Zehn Thesen über die Person (Modifizierte Fassung)
Von Viktor E. Frankl
Wann immer von Person die Rede ist, assoziieren wir unfreiwillig an einen andern Begriff, der den Person-Begriff überschneidet, – an den Begriff »Individuum». Tatsächlich – und dies ist auch schon die erste These, wie wir hiemit aufstellen, – ist
1. die Person ein Individuum: die Person ist etwas Unteilbares – sie läßt sich nicht weiter unterteilen, nicht aufspalten, und zwar deshalb nicht, weil sie Einheit ist. Nicht einmal in der sogenannten Schizophrenie, dem »Spaltungsirresein«, kommt es wirklich zu einer Spaltung der Person. Auch im Hinblick auf gewisse andere krankhafte Zustände wird in der klinischen Psychiatrie nicht von Spaltung der Persönlichkeit gesprochen, ja, heutzutage nicht einmal von »double conscience«, vielmehr nur von alternierendem Bewußtsein. Allein, bereits zur Zeit, als Bleuler den Begriff einer Schizophrenie prägte, schwebte ihm kaum oder nicht so sehr eine wahre Spaltung der Person vor als vielmehr eine Abspaltung bestimmter Assoziationskomplexe eine Möglichkeit, an die man seinerzeit, im Banne der damals zeitgenössischen Assoziationspsychologie stehend, glaubte.
2. Die Person ist nicht nur in-dividuum, sondern auch in-summabile; d. h. sie ist nicht nur unteilbar, sondern auch nicht verschmelzbar, und dies ist sie deswegen, weil sie nicht nur Einheit, sondern auch Ganzheit ist. Als solche geht sie auch unmöglich in höheren Ordnungen ganz auf – wie etwa in der Masse, in der Klasse, in der Rasse: all diese der Person überordenbaren »Einheiten« bzw. »Ganzheiten« sind keine personalen Entitäten, sondern höchstens pseudopersonal. Der Mensch, der in ihnen aufzugehen meint, geht in Wirklichkeit in ihnen bloß unter; in ihnen »aufgehend«, gibt er sich selbst als Person eigentlich auf.
Sehr wohl teilbar und verschmelzbar ist hingegen, im Gegensatz zur Person, das Organische. Zumindest haben dies uns die bekannten Experimente von Driesch gelehrt und bewiesen, wie er sie an Hand von Seeigeleiern vorgenommen hat. Ja, mehr als dies: Teilbarkeit und Verschmelzbarkeit sind sogar die Bedingung und Voraussetzung von so etwas wie Fortpflanzung. Daraus ergibt sich nicht mehr und nicht weniger, als daß die Person als solche eben nicht fortpflanzbar ist: nur der Organismus ist es, was jeweils fortgepflanzt wird, was – von den elterlichen Organismen – geschaffen wird; die Person, der personale Geist, die geistige Existenz – sie kann der Mensch nicht weitergeben.
3. Jede einzelne Person ist ein absolutes Novum. Bedenken wir doch bloß: Der Vater wiegt post coitum um ein paar Gramm und die Mutter post partum um ein paar Kilogramm weniger; aber der Geist erweist sich hier als ein wahres Imponderabile. Oder werden die Eltern, wenn mit ihrem Kinde ein neuer Geist entsteht, etwa ärmer an Geist? Können die Eltern, wenn in ihrem Kinde ein neues Du ersteht – ein neues Wesen, das zu sich »ich« sagen kann –, vielleicht um ein Jota weniger zu sich »ich« sagen? Wir sehen schon: Mit jedem Menschen, der zur Welt kommt, wird ein absolutes Novum ins Sein gesetzt, zur Wirklichkeit gebracht; denn die geistige Existenz ist unübertragbar, ist nicht fortpflanzbar von den Eltern aufs Kind. Was allein fortpflanzbar ist, sind die Bausteine – aber nicht der Baumeister.
