Von Norbert Greinacher
Einführung
Sehr verehrte, zur Trauerfeier versammelte Damen und Herren! Liebe Familienangehörige des verstorbenen Carlo Schmid!
Über sein kleines Haus sagte der Verstorbene einmal: Morituro satis. Das heißt: Für den, der auf dem Weg zum Tode ist, genügt es. Befragt, warum er diese Worte gewählt habe, erzählte Carlo Schmid, er habe als Student in einem kleinen Häuschen in der Wildermuthstraße nahe dem Stadtfriedhof gelebt, das im Mittelalter den Pestkranken als Sterbehaus gedient habe und auf dem diese Worte standen.
In einem Brief vom 22.10.1977 schrieb Carlo Schmid an einen Freund in Tübingen: „Neulich dachte ich mir: Am wohlsten fühlst du dich allmählich auf dem alten Friedhof. Da kennst du jeden Stein, aber auf der Straße kennst du so gut wie keinen, wenn du vorübergehst.“
Carlo Schmid hat die „bodenlose Ambivalenz“ (Ch. Meckel, Licht. Erzählung, München 1978, 70) des menschlichen Daseins in seinem Leben erfahren. Er hat in seinem Leben glückliche Erfahrungen gemacht und durfte erleben, daß seine Gedanken und Vorstellungen ihren Niederschlag in der gesellschaftlichen Praxis gefunden haben. Aber er hatte auch leidenschaftliche Sympathie für die wortlos Leidenden in unserer Gesellschaft und hat am eigenen Leibe erfahren, wie sehr Leid und Schmerz, wie Konflikt und Schuld das Leben des Menschen bestimmen und wie unendlich schwierig es ist, als Mensch zu bestehen.
Wenn wir uns heute auf Wunsch der Angehörigen zu einer kirchlichen Trauerfeier hier versammelt haben, dann soll dieses Doppelgesicht der menschlichen Existenz nicht verschwiegen, sondern im Licht der jüdisch-christlichen Tradition, im Licht des christlichen Glaubens ausgesprochen werden in aller Ehrlichkeit und Redlichkeit. Auch und gerade im Angesicht des Todes sollen unsere Fragen nicht verstummen, sondern ausgesprochen werden.
Als ein Freund Romano Guardini, einen großen Theologen, an seinem Sterbebett besuchte, sagte er dem Sinn nach zu ihm: Ich bin bereit, vor den Richterstuhl Gottes zu treten und mich über mein Leben befragen zu lassen. Ich habe gesündigt und will darüber Rechenschaft geben. Aber ich habe auch Fragen an Gott zu stellen, und ich werde auf einer Antwort bestehen.
An diesen Gott möchte ich mich jetzt in einem Gebet wenden.
Gebet
Wir nennen dich Gott, und doch bist du unbenennbar.
Wir rufen dich an, und doch bist du oft so unnahbar.
Wir sprechen über dich, und doch bist du unbegreifbar.
Oft verstehen wir dich nicht, denn du bist unfaßbar.
Manchmal zweifeln oder verzweifeln wir an dir,
und doch bist du unüberbietbar.
Wir kommen zu dir wie der Vater jenes kranken Jungen,
von dem das Evangelium uns erzählt und der ausrief:
Ich glaube. Hilf meinem Unglauben.
Dein Sohn Jesus Christus hat uns Kunde gebracht von dir.
Durch sein Reden und Tun hat er bezeugt,
daß du ein menschenfreundlicher Gott bist.
Laß den verstorbenen Carlo Schmid deine Liebe und dein Erbarmen erfahren.
Laß auch uns nicht taub sein für dich,
sondern offen mach uns und empfänglich für das Glück,
das du uns schenken willst.
Darum bitten wir durch Jesus Christus deinen Sohn.
Amen.
Chassidische Erzählung
Von einem jüdischen Rabbi namens Levi-Jizchak aus Berditschew wird folgende Geschichte erzählt: „Der Rabbi hatte keinerlei Skrupel, Gott daran zu erinnern, daß auch er sich von seinem Volk die Leiden vergeben lassen müsse, die er ihm auferlegt hatte. Daher die Pluralform für den Namen des jüdischen Versöhnungsfestes „Jom Kippurim“: Die Bitte um Verzeihung beruht auf Gegenseitigkeit.
