Von Robert Walser
Zimmer im Palast von Judäa. Mürrisch sitzt Saul auf dem Thron. Wenn ich „mürrisch“ sage, so klingt das, als wenn ich zu kleinlich von dem Manne redete. Ein Fürst und mürrisch? Es ist unangenehm für Könige, ärgerlich und grämlich sein zu müssen. Zu wissen, daß man unumschränkte Gewalt hat und dabei verdrießlich und aufgebracht ist, kann unmöglich anders als schlimm sein.
Düster schaut er aus, als sei er schwermütig. Das ist schlimm. Was quält ihn? Was ist es, das ihn so finster blicken macht? Warum trauert er? Will ihm das Leben nicht mehr schmecken? Steht er sich selbst vielleicht im Weg? Leidet er unter dem Machtgefühl? Er befiehlt nach Belieben, und alles gehorcht ihm. Man sollte meinen, daß er zufrieden sein könnte.
Weshalb ist ein solcher Mann unzufrieden? Ist er etwa des Thrones überdrüssig? Hat er das Herrschen satt? Ist er müde? Was für wunderliche Fragen!
Krank ist er. Wie von köstlicher Speise ist er übersättigt. Er mag nicht leben und doch auch nicht sterben. Ist er unglücklich, weil er alt ist? Hm! Wird doch wohl nicht etwa so sein.
Was beliebt ihm nun? Was könnte ihm wohltun? Schweigend, grübelnd sitzt er da. Schrecklich ist seine Stirne gerunzelt. Niemand tut ihm etwas zu leid, und dennoch beleidigen ihn alle. Furchtsam schauen sie ihn an, als erwarteten sie etwas Ungeheueres von seiner Seite. Zerreißen möchte er sie, weil er weiß, daß sie sich vor ihm fürchten. Es ist niemand gern gefürchtet, denn Furcht streift an Haß, und ein König will von seinen Untertanen geliebt sein wie ein Vater von seinen Kindern. Doch Saul ist nicht beliebt. Wie kann man lieben, was finster blickt und die Lippen wie in verhaltenem Grimm zerbeißt?
Daß man ihm David rufe, sagt er zu den Herren, die ihn umgeben. Wenn David käme, so würde er sich womöglich besser fühlen.
Bald, und so tritt der jugendschöne David mit der Harfe in der Hand herein, und da er weiß, daß er musizieren soll, so greift er alsbald ins Instrument und beginnt zu spielen. Er spielt wie ein Künstler, der sich im Spiel völlig vergißt. Nichtsdestoweniger lauert er mit klugen Augen sorgfältig auf die geringste Bewegung, denn er spürt, daß er in Gefahr ist.
David ist kein Kind mehr. Schwierige Verhältnisse haben ihn früh zum weitblickenden und kühnen Menschen erzogen. Er ist tapfer, doch dabei schlau; schön, doch zugleich gewandt; vorsichtig, doch ebenso unerschrocken. Mit einem Lächeln im mutigen Gesicht schaut er dem aufgebrachten Mann in die Augen, als wenn er ihm sagen wolle, immer hübsch sachte! In ihm ist hohe Sinnesart. Er besitzt Kraft sowohl wie Anmut.
Die unheimliche Art, wie beide Männer einander entgegengestellt sind und sich mit den Augen durchbohren; ist von Rembrandt herrlich dargestellt worden.
Wir haben einerseits einen mit krampfhaft geballter Hand umkrallten Speer und andrerseits eine Harfe. Auf der einen Seite ist ein böser, auf der andern ein annehmbarer Zustand. Dort Aufruhr; hier Besonnenheit. Jenes gewaltsam, dieses friedfertig und sanftmütig.
Davids Harfenspiel scheint zu sprechen: „Sei nicht traurig. Quäle Dich nicht nutzlos. Sei sanft und nicht zornig. Blicke nicht so wild, denn es steht kein Feind vor Dir. Die Welt ist gut. Irgend einen Kummer haben wir alle. Diesem fehlt dieses, jenem jenes. Wir brauchen deswegen nicht zu zürnen. Weine lieber, statt zu grollen; das ist für Dich und alle anderen schöner.
Sollte nicht der Herrscher mit dem schönsten Beispiel vorangehen und der sanfteste, duldsamste Mensch im Volke sein? Sollte er nicht der beste Mensch unter allen Menschen sein und das größte Herz besitzen?
Gram ist unschön, und Zorn ist zu wenig groß. Wenn Dich etwas plagt, so türme es nicht zum Turm, zum unersteiglichen Block auf. Alle sind geplagt; nur tun die, die es mit Welt und Menschen gut meinen so, als merkten sie nicht viel davon. Du aber sinkst völlig in eine einzige unerträgliche Empfindung, bäumst Dich dagegen auf, kannst Dich nicht wehren. Auch die Mächtigen dürfen nicht vergessen, daß sie machtlos sind, weil sie Menschen sind. Tausendmal schöner als leben ist: für andere leben, oder sehen, wie andere leben.
Meinst Du, daß ich mich vor Dir fürchte? Ich fürchte mich vor nichts als vor dem Unheil, das in mir selbst ist. Diese Töne sagen Dir die Wahrheit. Doch Du hast ja gewollt, daß ich hierher trete und spiele. Die Kunst ist gut, und die Wahrheit tönt süß, nur muß man sie nicht hassen, sondern willkommen heißen. Man muß nicht die edlen Regungen und die weichen Stimmen töten wollen und den Haß leben lassen. Damit tötet man sich selbst, rottet das eigene Leben aus. Man muß Geduld haben, denn auf ihr ruht alles. Wer sich mit sich selbst aussöhnt, verbündet sich mit allen andern, und dann gibt es keinen Gegner mehr. Wenn alle sich mit sich selbst verständigt haben, so hat niemand mehr einen Gegner. Dann ist alles versöhnt und der Friede ist gesichert. Es gibt nur einen einzigen Feind; der ist überall und nirgends, es sieht ihn niemand, er ist nicht fühlbar und daher auch nicht angreifbar. Doch wird ihn jeder bekämpfen und besiegen lernen, der die Pflicht fühlt, mit sich selbst zu kämpfen. Außer uns gibt es nichts Feindliches für uns, es wäre denn, daß wir unwillig sind, weil uns die Natur Grenzen gezogen hat —“
Weiter spielt David nicht. Der Speer saust dicht an ihm vorbei. Der König ist wahnsinnig. David lacht und ruft: „Das hätte mich durchbohren können. Ich danke für die gute Absicht, bin aber froh, daß ich noch lebendig bin. Kopf und Herz und der unverstümmelte Körper! Damit will ich es wagen, und kein schwächliches Gefühl soll mich je im Leben hemmen.“
Quelle: Die weißen Blätter, Jg. VI, H. 3, März 1919, S. 121-123.