4. Die Person ist geistig. Und so steht die geistige Person in heuristischem und fakultativem Gegensatz zum psychophysischen Organismus. Dieser, der Organismus, ist das Insgesamt von Organen, und das heißt von Werkzeugen. Die Funktion des Organismus – die Aufgabe, die er für die ihn tragende (und von ihm getragene) Person zu erfüllen hat, – ist so fürs erste einmal eine instrumentale – und, darüber hinaus, eine expressive: die Person bedarf ihres Organismus, um zu handeln und um sich ausdrücken zu können. Als Werkzeug, das er in diesem Sinne ist, ist der Organismus Mittel zum Zweck, und als solches hat er Nutzwert. Der Gegenbegriff zu dem des Nutzwertes ist nun der der Würde; Würde aber kommt der Person allein zu, und sie kommt ihr zu wesentlich unabhängig von aller vitalen und sozialen Utilität.[1]
Erst wer dies übersieht und nur wer dies vergißt, kann die Euthanasie für gerechtfertigt erachten. Wer jedoch um die Würde, die unbedingte Würde jeder einzelnen Person weiß, hat auch unbedingte Ehrfurcht vor der menschlichen Person – auch vor dem kranken Menschen, auch vor dem unheilbaren Kranken und auch noch vor dem unheilbar Geisteskranken. In Wahrheit gibt es nämlich gar keine »Geistes»-Krankheiten. Denn der »Geist«, die geistige Person selbst, kann überhaupt nicht krank werden, und auch noch hinter der Psychose ist sie da, wenn auch selbst dem Blick des Psychiaters kaum »sichtbar». Ich habe dies einmal als das psychiatrische Credo bezeichnet: diesen Glauben an das Fortbestehen der geistigen Person auch noch hinter der vordergründigen Symptomatik psychotischer Erkrankung; denn wenn dem nicht so wäre, so sagte ich, dann stünde es auch nicht mehr dafür, als Arzt den psychophysischen Organismus in Ordnung zu bringen, zu »reparieren«. Freilich: wer nur diesen Organismus im Auge hat und nicht auch die dahinterstehende Person im Auge behält, muß den einmal irreparabel gewordenen Organismus – mangels irgendeines Nutzwertes – zu euthanasieren bereit sein: von der hievon unabhängigen Würde der Person weiß er ja nichts. Die von einem so denkenden Arzt repräsentierte Gestaltung des Arztseins ist die des médecin technicien; dieser Ärztetypus aber, der médicin technicien, verrät mit solchem Denken nur, daß für ihn der kranke Mensch ein homme machine ist.
Nicht nur eine Erkrankung kommt nur an den psychophysischen Organismus, aber nicht an die geistige Person heran, sondern auch die Behandlung. Dies sei im Hinblick auf die Leukotomiefrage gesagt. Auch das Messer des Neurochirurgen – oder, wie er heutigentags genannt wird: des Psychochirurgen – vermag nicht, die geistige Person zu tangieren. Was die Leukotomie einzig und allein ausrichten (oder anrichten) kann, ist: die psychophysischen Bedingungen beeinflussen, unter denen die geistige Person steht, – und wann immer die in Frage stehende Operation überhaupt indiziert war, werden diese Bedingungen à la longue verbessert sein. So läuft die Indikation dieses Eingriffes letztlich auf ein Abwägen zwischen dem jeweils kleineren und größeren Übel hinaus; es ist jeweils abzuwägen, ob das Handicap, das durch die Operation gesetzt werden könnte, geringer ist als das durch die Krankheit gegebene. Erst und nur dann ist der Eingriff berechtigt. Schließlich haftet allem ärztlichen Tun die unumgängliche Notwendigkeit an, zu opfern, d. h. mit einem kleineren Übel zu bezahlen und die Ermöglichung von Bedingungen zu erkaufen, unter denen die Person, nicht mehr eingeengt und eingeschränkt durch die Psychose, sich erfüllen und verwirklichen kann.
