Predigt über Offenbarung 21,10-27
Von Dietrich Ritschl
Stellen Sie sich das vor: Ein Jude, den man später Johannes nannte, war in den 90-er Jahren des 1. Jahrhunderts als politisch Verbannter auf einer Insel vor der Küste Kleinasiens, also der heutigen Türkei. Im Geist war er auf einem hohen Berg. Vielleicht schloss er die Augen, das morgendliche Sonnenlicht drang noch durch die Lider, aber auch durch sein Gedächtnis, erfüllt mit den Geschichten der jüdischen Tradition. Jahrelang war er als Wanderprophet bei den kleinen christlichen Gemeinden auf dem Festland unterwegs gewesen, jetzt schrieb er ihnen einen äußerst langen Brief, von dem wir heute das 21. Kapitel vor uns haben. Stellen Sie sich das vor: Die Bilder, die er sah, interpretierten die Weltlage, die politische Situation im römischen Reich, die Misere in den Kirchen, die Zukunft der Welt. Es waren nicht Bilder, wie sie Schizophrene sehen – ich denke an die Prinzhorn-Sammlung in Heidelberg mit den ergreifenden Werken dieser Patienten – auch nicht die psychodelischen Bilder, die von Drogen aus unserm Inneren hervorgerufen werden können. Es waren jahrhundertealte, erinnerungsgeformte, Hoffnung ausstrahlende Bilder in gänzlich neuer Anwendung, umgemünzt in metaphorische Sprache, also in uneigentliche, poetische, gewagte Worte. Sie bieten inmitten der Spannung zwischen brutaler Macht, Lüge, Blutvergießen und Niedergang der Ethik einerseits und dem Willen und Plan des guten Gottes Israels andererseits eine völlig neue Weltinterpretation. Sie zeigen Gottes Gegenentwurf.
Lesung von Johannes-Apokalypse 21,10-27:
10 Und er führte mich im Geist auf einen großen und hohen Berg und zeigte mir die heilige Stadt Jerusalem herniederkommen aus dem Himmel von Gott, 11 die hatte die Herrlichkeit Gottes; ihr Licht war gleich dem alleredelsten Stein, einem Jaspis, klar wie Kristall; 12 sie hatte eine große und hohe Mauer und hatte zwölf Tore und auf den Toren zwölf Engel und Namen darauf geschrieben, nämlich die Namen der zwölf Stämme der Israeliten: 13 von Osten drei Tore, von Norden drei Tore, von Süden drei Tore, von Westen drei Tore. 14 Und die Mauer der Stadt hatte zwölf Grundsteine und auf ihnen die zwölf Namen der Apostel des Lammes. 15 Und der mit mir redete, hatte einen Messstab, ein goldenes Rohr, um die Stadt zu messen und ihre Tore und ihre Mauer. 16 Und die Stadt ist viereckig angelegt, und ihre Länge ist so groß wie ihre Breite. Und er maß die Stadt mit dem Rohr: zwölftausend Stadien. Die Länge und die Breite und die Höhe der Stadt sind gleich. 17 Und er maß ihre Mauer: hundertvierundvierzig Ellen nach Menschenmaß, das der Engel gebrauchte. 18 Und ihr Mauerwerk war aus Jaspis und die Stadt aus reinem Gold, gleich reinem Glas. 19 Und die Grundsteine der Mauer um die Stadt waren geschmückt mit allerlei Edelsteinen. Der erste Grundstein war ein Jaspis, der zweite ein Saphir, der dritte ein Chalzedon, der vierte ein Smaragd, 20 der fünfte ein Sardonyx, der sechste ein Sarder, der siebente ein Chrysolyth, der achte ein Beryll, der neunte ein Topas, der zehnte ein Chrysopras, der elfte ein Hyazinth, der zwölfte ein Amethyst. 21 Und die zwölf Tore waren zwölf Perlen, ein jedes Tor war aus einer einzigen Perle, und der Marktplatz der Stadt war aus reinem Gold wie durchscheinendes Glas. 22 Und ich sah keinen Tempel darin; denn der Herr, der allmächtige Gott, ist ihr Tempel, er und das Lamm. 23 Und die Stadt bedarf keiner Sonne noch des Mondes, dass sie ihr scheinen; denn die Herrlichkeit Gottes erleuchtet sie, und ihre Leuchte ist das Lamm. 24 Und die Völker werden wandeln in ihrem Licht; und die Könige auf Erden werden ihre Herrlichkeit in sie bringen. 25 Und ihre Tore werden nicht verschlossen am Tage; denn da wird keine Nacht sein. 26 Und man wird die Pracht und den Reichtum der Völker in sie bringen. 27 Und nichts Unreines wird hineinkommen und keiner, der Gräuel tut und Lüge, sondern allein, die geschrieben stehen im Lebensbuch des Lammes.
