In Ergänzung zu Goldschmidts Geschichte der evangelischen Gemeinde Theresienstadt 1942-1945 hatte Clara Eisenkraft (Spaleck) in ihrem postum erschienenen Buch „Damals in Theresienstadt. Erlebnisse einer Judenchristin“ (Aussaat Verlag, 1977) Folgendes über die evangelische Gemeinde in Theresienstadt geschrieben:
Christuserleben in Theresienstadt
Von Clara Eisenkraft (Spaleck)
Als die Gestapo mich aus meiner Wohnung holte, schoß mir u. a. durch den Kopf, daß ich nun unter Juden würde leben müssen, mit denen ich ein halbes Jahrhundert keine Berührung gehabt hatte und bei denen ich es als Christin vielleicht schwer haben würde. Aber nichts oder nur wenig davon ist eingetroffen. Wir Mischehen-Partner wurden nicht besonders angefochten von den anderen, wenigstens nicht allgemein; denn die meisten konnten es nicht verstehen oder glauben, daß jemand aus Überzeugung zum Christentum übertrat. Nach ihrer Meinung geschähe solches nur wegen äußerer Vorteile oder weil der Ehepartner Christ wäre. Es gab allerdings auch solche, die die Christen generell über die Achsel ansahen und auch keinen Hehl aus ihrer Haltung machten; aber dies war zum Glück nur eine Minderheit von Menschen, auf deren Ansicht es einem nicht ankam, die man also auch in anderer Beziehung nicht schätzen konnte.
Um der Wahrheit willen muß ich hier hervorheben, daß es unter den arisch Versippten einen guten Teil gab, die zwar zum evangelischen Glauben übergetreten waren, die davon aber im Grunde keine Ahnung hatten. So kannten sie keine christliche Literatur, lasen keine christlichen Bücher und hatten nicht die primitivsten Vorstellungen vom christlichen Leben oder von der christlichen Tradition. Sie wußten weder von der Äußeren noch von der Inneren Mission etwas, hatten nie etwas von einem August Hermann Francke noch von einem Wichern, einem v. Bodelschwingh, geschweige denn von einer Mutter Eva v. Tiele-Winckler gehört. Das machte einem diese Menschen fremd und verursachte einem das Gefühl innerer Vereinsamung. Mit diesen Leuten konnte man eben nur über die täglichen Belange sprechen oder über den Krieg und über daheim. Indessen — im Grunde war und ist dies auch beschämend für die „arischen“ Ehepartner! Sie hatten aus ihrem Hause eben keine Stätte christlichen Lebens und christlicher Tradition gemacht. Sie kannten zur Not die christlichen Feiertage; damit war aber auch ihr ganzes Christentum erschöpft.
Da sah es bei den Katholiken ganz anders aus. Die kannten ihre Literatur; die waren auch viel mehr interessiert, ja begeistert! Ich muß hier wirklich den katholischen Geschwistern meine Hochachtung aussprechen. Mit welchem Eifer besuchten sie ihre Gottesdienste, und wieviel Verständnis und Liebe hatten sie für das Reich Gottes! Das war ihnen klein bloßer Begriff; sie lebten und webten darin. Das kam in den Vortragsthemen zum Ausdruck, die von ihren Leitern gewählt wurden, aber auch in Aussprachen. Es war schon so, wie ich einmal in einer Diskussion sagte: „Die Katholiken sind im Himmel mehr zu Hause als wir Evangelischen.“