Eine unserer eigenen Kranken hatte an einer schwersten Zwangskrankheit gelitten und war deswegen nicht nur viele Jahre hindurch psychoanalytisch und individualpsychologisch, sondern auch mit Insulin-, Cardiazol- und Elektroschocks behandelt worden – ohne Effekt[2]. Wir veranlaßten daraufhin nach vergeblichen eigenen psychotherapeutischen Versuchen die Leukotomie, die auch einen schlechterdings frappanten Erfolg zeitigte. Lassen wir jedoch die Kranke selber zu Wort kommen: »Es geht mir viel, viel besser; ich kann wieder so arbeiten wie zur Zeit, als ich gesund war; die Zwangsvorstellungen sind da, aber ich kann mich ihrer erwehren; früher konnte ich z. B. gar nicht lesen vor lauter Zwang; ich mußte alles zehnmal lesen; jetzt muß ich nichts mehr wiederholen.« Wie stand es nun etwa um ihre ästhetischen Interessen – von deren Schwinden manche Autoren sprechen: »Für Musik habe ich nun endlich wieder sehr großes Interesse.« Und wie um ihr ethisches Interesse? Die Kranke zeigt lebhaftes Mitleid und äußert, aus diesem Mitleid heraus, nur den einen Wunsch: daß auch andern, so wie einstmals sie selber Leidenden so wie ihr und auf dem selben Wege geholfen werde! Und nun fragen wir sie darnach, ob sie sich irgendwie verändert fühle: »Ich lebe jetzt in einer andern Welt; man kann das eigentlich mit Worten gar nicht so sagen; das war ja früher keine Welt für mich; das war ja nur ein Vegetieren auf einer Welt, aber kein Leben; ich war zu gequält; jetzt ist das weg; das bißchen, was noch auftaucht, kann ich schnell überwinden.« (Sind Sie »Sie selbst« geblieben?) »Ich bin anders geworden.« (Inwiefern?) »Das ist jetzt doch wieder ein Leben.« (Wann sind Sie eher »Sie selbst« gewesen bzw. geworden?) »Jetzt, nach der Operation; das ist alles viel natürlicher als damals; damals war alles Zwang; was existiert hat für mich, war Zwang; jetzt ist alles mehr so, wie es eben sein soll; ich finde wieder zurück; vor der Operation war ich überhaupt kein Mensch, sondern nur ein Übel für die Menschheit und für mich selbst; jetzt sagen mir auch schon die andern Leute, daß ich ganz anders bin.« Auf die direkte Frage, ob sie ihr Ich verloren habe, antwortet sie nun folgendes: »Das habe ich verloren gehabt; durch die Operation bin ich wieder zu mir selbst zurückgekommen, zu meiner Person.« (Dieser Ausdruck war bei allen Fragestellungen absichtlich gemieden worden!) Dieser Mensch war also durch die Operation eher Mensch geworden – »er selbst« geworden.[3]
Aber nicht nur die Physiologie kommt, wie sich gezeigt hat, an die Person nicht heran, sondern auch der Psychologie gelingt dies nicht – zumindest nicht dann, wenn sie dem Psychologismus verfallen ist; um der Person ansichtig bzw. zumindest kategorial gerecht zu werden, bedürfte es vielmehr einer Noologie.
Bekanntlich hat es einmal eine »Psychologie ohne Seele« gegeben. Sie ist längst schon überwunden; der heutigen Psychologie kann jedoch der Vorwurf nicht erspart werden, daß sie vielfach eine Psychologie ohne Geist ist. Diese geist-lose Psychologie ist, als solche, nicht nur blind für die Würde der Person ebenso wie für die Person selbst, sondern auch wertblind – blind für jene Werte, die das weithafte Korrelat zum personalen Sein sind: für die Welt des Sinnes und der Werte als Kosmos – für den Logos.
Der Psychologismus projiziert die Werte aus dem Raum des Geistigen in die Ebene des Seelischen – wo sie mehrdeutig werden: auf dieser Ebene, sei es der Psychologie, sei es der Pathologie, läßt sich längst nicht mehr unterscheiden zwischen den Visionen einer Bernadette und den Halluzinationen einer beliebigen Hysterikerin. Ich pflege das den Studenten im Kolleg für gewöhnlich begreiflich zu machen, indem ich sie auf die Tatsache verweise, daß sich aus dem gleichermaßen zweidimensionalen kreisförmigen Grundriß einer dreidimensionalen Kugel, eines Kegels und eines Zylinders nicht mehr ersehen läßt, worum es sich jeweils handelt. In psychologischer Projektion wird aus dem Gewissen ein Oberich bzw. die »Introjektion« der »Vaterimago« und aus Gott die »Projektion« dieser Imago – während in Wahrheit diese psychoanalytische Deutung selber eine Projektion, nämlich eine psychologistische, darstellt.
