Karl Barths Dankbrief an Mozart (1955): „Was ich Ihnen danke, ist schlicht dies, daß ich mich, wann immer ich Sie höre, an die Schwelle einer bei Sonnenschein und Gewitter, am Tag und bei Nacht guten, geordneten Welt versetzt und dann als Mensch des 20. Jahrhunderts jedes Mal mit Mut (nicht Hochmut!), mit Tempo (keinem übertriebenen Tempo!), mit Reinheit (keiner langweiligen Reinheit!), mit Frieden (keinem faulen Frieden!), beschenkt finde.“

Dankbrief an Mozart

Basel, 23. Dezember 1955

Lieber Herr Kapellmeister und Hofkompositeur!

Da hat nun jemand den kuriosen Gedanken gehabt, mich mit einigen anderen zusammen aufzufordern, für seine Zeitung einen «Dankbrief an Mozart» zu schreiben. Ich habe zuerst den Kopf geschüttelt und schon nach dem Papierkorb geblickt. Aber wenn es sich um Sie handelt, kann ich nur in den seltensten Fällen widerstehen. Und haben Sie selbst zu Ihren Lebzeiten nicht auch mehr als einen ein bißchen ausgefallenen Brief geschrieben? Also warum nicht? Dort, wo Sie jetzt sind, weiß man freilich — unbehindert durch Raum und Zeit — sicher mehr voneinander und auch von uns, als es uns hier möglich ist. Und so zweifle ich eigentlich nicht daran, daß es Ihnen längst bekannt ist, wie dankbar ich Ihnen, fast solange als ich zurückdenken kann, gewesen bin und immer wieder werde. Aber eben: Warum sollten Sie das nicht auch einmal schwarz auf weiß zu Gesicht bekommen?

Zwei Entschuldigungen müssen vorangehen. Die eine deswegen, weil ich einer von den Protestanten bin, von denen Sie einmal gesagt haben sollen, was es mit dem Agnus Dei, qui tollis peccata mundi auf sich habe, könnten wir wohl nicht so recht verstehen. Entschuldigen Sie: wahrscheinlich sind Sie jetzt auch darüber besser unterrichtet. Aber ich will Sie nicht mit Theologie plagen. Stellen Sie sich vor, daß ich letzte Woche allen Ernstes von Ihnen träumte, und zwar dies: ich hätte Sie (mir unerklärlich aus welcher Notwendigkeit) zu examinieren gehabt, hätte aber zu meiner Betrübnis (weil ich doch wußte, daß Sie unter keinen Umständen durchfallen dürften) auf meine Frage: was «Dogmatik» und «Dogma» sein möchten? trotz freundlichstem Hinweis auf Ihre Messen — die ich besonders gerne höre! — keinerlei Antwort von Ihnen erhalten!! Wollen wir diesen Punkt fröhlich auf sich beruhen lassen?

Viel schwieriger ist etwas anderes. Ich habe von Ihnen gelesen, Sie hätten sich schon als Kind nur über das Lob von Kennern freuen können. Wie Sie wissen, gibt es in diesem Erdental nicht nur Musiker, sondern auch Musikwissenschaftler. Sie selbst waren beides. Ich bin keines von beiden, spiele kein Instrument und habe von Harmonielehre oder gar von den Geheimnissen des «Kontrapunktes» keine blasse Ahnung. Die Musikwissenschaftler insbesondere, deren Bücher über Sie ich — im Begriff, eine Festrede für Ihren Geburtstag zu verfassen — zu entziffern versuche, machen mir richtig Angst. Ich habe übrigens, auf die Resultate dieser Forscher gesehen, die ernste Sorge, daß ich, wenn ich jung wäre und dieses Studium aufnehmen könnte, auch mit einigen der Bedeutendsten von Ihren theoretischen Interpreten in ähnlicher Weise in Konflikt geraten würde, wie es mir vor vierzig Jahren mit meinen theologischen Meistern gegangen ist. Aber wie dem auch sei: wie soll ich Ihnen unter diesen Umständen als Kenner danken, Ihnen also Freude machen können?