Nun aber das Positive bei uns Evangelischen. Ich fand dort in der Hölle von Theresienstadt eine Gemeinde vor, die mit viel Not und Mühe und vielen Widerständen zum Trotz aufgebaut war. Das Verdienst hierfür hat sich ein über 70 Jahre alter Jurist aus Hamburg, Dr. Goldschmidt, erworben. Wie mir erzählt wurde, war er von Kaserne zu Kaserne, von Haus zu Haus, von Baracke zu Baracke gegangen, um die evangelischen Christen ausfindig zu machen. Er selber stammte nicht aus einer Mischehe und wollte damals, vor unserem Eintreffen, eigentlich nur die nicht aus Ehegründen zum Christentum übergetretenen Gläubigen sammeln. Und diese sog. Volljuden waren eigentlich die bewußteren Christen! Bei ihnen fand man vielfach das, was man bei den Menschen vergeblich suchte: bewußtes Christentum in Theorie und Tat. Das waren die Menschen, die mit größter Aufopferung unter den widrigsten Verhältnissen und unmöglichen Umständen Großes leisteten im Dienst an ihren Mitmenschen und Gefährten der Leiden. Auch der frühere Richter Dr. Goldschmidt war ein solcher. Er muß von Kindheit auf eine christliche Erziehung genossen haben; denn er war in allem, was die christliche Kirche und wesentliche Fragen des Christentums betrifft, sehr gut orientiert. Mit wieviel Mühe hat er die Gemeinde dort gesammelt und auch wirklich zusammengehalten, gebaut und erbaut, die Kranken in den Krankenhäusern besucht und die Toten beerdigt, deren es eine so große Anzahl gab. Vor allen Dingen hat er allsonntäglich regelrechte Predigtgottesdienste mit Liturgie und allem, was dazugehört, abgehalten. Ihm zur Seite stand ein anderer Jurist, Dr. Stargard aus Berlin-Dahlem. In den Gottesdiensten wechselten sie sich später ab. Dr. Stargard hat sich besonders um die Pflege der Musica Sacra verdient gemacht (war er doch selber Künstler), ferner um das Zusammengehen mit den Katholiken. Gemeinsame Veranstaltungen und Aussprachen waren seine besonderen Anliegen. Wie hat er sich sodann auch wegen der Lokalfrage mit der Jüdischen Kultusgemeinde herumgeschlagen, die verständlicherweise kein sonderliches Interesse daran hatte, den „Abtrünnigen“ einen Raum zur Verfügung zu stellen! Die einzige dort existierende Katholische Kirche mitten im Ort, neben der Post, war von der SS seinerzeit geschlossen worden. So kämpfte er denn diesbezüglich lange vergeblich, bis kurz vor dem deutschen Zusammenbruch. Endlich, im Winter 1945, konnten wir das neue Lokal als Andachts- und Gottesdienstraum beziehen: den berühmten, vielmehr berüchtigten Kinosaal!
Vorher hatten wir uns in wirklich unwürdigen Räumen herumdrücken müssen. Aber — was sollte es? Wir haben dort wahrscheinlich mehr Andacht gehabt als manche großen Stadtgemeinden in berühmten Domen. Mir ist es, als wäre es gestern gewesen, mit welcher inneren Spannung und Erschütterung ich zum ersten Male an einem Sonntagmorgen den notdürftigen Gottesdienstraum betrat. Dieser unser Gottesdienstraum war ein elender, halb zerfallener Wäscheboden mit offenen Luken, zu denen Wind und Winter hereinkamen; die Schneeflocken flogen einem manchmal ins Gesicht. Ein paar elende, wackelige rohgezimmerte Bänke ohne Lehne dienten außer den dort befindlichen Balken als Sitzgelegenheiten. Aus rohen Brettern war ein Altar gefertigt, auf dem das Symbol der christlichen Kirche, das Kruzifix, stand. Daneben war eine Staffelei aufgestellt, auf der ein Marienbild mit dem Jesusknaben stand, ein Bild für unsere Kirche von Dr. Goldschmidt, der nicht nur Richter und hier Prediger, sondern wie auch Fachleute bekundeten, ein sehr guter Maler war. Als ich diesen Raum erstmals betrat, hatte ich ein unbeschreibliches Dankes- und Lobesgefühl. Ich setzte mich in eine Ecke hinter einen Balken und weinte mich ordentlich aus. Mir kam es vor, als wäre ich in die Katakomben der ersten Christengemeinde geraten. Ach, wie dankte ich da Gott, daß er auch in Theresienstadt eine Stätte bereiten ließ, da seine Ehre wohnte! Und wie wird einem unter solchen abnormen Umständen das Jesuswort groß: „Es kommt die Zeit, daß ihr weder auf diesem Berge, noch zu Jerusalem werdet den Vater anbeten … Denn Gott ist Geist, und die ihn anbeten, die müssen ihn im Geist und in der Wahrheit anbeten.“