5. Die Person ist existentiell; damit ist gesagt, daß sie nicht faktisch ist, nicht der Faktizität angehört. Der Mensch, als Person, ist kein faktisches, sondern ein fakultatives Wesen; er existiert als je seine eigene Möglichkeit, für oder gegen die er sich entscheiden kann. Menschsein ist, wie Jaspers es gekennzeichnet hat, »entscheidendes« Sein: es entscheidet jeweils erst noch, was es im nächsten Augenblick sein wird, Als entscheidendes Sein steht es in diametralem Gegensatz dazu, als was es von der Psychoanalyse hingestellt wird: nämlich zum Getrie- ben-sein. Mensch-sein ist, wie ich selbst es immer wieder bezeichne, zutiefst und zuletzt Verantwortlich-sein. Damit erscheint aber auch schon ausgesagt, daß es mehr ist als bloßes Frei-sein: in der Verantwortlichkeit ist das Wozu der menschlichen Freiheit mit gegeben – das, wozu der Mensch frei ist – wofür oder wogegen er sich entscheidet.
Im Gegensatz zur Psychoanalyse ist die Person somit im Aspekt einer Existenzanalyse, wie ich sie zu entwerfen versucht habe, nicht triebdeterminiert, sondern sinnorientiert; im Gegensatz zur psychoanalytischen ist sie in existenzanalytischer Optik nicht luststrebig, sondern wertstrebig. In der psychoanalytischen Konzeption sexueller Getriebenheit (libido!) und in der individualpsychologischen Konzeption sozialer Gebundenheit (Gemeinschaftsgefühl!) sehen wir nichts anderes als je einen defizienten Modus eines ursprünglicheren Phänomens: der Liebe. Liebe ist allemal der Bezug zwischen einem Ich und einem Du – von welchem Bezug in psychoanalytischer Schau nur das »Es« übrigbleibt – die Sexualität während in individualpsychologischer Sicht eine ubiquitäre Sozialität zurückbleibt – ich möchte sagen: das »Man«.
Sieht die Psychoanalyse das menschliche Dasein als beherrscht an von einem Willen zur Lust, und die Individualpsychologie als bestimmt vom »Willen zur Macht«, so die Existenzanalyse als durchwaltet von einem Willen zum Sinn. Sie kennt nicht nur einen »Kampf ums Dasein« und, darüber hinaus, allenfalls auch noch »gegenseitige Hilfe« (Peter Kropotkin), sondern auch das Ringen um den Sinn des Daseins – und gegenseitigen Beistand in diesem Ringen. Wesentlich solcher Beistand ist nun das, was wir Psychotherapie nennen: sie ist wesentlich Médicine de la personne (Paul Tournier). Daraus erhellt, daß es in der Psychotherapie letztlich nicht um affektdynamische und triebenergetische Umsetzungen geht, sondern um eine existentielle Umstellung.
6. Die Person ist ichhaft, also nicht eshaft: sie steht nicht unter dem Diktat des Es – eine Diktatur, die Freud im Sinne gehabt haben mag, als er behauptete, das Ich sei nicht Herr im eigenen Haus. Die Person, das Ich, läßt sich nicht nur in dynamischer, sondern auch in genetischer Hinsicht keineswegs vom Es, von der Triebhaftigkeit herleiten: der Begriff von »Ichtrieben« ist als in sich widersprüchig ganz und gar abzulehnen. Wohl aber ist die Person – ist auch sie – auch unbewußt: und zwar gerade dort, wo das Geistige wurzelt, – gerade in seinem Quellgrund ist es nicht nur fakultativ, sondern obligat unbewußt. Im Ursprung, im Grunde, ist der Geist unreflektierter und insofern eben unbewußter reiner Vollzug. Wir haben also sehr genau zu unterscheiden zwischen jenem triebhaft Unbewußten, mit dem allein die Psychoanalyse es zu tun hatte, und dem geistig Unbewußten. Zu ihm, zur unbewußten Geistigkeit, gehört aber auch die unbewußte Gläubigkeit, die unbewußte Religiosität – als unbewußte, ja nicht selten verdrängte eingeborene Beziehung des Menschen zur Transzendenz. Es ist das Verdienst von C. G. Jung, sie aufgehellt zu haben; der Fehler jedoch, den er beging, bestand darin, daß er diese unbewußte Religiosität dorthin lokalisierte, wohin die unbewußte Sexualität zu lokalisieren ist: ins triebhaft Unbewußte, ins Eshafte. Allein, zum Glauben an Gott und zu Gott selbst werde ich nicht getrieben, sondern für oder gegen ihn habe ich mich zu entscheiden; Religiosität ist ichhaft, oder sie ist gar nicht.
