Da mögen manche Formulierungen gegenwärtig schwer erträglich sein. Und doch war es der Verfasser, Ludwig Schlaich, der sich als Leiter der Heil- und Pflegeanstalt Stetten im Remstal 1940/41 dem Abtransport der Pfleglinge und damit deren Tötung im Rahmen der Aktion T4 zu widersetzen suchte:
Das Grauen beim Anblick geistig und körperlich Schwerstgeschädigter und unheilbarer Schwachsinniger und Geisteskranker, deren Leben als nicht mehr menschenwürdiges und lebenswertes Dahinvegetieren erscheint, und der Gedanke an den unproduktiven Aufwand von Geld und gesunder Arbeitskraft für ihre Pflege, die mit künstlichen Mitteln am Leben zu erhalten scheint, was nach dem unzerstörbaren Naturlauf dem Tod verfallen wäre, und die zudem keinerlei Hoffnung auf Besserung oder gar Erziehung des Pfleglings zu produktiver Arbeit hat, wodurch die aufgewandten Kosten sich lohnen würden, hat zur Forderung geführt, der Staat möchte unter gewissen Voraussetzungen und gesetzlichen Sicherungen die Vernichtung solchen lebensunwerten Lebens gestatten bzw. durchführen. Die Innere Mission lehnt diese Forderung grundsätzlich ab. Wenn nicht in materialistischer Weise die Arbeitsfähigkeit als Maßstab der Lebenswürdigkeit angesehen wird, sondern das Vorhandensein geistigen Lebens, so läßt sich kein klarer juristischer Tatbestand mehr feststellen, bei dessen Vorliegen auf Tötung erkannt werden könnte, da beim Schwachsinn die Grenzen zwischen völliger Verblödung, mittlerem und leichtem Schwachsinn und mangelhafter Begabung immer fließend sind, ebenso wie bei Geisteskrankheiten die Feststellung der Unheilbarkeit und die Unterscheidung zwischen völligem Erstorbensein des geistigen Lebens und bloßer Ausdruckshemmung die menschliche Fähigkeit erfahrungsgemäß übersteigt; zeigen doch Beispiele wie das der Käte von Treysa, daß selbst bei angeborenem Schwachsinn schwersten Grades plötzlich in der Todesstunde Ausdruckshemmungen fallen können und dann ein geistiges Leben sich kundtut, das trotz der anscheinenden Unmöglichkeit angesichts des ärztlich festgestellten organischen Befundes schon vorher vorhanden gewesen sein muß. Ein solches Gesetz würde zudem nicht nur die sittlichen Werte vernichten, die durch die geduldige, barmherzige und liebevolle Pflege solcher Kranken zum Heile der Volkssittlichkeit entstehen, sondern auch verrohend aus die Volkssittlichkeit wirken und eine der sittlichen Grundvoraussetzungen des Staates durch den Staat selbst zerstören lassen, sofern es dessen Ausgabe ist, das Volkstum und damit das Leben des einzelnen Volksgenossen zu erhalten und zu schützen; so haben in der Geschichte auch immer nur verzweifelnde, sterbende Völker sich nicht mehr so viel Kraft zugetraut, ihre gebrechlichen Volksgenossen zu Pflegen. Schließlich aber sind wir Menschen weder berechtigt, von Gott gesetztes Leben eigenmächtig zu zerstören, noch befähigt, den von Gott gewollten Sinn eines solchen Lebens zu erkennen, sondern haben uns an Jesu Wort zu erinnern: „Was ihr getan habt einem unter diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan“ (Matth. 25, 40). Daß damit die Frage der Verhütung der Entstehung solch schwerkranken Lebens nicht berührt ist, dürfte sich von selbst verstehen (s. Eugenik, Sterilisierung).
Ludwig Schlaich, Inspektor in Stetten im Remstal.
Calwer Kirchenlexikon, Bd. 2, Stuttgart: Calwer, 1941, S. 28f.