Galt das damals der Samariterin, so galt das gewiß auch uns Verfemten. Und ebenso gewiß gilt es heute auch dem deutschen Volk, das so viele Kirchen und Dome verloren hat. (Man verzeihe mir diese ketzerische Auffassung. Vor allem die Künstler und Kunstkenner und -liebhaber mögen mir das nicht verdenken, die mit Recht um das Verlorene, nie Wiederbringbare, trauern.) Aber — mußte nicht Gott solche ernste Sprache mit unserem Geschlecht sprechen? Hat er nicht mit den Juden auch so sprechen müssen, als er ihnen den kostbaren herodianischen Tempel in Trümmer legen ließ, auf den sogar die Jünger so stolz waren, daß sie den Herrn aufforderten, jenes Bauwerk ordentlich zu betrachten? Fehlte es nicht in den letzten Jahrzehnten an wahren Verkündigern des Wortes Gottes sowohl auf den Kathedern als auch auf den Kanzeln? Und wie stand es mit der andächtigen Gemeinde? Die schlecht besuchten Gottesdienste, die Lauheit und Trägheit hatte doch sehr überhand genommen. Vielleicht mußten wir so gerüttelt und geschüttelt werden; vielleicht sollten wir die kunstvollen, kostbaren Gefäße verlieren, um besser zum ewigen Inhalt vordringen zu können. Ach, wie hohl und nichtig mutet einen die ganze Kultur an, die hohen Errungenschaften auf allen Gebieten, besonders auf dem technischen, wenn der Fortschritt letzten Endes dazu benutzt wird, möglichst große Menschenmassen auf schnellstem Wege ums Leben zu bringen! Hat das irdische Schaffen denn heute noch einen Sinn? Die Sinngebung muß eben eine andere werden. Die Götzen „technischer Fortschritt“, „militärische Überlegenheit“, „Zivilisation“ u. a. m. müssen vom Thron herunter. Der Herr des Himmels und der Erden muß seine Stellung wiedergewinnen; alles Tun und Trachten muß ihm untergeordnet sein. Dann, ja dann erst kann und wird es anders werden. So fanden nun unsere Gottesdienste regelmäßig hier statt, erst die evangelischen und um 10.30 Uhr die katholischen, zu denen viele von uns ebenfalls gingen. Im Winter war es hier wie gesagt sehr kalt. Ein kleines notdürftiges Öfchen spendete etwas Wärme; die spürte man aber nur, wenn man daneben saß. Trotzdem brachte der alte Herr, Dr. Goldschmidt, es fertig, bei jedem Wetter Sonntag für Sonntag hier einen vollständigen Gottesdienst abzuhalten. Darüber hinaus fanden hier auch viele andere Veranstaltungen statt, teils christlichen, teils profanen Charakters. Immer wieder waren Menschen da, die sich bereit erklärten, mit ihrem Können und Wissen zu dienen; für Kunst und Wissenschaft sorgte Dr. Stargard. Oft wurden die Veranstaltungen von beiden christlichen Gemeinden gemeinsam in die Wege geleitet; ja, es kam sogar vor, daß alle drei Konfessionen daran mitwirkten. So hat uns auch der feinsinnige und hochkultivierte Gelehrte Oberrabiner Dr. Baeck mehrmals mit wertvollen Ausführungen bereichert und erfreut. Vor allem waren es die Evangelischen und die Katholiken, die auch in der Kulturarbeit möglichst zusammenmarschierten. Dabei war es unser aller Bestreben, auf beiden Seiten nicht das Trennende, sondern das Verbindende und Einigende herauszustellen, und es ergaben sich dabei so viele Momente, die wir gemeinsam hatten, daß es ganz erstaunlich war. Besonders Dr. Stargard hat in seiner verbindlichen Art das Verstehenwollen und -können gefördert, so daß wir in Theresienstadt mit der Una Sancta schon Ernst gemacht haben. Gebe Gott, daß die beiden Kirchen sich zu gemeinsamer, segensreicher Arbeit auch im zerrissenen Nachkriegsdeutschland zusammenfinden.