7. Die Person ist nicht nur Einheit und Ganzheit (siehe sub 1. und sub 2.), sondern die Person stiftet auch Einheit und Ganzheit: sie stiftet die leiblich-seelisch-geistige Einheit und Ganzheit, die das Wesen »Mensch« darstellt. Diese Einheit und Ganzheit wird erst von der Person gestiftet, gegründet und gewährleistet – sie wird nur durch die Person konstituiert, fundiert und garantiert. Wir Menschen kennen die geistige Person überhaupt nur in Koexistenz mit ihrem psychophysischen Organismus. Der Mensch stellt sonach einen Schnittpunkt, eine Kreuzungsstelle dreier Seinsschichten dar: der leiblichen, seelischen und geistigen. Diese Seinsschichten können nicht sauber genug voneinander gesondert werden (vgl. Jaspers, N. Hartmann). Dennoch wäre es falsch zu sagen, der Mensch »setzt« sich aus Leiblichem, Seelischem und Geistigem »zusammen»: ist er doch eben Einheit und Ganzheit – aber innerhalb dieser Einheit und Ganzheit »setzt« sich das Geistige im Menschen mit dem Leiblichen und Seelischen an ihm »auseinander». Dies macht das aus, was ich einmal den noo-psychischen Antagonismus[4] genannt habe. Während der psychophysische Parallelismus ein obligater ist, ist nun der noo-psychische Antagonismus ein fakultativer: er ist immer nur Möglichkeit, bloße Mächtigkeit – allerdings eine Mächtigkeit, an die immer wieder appelliert werden kann, und zwar gerade von ärztlicher Seite appelliert werden muß: immer wieder gilt es, die »Trotzmacht des Geistes«, wie ich sie genannt habe, aufzurufen gegen die nur scheinbar so mächtige Psychophysis. Gerade die Psychotherapie kann dieses Aufrufs nicht entraten, und ich habe es als das zweite, das psychotherapeutische Credo bezeichnet: den Glauben an diese Fähigkeit des Geistes im Menschen, unter allen Bedingungen und Umständen irgendwie abzurücken vom und sich in fruchtbare Distanz zu stellen zum Psychophysikum an ihm. Stünde es – zufolge dem ersten, psychiatrischen Credo – nicht dafür, den psychophysischen Organismus zu »reparieren«, wofern nicht eine trotz aller Erkrankung integre geistige Person dieser Wiederherstellung harrte, so wären wir – dem zweiten Credo zufolge – gar nicht imstande, das Geistige im Menschen gegenüber dem Leiblich-Seelischen an ihm zur Trotzmacht aufzurufen, wofern es den noo-psychischen Antagonismus nicht gäbe.
8. Die Person ist dynamisch: eben dadurch, daß sie sich vom Psychophysikum zu distanzieren und abzuwenden vermag, tritt das Geistige überhaupt erst in Erscheinung. Als dynamisch dürfen wir die geistige Person nicht hypostasieren, und darum können wir sie auch nicht als Substanz – zumindest nicht als Substanz im herkömmlichen Sinne – qualifizieren. Ex-sistieren heißt aus sich selbst heraus- und sich selbst gegenübertreten, und sich selbst gegenüber tritt der Mensch insofern, als er qua geistiger Person sich selbst qua psychophysischem Organismus gegenübertritt. Dieses Sich-Distanzieren von sich selbst qua psychophysischem Organismus konstituiert die geistige Person überhaupt erst als solche, als geistige. Erst wenn sich der Mensch mit sich selbst auseinandersetzt, gliedert sich das Geistige und das Leiblich-Seelische aus.