An einem Jom Kippur bemerkte Rabbi Levi-Jizchak einen Mann, der in der Synagoge schluchzte. „Warum weinst du?“, fragte er ihn. „Ich kann nichts dafür, die Tränen rinnen von selbst. Ich war fromm und wohlhabend. Plötzlich trat Gott dazwischen und machte aus mir einen Trümmerhaufen. Jetzt bin ich elend und arm und habe sechs Kinder zu ernähren. Aber das ist noch nicht alles. Ich besaß ein Gebetbuch, das mir sehr viel bedeutete: er hat es verbrennen lassen. Ich kann nicht mehr beten, nur noch weinen.“ Der Rabbi ließ ihm ein völlig gleichartiges Buch bringen und fragte ihn: „Wirst du beten?“ „Ja“, sagte der Jude. „Vergibst du ihm jetzt?“ „Ja“, sagte der Jude, ohne mit dem Weinen aufzuhören. „Heute ist Jom Kippur, ich muß verzeihen.“ „Nun also, und du hast jetzt das Gleiche zu tun!“ schrie Levi-Jizchak zu Gott. „Du mußt vergeben!“
Ein anderes Mal schlug er ihm einen Handel vor: „Wir vertrauen dir unsere Sünden an, und du gewährst uns dafür Verzeihung. Im übrigen kommst du gut dabei weg. Ohne unsere Sünden – was würdest du denn anfangen mit deiner Verzeihung?“
Während andere Mystiker mit Gott eine Beziehung auf du und du unterhielten, erlaubte sich Levi-Jizchak, ihm mit dem Abbruch dieser Beziehungen zu drohen. Er liebte es, zu beweisen, daß man Jude sein könne mit Gott, in Gott und sogar gegen Gott; nicht aber ohne Gott“ (E. Wiesel, Chassidische Feier, Wien 1974, 104f).
Lesung aus dem Evangelium
Ich möchte Ihnen jetzt den Bericht über den Tod Jesu vorlesen, und zwar zunächst nach dem Zeugnis des Evangelisten Matthäus:
„Von der sechsten bis zur neunten Stunde herrschte Finsternis im ganzen Land. Um die neunte Stunde schrie Jesus laut: Eli, Eli, lema sabachtani? Das heißt: Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen? Einige von denen, die dabei standen und es hörten, sagten: Er ruft nach Elija. Sogleich lief einer von ihnen herbei, nahm einen Schwamm und füllte ihn mit Essig; er steckte ihn auf einen Stock und gab Jesus zu trinken. Doch die anderen sagten: Laß das, wir wollen sehen, ob Elija kommt und ihn rettet. Jesus aber schrie noch einmal laut, gab den Geist auf und starb“ (Mt 27,45-50).
Und nun möchte ich Ihnen den Bericht über den Tod Jesu nach dem Zeugnis des Evangelisten Lukas vorlesen:
„Es war etwa um die sechste Stunde, als eine Finsternis über das ganze Land kam. Sie dauerte bis zur neunten Stunde. Die Sonne verdunkelte sich. Der Vorhang im Tempel riß mitten durch, und Jesus rief laut: Vater, in deine Hände lege ich meinen Geist. Nach diesen Worten starb er“ (Lk 23,44-46).
Predigt
Das Rechten des Menschen mit Gott hat eine lange Tradition. Wir erinnern uns an die Gestalt des Ijob im Alten Testament, der Gott zuschreit: „Sprich mich nicht schuldig! Laß mich wissen, warum du mich befehdest. Nützt es dir, daß du Gewalt verübst, daß du das Werk deiner Hände verwirrst, doch über dem Plan des Frevlers aufstrahlst?“ (10,2f.).
Jene Frage, mit der Jesus von Nazaret nach dem Zeugnis des Matthäus starb, ist Teil des Psalmes 22, der so beginnt:
„Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen, bist fern meinem Schreien, den Worten meiner Klage. Mein Gott, ich rufe bei Tag, doch du gibst keine Antwort; ich rufe bei Nacht und finde doch keine Ruhe“ (22,2f.).
Und um noch einmal den Rabbi Levi-Jizchak zu zitieren: „Vor dem Mussaf-Gebet am Jom Kippur rief er aus: „Heute ist der Tag des Gerichtes. David verkündet ihn in seinen Psalmen. Heute stehen alle Menschen vor dir, auf daß du über sie urteilst. Aber ich, Levi Jizchak, der Sohn der Sarah aus Berditschew, ich sage und verkünde, daß du es bist, über den heute geurteilt wird! Deine Kinder werden es tun, sie, die für dich leiden, die deinetwegen sterben, um deinen Namen, dein Gesetz und deine Verheißung zu heiligen!“ (E. Wiesel, Chassidische Feier, Wien 1974,106)
Dieser Hader mit Gott drängt sich uns heute genauso auf wie eh und je. Denn es stellt sich ja nicht nur die Frage, ob man nach Auschwitz noch Gedichte schreiben dürfe, sondern die viel radikalere Frage, ob man angesichts dieses unsäglichen Elends, der zum Himmel schreienden Unmenschlichkeiten in dieser Welt noch an Gott glauben könne oder ob nicht die absolute Sinnlosigkeit das letzte Wort habe.
Wenn wir heute im Angesicht des Todes von Carlo Schmid von Trauer erfüllt sind, ja überwältigt werden, dann sollten wir, so meine ich, auch als Christen unsere Fragen nicht unterdrücken, die Frage etwa, warum er so viel Leid erfahren mußte, welches in seinem Angesicht so viele Furchen hinterlassen hat; warum er jetzt von uns genommen wurde; welchen Sinn überhaupt Krankheit und Tod im Leben der Menschen haben; die Frage auch nach dem „Danach“.
