volk sich erhob und in wahlloser Wut alles zerstörte, das Gute mit dem Schlechten. Das meiste, was zerstört wurde, war schlecht; aber einige gute Arbeiten waren doch darunter, und heute ringen die Bildhauer die Hände, wenn sie die paar Bruchstücke betrachten, die da und dort in einem Museum aufbewahrt werden. Etwa zwei Jahrhunderte lang entstand vom einen Ende des Landes zum andern nicht ein einziges Denkmal. Allein, das Bedürfnis nach ausgestopften Menschen war so stark, dass man schließlich doch wieder versuchte, solche herzustellen. Da die frühesten Bildhauer dieser Zeit nicht wussten, wie sie es anfangen sollten, und keine Kunstakademien hatten, um sich irreführen zu lassen, dachten sie sich selber etwas aus und brachten abermals Kunstwerke hervor, die sehr beachtenswert waren, sodass sie in drei oder vier Generationen eine Höhe erreichten, die sich mit der mehrere Jahrhunderte zurückliegenden durchaus vergleichen ließ.
Dann riss wieder derselbe Unfug ein. Bildhauer erzielten hohe Preise, die Kunst wurde zum Gewerbe, Schulen entstanden, die sich anheischig machten, den heiligen Geist der Kunst um Geld zu verkaufen, Schüler strömten von nah und fern herbei, um ihn zu kaufen, in der Hoffnung, ihn später wieder an den Mann zu bringen, und wurden als Strafe für die Sünde derjenigen, die sie geschickt hatten, mit Blindheit geschlagen. Es wäre nicht mehr lange gegangen und ein neuer Bildersturm wäre losgebrochen, wenn nicht ein weitblickender Staatsmann ein Gesetz durchgebracht hätte, wonach kein Denkmal länger als fünfzig Jahre stehenbleiben durfte, ohne abgebrochen zu werden, sofern nicht nach Ablauf dieser Zeit ein Gremium von vierundzwanzig Mann, aufs Geratewohl von der Straße geholt, sich zugunsten einer weiteren Zeitspanne von fünfzig Jahren aussprach. Alle fünfzig Jahre musste ein Denkmal in Wiedererwägung gezogen werden, und wenn nicht eine Mehrheit von achtzehn befand, es sei beizubehalten, dann war es zu zerstören.
Einfacher wäre es vielleicht gewesen, das Errichten von Denkmälern für berühmte Zeitgenossen zu verbieten, bis der oder die Betreffende mindestens hundert Jahre lang tot war, und auch dann noch alle fünfzig Jahre wieder in Erwägung zu ziehen, ob Gegenstand und Standbild es verdienten, erhalten zu bleiben. Im großen Ganzen waren jedoch die Auswirkungen des Gesetzes zufriedenstellend. Erstens wurden viele Denkmäler, die früher beschlossen worden wären, gar nicht erst beantragt, falls man sich sagen musste, dass sie nach fünfzig Jahren höchstwahrscheinlich doch wieder abgebrochen würden, und zweitens lieferten die Bildhauer in Anbetracht der Vergänglichkeit ihrer Werke solche Pfuscharbeit ab, dass sie jedermann, auch dem Ungebildeten, ein Gräuel war. So dauerte es denn nicht lange, bis die Auftraggeber dazu übergingen, den Bildhauer dafür zu bezahlen, dass er die Statue für einen verstorbenen Staatsmann nicht ausführe. Damit wurde dem Toten die gebührende Ehre erwiesen, die für den Staat arbeitenden Bildhauer erlitten keine Einbuße, und der Bevölkerung war auch gedient.
Man sagte mir jedoch, dass bereits ein neuer Missbrauch eingerissen habe, insofern als die Aufträge, ein Denkmal nicht auszuführen, so begehrt seien, dass es bereits Bildhauer gebe, die sich mit den Auftraggebern vorher dahin einigen, dass sie ihnen einen Teil des Honorars zurückerstatten, selbstverständlich ohne dass dies an die große Glocke gehängt würde. Eine Platte mit einer Aufschrift wird jeweils in das Straßen-pflaster eingelassen, an der Stelle, wo das Denkmal errichtet worden wäre, worauf zu lesen steht, dass hier für den oder jenen ein Standbild in Auftrag gegeben wurde, dass jedoch der Bildhauer noch nicht dazugekommen sei, es zu vollenden. Skulpturen für den Privatgebrauch sind von Gesetzes wegen keinen Einschränkungen unterworfen; aber auch diese Unsitte ist, wie bereits bemerkt, am Aussterben.