„Großvater, ich glaube nicht, dass es einen Gott gibt, ich bin nicht religiös“ – sagte einer unserer Enkel. Er war gerade 14. – Den Satz über Gott muss ich wohl ernst nehmen, aber für ein Verständnis des Wortes „religiös“ ist er noch nicht alt genug. Ich kann ihm noch nicht erklären, dass Religiös-Sein nicht ureigentlich das Christsein ausmacht, dass es oft eher hinderlich sein kann. Denken wir doch an den Cocktail von missverstandenen Religionen, ein bisschen Buddhismus, etwas vom Islam, von Esoterik und Nahtoderwartungen… der uns heute in den Medien, Buchhandlungen und im allgemeinen Gerede offeriert wird. Der Enkel Mauricio – seine chilenische Mutter, ein Flüchtlingskind aus der Zeit nach der Ermordung Allendes, gab ihm den Namen – will von all dem freilich nichts wissen, aber er denkt, das Christentum sei etwas Ähnliches, wichtiger noch: er kennt, wie Millionen anderer, die biblischen Geschichten nicht mehr. Die Bilder sagen ihm nichts oder sie werden missverstanden. Als er 5-jährig war, verstand er noch die Sprache der inneren Bilder. Wir gingen mit ihm im Wald hinter dem Haus Löwen jagen mit Pfeil und Bogen. Ob es dort wirklich Löwen gab, das war nicht wichtig, aber das Abenteuer! Jetzt, der Kindheit entwachsen, dürfen Bilder nur Abbilder von Realem sein, oder eben Wunschbilder. So ist das bei fast allen Menschen, denke ich. Aber ohne Bildersprache zu verstehen, sagt uns die ganze Bibel, ja das ganze Christentum nichts.
Wie ist es überhaupt mit der Kraft von Bildern? Ich kenne drei Sorten: Das farbige Plakat sagt: kaufen Sie dieses Cabrio, diesen Kompakt, Sie werden ein völlig neues Fahrgefühl haben, eine neue Selbstsicherheit gewinnen! Nehmen Sie diese Hautcreme, sehen Sie dies Foto: die Fältchen im Gesicht sind weg. Bilder, Wünsche, erfüllte Träume…sie werden Realität. Die Bausparkasse sagt: sehen Sie dieses friedliche Bild vom neuen Häuschen: Vater und Mutter Hand in Hand davor, zwei Kinder, ein Hund, ein tiefgrüner Rasen – wir helfen Ihnen, Sie können das auch haben. Oder, zweitens: wir haben noch Bilder aus dem Krieg in Erinnerung, schreckliche Bilder; ich war damals 16, als er zu Ende ging. Erinnerungsbilder, Traumata. Abends kann man die Bilder immer wieder sehen, vor Jahren die Hutus und Tutsis, etwa eine Million tot; am 11. März in Madrid, letzte Woche in Bagdad oder in Israel, diese Woche wieder im Kosovo, morgen wieder im Gazastreifen. Oder drittens: wir haben furchtbare Bilder von der Zukunft vor dem geistigen Auge: wir hatten – und viele, die es noch besser wussten als wir – die US-Administration gewarnt: Ihr werdet Terrorismus in großem Ausmaß schüren, es wird kein Ende geben, wir sehen die Bilder der Zukunft schon vor uns!