Ernst Bloch sagte mir einmal im Hinblick auf den Tod: Dann wird es spannend: Gibt es etwas danach, oder gibt es nur das Nichts?
Wir sollten auf unsere quälenden Fragen auch keine vorschnelle Antwort geben, weder Sie, meine verehrten Zuhörer, noch der Prediger. Solche vorschnellen Antworten sind oft so nichtssagend angesichts des unfaßbaren menschlichen Leids. Ich glaube, es ist richtiger und menschlicher und christlicher, daß wir uns ehrlich zugestehen: Ich weiß wirklich keine Antwort darauf, warum Carlo Schmid jetzt sterben mußte. Ich weiß im Ernst keine zufriedenstellende Antwort darauf, warum Schmerz und Tod das Leben des Menschen so prägen.
Eine mögliche Einstellung ist allerdings in der Richtung dessen zu suchen, was Jesus von Nazaret nach der Tradition des Lukasevangeliums am Kreuz ausgerufen hat, den Psalm 31 zitierend: „Vater, in deine Hände lege ich meinen Geist“ (31,6).
Mit anderen Worten: Ich habe zwar keine zufriedenstellende Antwort, warum wir heute so von Trauer erfüllt sind. Wenn ich mich aber auf die Sache Jesu einlasse, wenn ich seinem Zeugnis Glauben schenke, dann darf ich glauben und hoffen, daß es trotz allem einen umfassenden Sinnhorizont gibt, den Jesus Gott nennt und von dem er bezeugt, daß es ein menschenfreundlicher Gott sei. Der Christ darf glauben und hoffen: In Jesus von Nazaret, in seinem Leben und Sterben, in seiner Auferweckung von den Toten hat Gott sein unwiderrufliches Ja gesagt zu den Menschen und zu der Welt der Menschen. Aufgrund des Zeugnisses dieses Jesus dürfen wir die Hoffnung haben, daß es ein „Danach“ gibt, ein Danach, das in der geheimen Offenbarung des Neuen Testamentes in einem tröstlichen Bild so beschrieben wird: „Dann sah ich einen neuen Himmel und eine neue Erde; denn der erste Himmel und die erste Erde sind vergangen, und das Meer ist nicht mehr. Ich sah die Heilige Stadt, das neue Jerusalem, von Gott her aus dem Himmel herabkommend; sie war bereit wie eine Braut, die sich für ihren Mann geschmückt hat. Da hörte ich eine laute Stimme vom Thron her rufen: Seht das Zelt Gottes unter den Menschen! Er wird in ihrer Mitte wohnen, und sie werden sein Volk sein; und Gott selbst wird mit ihnen sein. Er wird jede Träne aus ihren Augen wischen: Der Tod wird nicht mehr sein, nicht Trauer noch Klage noch Mühsal, denn die alte Welt ist vergangen. Er, der auf dem Throne saß, sprach: Neu mach’ ich alles“ (Offb 21,1-5).
Gemeinsames Gebet
Ich möchte Sie einladen, den christlichen Glauben und die christliche Hoffnung dadurch zum Ausdruck zu bringen, daß wir gemeinsam das Gebet sprechen, das Jesus uns gelehrt hat: Vater unser…
Gebet zur Grablegung
Wir danken dir, Gott, allmächtiger Vater, für diesen Menschen, der uns so nahe und kostbar ist und der uns plötzlich entrissen wurde aus unserer Welt. Wir danken dir für alle Freundschaft und Güte, die von ihm ausgegangen ist, für allen Frieden, den er gebracht hat. Wir danken dir, daß er bei aller Vergänglichkeit ein liebenswerter Mensch geblieben ist.
Wir bitten dich, nichts von diesem Menschenleben möge verlorengehen; was er gelebt und getan hat, komme der Welt zugute: Damit alles, was ihm heilig war, geehrt werde von den Menschen, die nach ihm kommen, und daß er in allem, worin er groß war, auch weiter zu uns spreche, gerade jetzt, da er gestorben ist. Wir bitten dich, daß er fortlebe in seinen Kindern und Kindeskindern, in ihrem Herzen und im Wagnis ihres Lebens, in ihrem Denken und Gewissen.
Laß uns im Leben und Sterben dieses Menschen deine Verheißung erfahren: Im Tod wirst du uns treu sein.
Gib, daß dieser Tod uns nicht verbittert und einsam macht, sondern daß wir von neuem wagen, uns dem Leben anzuvertrauen.
Um Gottes und des Toten willen möchten wir aufgerichtet werden aus unserer Verzweiflung. Darum bitten wir dich durch Jesus Christus, deinen Sohn. Amen.
Quelle: Klemens Richter (Hrsg.), Der Himmel geht über allen auf: Beispiele der Verkündigung angesichts des Todes, Freiburg i.Br.: Herder, 1980, S. 100-105.