9. Das Tier ist schon deshalb keine Person, weil es sich nicht über sich selbst stellen, sich gegenüberzustellen imstande ist. Darum hat das Tier auch nicht das Korrelat zur Person, hat es auch keine Welt, sondern nur Umwelt. Versuchen wir, aus der Relation »Tier – Mensch« bzw. »Umwelt – Welt« zu extrapolieren, so gelangen wir zur »Über-Welt». Wollen wir das Verhältnis von (enger) tierischer Umwelt zur (weiteren) Welt des Menschen und von dieser wieder zu einer (alle umfassenden) Über-Welt bestimmen, so bietet sich uns als ein Gleichnis der Goldene Schnitt an. Ihm zufolge verhält sich der kleinere Teil zum größeren so wie der größere zum Ganzen. Nehmen wir das Beispiel eines Affen, dem schmerzhafte Injektionen gegeben werden, um ein Serum zu gewinnen. Vermöchte der Affe jemals zu begreifen, warum er leiden muß? Aus seiner Umwelt heraus ist er außerstande, den Überlegungen des Menschen zu folgen, der ihn in seine Experimente einspannt; denn die menschliche Welt, eine Welt des Sinnes und der Werte, ist ihm nicht zugänglich. An sie reicht er nicht heran, in ihre Dimension langt er nicht hinein; aber müssen wir nicht annehmen, daß die menschliche Welt selber und ihrerseits überhöht wird von einer nun wieder dem Menschen nicht zugänglichen Welt, deren Sinn, deren »Über-Sinn« allein seinem Leiden erst den Sinn zu geben imstande wäre? Genausowenig, wie ein Tier aus seiner Umwelt heraus die sie übergreifende Welt des Menschen je verstehen kann, genausowenig könnte der Mensch die Über-Welt je erfassen, es sei denn in einem ahnenden Hinauslangen – im Glauben. Ein domestiziertes Tier weiß nicht um die Zwecke, in die der Mensch es einspannt. Wie sollte nun der Mensch wissen können, welchen Über-Sinn die Welt als Ganzes bat?
10. Die Person begreift sich selbst nicht anders denn von der Transzendenz her. Mehr als dies: der Mensch ist auch nur Mensch in dem Maße, als er sich von der Transzendenz her versteht, – er ist auch nur Person in dem Maße, als er von ihr her personiert wird: durchtönt und durchklungen vom Anruf der Transzendenz. Diesen Anruf der Transzendenz hört er ab im Gewissen.
Für die Logotherapie ist Religion und kann sie nur sein ein Gegenstand – nicht aber ein Standort. Die Logotherapie muß sich also diesseits des Offenbarungsglaubens bewegen und die Sinnfrage diesseits der Aufgabelung einerseits in die theistische und andererseits in die atheistische Weltanschauung beantworten. Wenn sie solcherart das Phänomen der Gläubigkeit nicht als ein Glauben an Gott, sondern als den umfassenderen Sinnglauben auffaßt, dann ist es durchaus legitim, wenn sie sich mit dem Phänomen des Glaubens befaßt und beschäftigt. Sie hält es dann eben mit Albert Einstein, nach dem die Frage nach dem Sinn des Lebens stellen religiös sein heißt.[5]
Der Sinn ist eine Mauer, hinter die wir nicht weiter zurücktreten können, die wir vielmehr hinnehmen müssen: diesen letzten Sinn müssen wir deshalb annehmen, weil wir hinter ihn nicht zurückfragen können, und zwar deswegen nicht, weil bei dem Versuch, die Frage nach dem Sinn von Sein zu beantworten, das Sein von Sinn immer schon vorausgesetzt ist. Kurz, der Sinnglaube des Menschen ist, im Sinne von Kant, eine transzendentale Kategorie. Genauso, wie wir seit Kant wissen, daß es irgendwie sinnlos ist, über Kategorien wie Raum und Zeit hinauszufragen, einfach darum, weil wir nicht denken und so denn auch nicht fragen können, ohne Raum und Zeit immer schon vorauszusetzen, genau so ist das menschliche Sein immer schon ein Sein auf den Sinn hin, mag es ihn auch noch so wenig kennen: es ist da so etwas wie ein Vorwissen um den Sinn, und eine Ahnung vom Sinn liegt auch dem in der Logotherapie sogenannten »Willen zum Sinn« zugrunde. Ob er es will oder nicht, ob er es wahrhat oder nicht – der Mensch glaubt an einen Sinn, so lange er atmet. Noch der Selbstmörder glaubt an einen Sinn, wenn auch nicht des Lebens, des Weiterlebens, so doch des Sterbens. Glaubte er wirklich an keinen Sinn, keinerlei Sinn mehr – er könnte eigentlich keinen Finger rühren und schon darum nicht zum Selbstmord schreiten.