Um auf die erewhonischen Gebräuche bei Todesfällen zurückzukommen, gibt es da einen, den ich nicht übergehen darf. Wenn jemand stirbt, schreiben die Freunde der Familie keine Beileidsbriefe, auch wohnen sie dem Verstreuen der Asche nicht bei, noch tragen sie Trauerkleidung, dagegen schicken sie den Hinterbliebenen hübsche Schächtelchen mit künstlichen Tränen darin und dem Namen des Absenders auf dem Deckel. Die Zahl der Tränen schwankt zwischen zwei und fünfzehn oder sechzehn, je nachdem die Betreffenden mehr oder weniger befreundet oder verwandt sind; und es ist manchmal eine recht knifflige Frage, welches in einem bestimmten Fall die richtige Anzahl ist, die geschickt werden sollte. So seltsam es klingt, diese Aufmerksamkeit wird höchlich geschätzt, und es wird sehr übel vermerkt, wenn jemand, von dem sie erwartet wird, sie aus Versehen unterlässt. Früher wurden diese Glastränen mit Klebstreifen an den Wangen der Leidtragenden befestigt und einige Monate lang in der Öffentlichkeit getragen; dann wurden sie auf den Hut oder die Haube verbannt, und heute werden sie überhaupt nicht mehr getragen.
Die Geburt eines Kindes wird als etwas Peinliches betrachtet, von dem man lieber gar nicht spricht; der Zustand der Mutter wird geflissentlich verheimlicht, bis die Notwendigkeit, den Geburtsschein zu unterzeichnen (wovon später mehr), jede weitere Heimlichtuerei unmöglich macht, und die letzten Monate vor dem Ereignis lebt die Familie zurückgezogen und empfängt nur wenig Besuch. Wenn das Delikt dann einmal der Vergangenheit angehört, setzt man sich mit dem allgemeinen Mangel an folgerichtigem Denken darüber hinweg; denn diese gnädige Fürsorge der Natur, dieser Rammschutz, dieser Rechenfehler, ohne den das Dasein nicht erträglich wäre, diese letzte glorreiche Errungenschaft des Menschengeistes, durch welche es uns gegeben ist, in ein und demselben Augenblick blind zu sein und doch zu sehen, die segensreiche Unfolgerichtigkeit ist hier ebenso vorhanden wie überall; und obwohl besonders sittenstrenge Schriftsteller behauptet haben, Kinder zu kriegen sei etwas Verwerfliches, insofern als es unrecht sei, Beschwerden zu ertragen, auf dass Gutes daraus entsprieße, so hat doch die in diesem Fall bestehende Notwendigkeit bewirkt, dass jedermann dafür ist, dergleichen Ereignisse mit Stillschweigen zu übergehen und so zu tun, als seien sie nicht da, außer in krassen Fällen, die sich beim besten Willen nicht übersehen lassen. Diese allerdings werden von der Allgemeinheit erbarmungslos verurteilt, und wenn sich die Krankheit allzu lange hinzieht und Lebensgefahr mit sich bringt, ist es für eine Frau fast unmöglich, ihre frühere Stellung in der Gesellschaft wiederzuerlangen.
Mir kamen diese Anschauungen willkürlich und herzlos vor; immerhin, sie machen viel eingebildeten Beschwerden ein Ende; der Zustand der Frau erweckt nämlich nicht nur keine Teilnahme, sondern wird geradezu als anstößig und anrüchig betrachtet, sodass er so lange als möglich verheimlicht wird, selbst vor dem eigenen Mann, von dem eine Frau nichts als ei-ne scharfe Rüge zu gewärtigen hat, wenn ihre schmähliche Verfassung entdeckt wird. Auch vom Säugling darf man nichts sehen (außer am Tage der Unterzeichnung des Geburtsscheins), bis das Kind gehen und sprechen kann. Sollte es unglücklicherweise sterben, lässt sich eine Totenschau zwar nicht vermeiden; um einer Familie, die bis dahin wohlangesehen war, die öffentliche Schande zu ersparen, lautet der Befund dann allerdings fast immer, dass das Kind über fünfundsiebzig Jahre alt war und an Altersschwäche starb.
Quelle: Samuel Butler, Erewhon, übersetzt und mit einem Nachwort versehen von Fritz Güttinger, Zürich: Manesse Verlag, 1961.