Ich habe nun aber zu meinem Trost auch das von Ihnen gelesen, daß Sie manchmal auch ganz bescheidenen Leuten stunden- und stundenlang vorgespielt hätten, nur weil Sie irgendwie merkten, daß es denen Freude machte, Sie spielen zu hören. So, nur eben mit einem immer wieder erfreuten Ohr und Herzen, hörte und höre ich Sie spielen. So naiv tue ich das, daß ich nicht einmal sicher sagen kann, in welcher von den 34 Perioden, in die Wyzewa und St. Foix Ihr Leben und Ihr Werk eingeteilt haben, Sie mir am nächsten sind. Sicher, sicher, so um 1785 begannen Sie ganz groß zu werden. Aber gelt, Sie selbst ärgere ich nicht, wenn ich Ihnen gestehe, daß ich nicht erst «Don Juan» und Ihre letzten Symphonien, nicht erst die «Zauberflöte» und das «Requiem», sondern schon die Haffner-Serenade und das elfte Divertimento usw., ja eigentlich schon «Bastien und Bastienne» unmöglich ohne richtige Bewegung anhören kann und auch immer wieder anhöre —, daß Sie mir also nicht erst von da an interessant und lieb sind, wo man Sie als «Vorläufer» von Beethoven rühmen kann! Was ich Ihnen danke, ist schlicht dies, daß ich mich, wann immer ich Sie höre, an die Schwelle einer bei Sonnenschein und Gewitter, am Tag und bei Nacht guten, geordneten Welt versetzt und dann als Mensch des 20. Jahrhunderts jedes Mal mit Mut (nicht Hochmut!), mit Tempo (keinem übertriebenen Tempo!), mit Reinheit (keiner langweiligen Reinheit!), mit Frieden (keinem faulen Frieden!), beschenkt finde. Mit Ihrer musikalischen Dialektik im Ohr kann man jung sein und alt werden, arbeiten und ausruhen, vergnügt und traurig sein, kurz: leben. Sie wissen jetzt noch viel besser als ich, daß dazu noch mehr nötig ist als auch die beste Musik. Aber es gibt Musik, die dem Menschen (nachträglich und beiläufig!) dazu hilft, und andere, die das weniger tut. Die Ihrige hilft dazu. Weil das zu meiner Lebenserfahrung gehört — ich soll 1956 siebzig Jahre alt werden, während Sie jetzt als zoojähriger Patriarch unter uns wandeln würden! — und weil ich meine, daß unser immer obskurer werdendes Saeculum gerade Ihre Hilfe nötig hätte —, darum bin ich dankbar dafür, daß Sie da waren, daß Sie in den paar kurzen Jahrzehnten Ihres Lebens gerade nur rein musizieren wollten und musiziert haben und daß Sie in Ihrer Musik lebendig noch da sind. Glauben Sie es nur, daß viele, viele Ohren und Herzen, gelehrte und ungelehrte wie die meinigen, Sie noch und wieder und wieder gerne hören — nicht nur in Ihrem Jubiläumsjahr!

Wie es mit der Musik dort steht, wo Sie sich jetzt befinden, ahne ich nur in Umrissen. Ich habe die Vermutung, die ich in dieser Hinsicht hege, einmal auf die Formel gebracht: ich sei nicht schlechthin sicher, ob die Engel, wenn sie im Lobe Gottes begriffen sind, gerade Bach spielen — ich sei aber sicher, daß sie, wenn sie unter sich sind, Mozart spielen und daß ihnen dann doch auch der liebe Gott besonders gerne zuhört. Nun, die Alternative mag falsch sein. Und Sie wissen auch darüber ohnehin besser Bescheid als ich. Ich erwähne es nur, um Ihnen figürlich anzudeuten, wie ich es meine.

Und so wirklich der Ihrige: Karl Barth

Aus der Umfrage in der Wochenzeitung der «Luzerner Neuesten Nachrichten», 21. Januar 1956.

Hier der Text als pdf.

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