Besonders wertvoll waren die — leider schlecht besuchten — Bibelstunden. Dr. Goldschmidt hielt darüber hinaus einen Zyklus über die fünf Hauptstücke des Katechismus. Die Unwissenden unter den Mischehen-Mitgliedern hätten diese Stunden mit großem Gewinn nutzen können. Sie hatten jedoch kein Interesse; sie fragten eben nicht nach ewigen Dingen. Wahrscheinlich hatten es ihre (verstorbenen) Männer auch nicht getan, womit sie eine ungeheure Verantwortung für die Seelen ihrer Familien auf sich geladen haben. Es gab allerdings einige, bei denen das anders war, Menschen, die etwas von Gebet und Fürbitte wußten. Aber leider waren dies Ausnahmen. Das merkte man so recht aus den Korrespondenzen. Es drehte sich meistens um Irdisches und Materielles, was ja unter solchen Verhältnissen vielleicht entschuldbar war, nichtsdestoweniger aber einen Schluß auf die gesamte Geistes- und Seelenhaltung zuließ. Sehr erhebend — und viel feierlicher als in der Heimat — waren die Abendmahlsfeiern. Die erste, zu Ostern 1944, werde ich nie vergessen. Sie wurde am Karfreitag abgehalten — auch auf dem zugigen und unästhetischen Wäscheboden. Aber die innere Bereitschaft sowie die Stimmung, die auf dem Ganzen lag, drängten alles Äußere in den Hintergrund. Jeder von uns Teilnehmern bekam nach empfangenem Mahl ein Zettelchen in die Hand gedrückt, auf dem der Spruch stand: „Ich weiß, daß mein Erlöser lebt.“ Ach, welch ein Glück und welch ein Trost in dieser Dürre und Einöde! Mein Erlöser lebt … Was können mir die SS-Schergen und der ganze Hitlerismus anhaben? Erfüllte sich auf diese Weise nicht schon an uns das Wort, das der Herr in Bethanien sprach: „Ich bin die Auferstehung und das Leben. Wer an mich glaubt, der wird leben, ob er gleich stürbe; und wer da lebet und glaubet an mich, der wird nimmermehr sterben.“ Das erhob einen über den Alltag und die Not, über das Leid und das Elend und über die Sorge um seine Kinder! Ist Christus für uns, wer mag wider uns sein? Ja, es ist schon wahr: wo das Wort ist, da ist Christus. Aber wir sollten das noch tiefer erfahren …
Mit den Holländern kam dann auch ein ausgebildeter Theologe, ein evangelischer Pfarrer, der in Deutschland studiert hatte, ins Lager. Er war in Holland Gemeindepfarrer gewesen und hielt jetzt den Holländern Gottesdienste in ihrer Muttersprache. Er hatte sogar Sprechstunden und diente auch uns Deutschen oft mit dem Wort, sowohl in den sonntäglichen Gottesdiensten als auch in biblischen Andachten und Bibelbesprechungen — ein tiefgläubiger Christ mit guter Schriftkenntnis und dem ernsten Willen, seinen Zuhörern Wasser des Ewigen Lebens zu bieten. Im letzten Sommer vor dem Zusammenbruch behandelte er die Offenbarung des Johannes, was mich besonders interessierte, denn ich hatte mich in den letzten Jahren sehr mit diesen Fragen beschäftigt und viel einschlägige Literatur darüber zu Rate gezogen. So hielt ich Hitler für den Antichristen. Der Pfarrer teilte jedoch nicht meine Ansicht, daß wir in den „allerletzten“ Zeiten lebten.
Im Dienste
der unteilbaren
Menschenwürde
ohne sich
einem Wesen
von aussen
durch die Schrift gesetzt
einem Glauben
oder auch der Gnade
zu versichern