Quelle: Viktor E. Frankl, Ärztliche Seelsorge. Grundlagen der Logotherapie und Existenzanalyse, München: dtv, 22009, S. 330-341.
[1] Die Würde kommt dem Menschen nicht auf Grund der Werte zu, die er noch besitzen mag, sondern auf Grund der Werte, die er bereits verwirklicht hat. Die Würde kann er natürlich auch nicht mehr verlieren. Und sie ist es, was uns Respekt vor dem Alter – eben dem Verwirklicht-Haben der Werte! – abverlangt. Nicht uns allen. Nicht einer Jugend, die die Achtung vor dem Alter nicht kennt, nicht zuletzt aus dem Grunde, weil das Alter dazu neigt, sich möglichst jung zu gerieren – und solcherart sich lächerlich zu machen. Leider wird eine Jugend ohne Achtung vor dem Alter, sobald sie einmal selber alt geworden ist, auch die Selbst-Achtung nicht kennen, und ein altersbedingtes Minderwertigkeitsgefühl wird sie quälen.
[2] »Ich hatte nach den Schocks alles vergessen, sogar meine Adresse –, nur den Zwang nicht.«
[3] Vgl. Beringer: »Unter Umständen kann gerade durch die krankheitsmildernde oder beseitigende Wirkung von Krankheitssymptomen ja auch eine Wiederentfaltung ursprünglicher Persönlichkeitsseiten eintreten, können also Verantwortung und Gewissen sich wieder auswirken, was unter der Herrschaft der Psychose nicht mehr möglich war. Nach meiner Erfahrung ist es möglich, daß die personale Entscheidung nach der Leukotomie nicht geringer, sondern gesteigert ist … Die übergreifende, selbstbewußte Ichinstanz, die unter der Wirkung der Psychose oder der pausenlos sich vollziehenden Anankasmen gefesselt und aktionsunfähig war, wird durch die Milderung der Krankheitssymptome gleichsam entfesselt … Der Rest des noch gesunden Menschen gelangt wieder zu einer Selbstverwirklichung, die ihm unter dem Banne der Krankheit nicht möglich war.« (Medizinische Klinik 44, 854 bzw. 856, 1949.)
[4] Ebensogut wie von »Schichten« könnte man hiebei natürlich auch von »Dimensionen« sprechen. Sofern die geistige Dimension erst und nur dem Menschen eignet, ist sie die eigentliche Dimension menschlichen Daseins. Wird der Mensch aus dem Raum des Geistigen, in dem er wesentlich »ist«, in die Ebene des bloß Seelischen oder gar Leiblichen projiziert, so wird nicht nur eine, sondern die menschliche Dimension geopfert. Vgl. Paracelsus: »Nur die Höhe des Menschen ist der Mensch.«
[5] Die Religion, beziehungsweise der Sinnglaube, ließe sich nach alledem sagen, ist eine Radikalisierung des »Willens zum Sinn«, und zwar insofern, als es sich um einen »Willen zu einem letzten Sinn«, eben um einen »Willen zum Über-Sinn« handelt.
Einleitendes Referat zu einem Streitgespräch mit den Professoren Dr. P. Ildefons Betschart O. S. B. (Salzburg), Dr. Alois Dempf (München) und Dr. Leo Gabriel (Wien) im Rahmen der Salzburger Hochschulwochen 1950.