I. ANDERS DIE GOTTBEZOGENEN VISIONEN
„I have a dream…“ – „der tief verwurzelt ist in unserer amerikanischen Tradition“, sagte er, und 7 mal wiederholte er es, setzte neu an, sieben Bilder der Zukunft, der Freiheit, der Versöhnung, über schwarze und weiße Kinder, über die roten Hügel in Georgia, die Rocky Mountains in Colorado, über Oasen der Freiheit, über Juden und Heiden, Protestanten und Katholiken – die sich die Hände reichen. Und beim 7. Mal schwangen die Verse aus dem Propheten Jesaja mit: „I have a dream, dass eines Tages jedes Tal erhöht und jeder Hügel und Berg erniedrigt wird. Die rauen Orte werden geglättet und unebene Orte begradigt werden. Und die Herrlichkeit des Herrn wird offenbar werden, und alles Fleisch wird es sehen.“
Es war 1963, der Marsch nach Washington, eine Viertel Million vor ihm, Millionen am Fernsehen. Eine gewaltige politische Interpretation in der Gott-Perspektive. Eine ungeheure Wirkung auf das ganze Land. Wir lebten damals dort – ich habe Martin Luther King einmal kennen gelernt. Ich werde dies alles nie vergessen, und dem ganzen Land ging es so: etwas ganz Neues war angebrochen. Wenn wir es am Fernsehen heute wieder sehen, kommen einem die Tränen. Und doch waren es alles nur Bilder, Bilder einer Vision der Freiheit der Menschen und der Herrlichkeit Gottes. Welche Sprache! Welche Kraft der Vision!
Ähnlich der Mann auf Patmos, geistig auf einem Berg, wie über 600 Jahre vorher der Prophet Hesekiel. Auch er auf einem Berg, auch er blickte auf die Zerstörung Jerusalems zurück. Er sagt im 40. Kapitel: „Am zehnten Tag es Monats am Jahresanfang im 25. Jahr unserer Verschleppung und im 14. Jahr nach der Eroberung der Stadt Jerusalem, genau an diesem Tag …“ da – im Jahr 573 vor Christus, hatte er die Vision von einer neuen Stadt und einem neuen Tempel, einer neuen Gegenwart Gottes.
Der Jude auf Patmos – etwa im Jahr 95 – hatte diese Visionen in seinem Gedächtnis und die Hoffnung in seinem Herzen. Er war ein Christ geworden, ohne aufzuhören ein Jude zu sein, hatte er doch die kleinen Gemeinden auf dem Festland eifrig besucht, kritisiert, ermahnt. Sie sollten die Konsequenzen daraus ziehen, dass der Gott Israels in der Geburt, in der Lehre und in der Kreuzigung Jesu seine Erwählung auf die Völker des Mittelmeerraums ausgedehnt hatte, ausgedehnt auf die ganze Welt. Ja, es gab politische Schikanen seitens der Römer, die wirklich großen Verfolgungen des 3. Jahrhunderts waren noch nicht ausgebrochen. Aber der Kaiser Domitian nannte sich „dominus et deus“. Schon damals waren Christen in Versuchung, sich den Inhabern der Macht anzugleichen, Kompromisse zu machen, ihre Religiosität in die Innerlichkeit, ins Private zu verlagern, beim Kaiserkult da und dort mitzumachen. Die Gefahr war nicht Weltuntergang, nicht Verfolgung der kleinen Kirchen, sondern Anpassung, falsche Weltinterpretation. (Es kommt uns bekannt vor). Dabei litten doch alle unter den Kriegswirren, der Machtanmaßung der Kaiser, dem Gefängniswesen, dem Hass unter den Nationen, der Logik der Vergeltung – und in ihren eigenen Reihen gab es Spaltungen. Und die Juden, sie hatten unendlich gelitten, ihre heilige Stadt war zerstört, sie gingen in die Emigration. Erst viel später durften einige mit Sondergenehmigung an die Mauer des zerstörten Tempels, die so zur Klagemauer wurde.
Johannes auf Patmos – er war gewiss nicht identisch mit dem Autor des Johannes-Evangeliums, dazu war seine Theologie viel zu verschieden von der johanneschen – ihm verschmolzen in den Visionen die bald 700 Jahre alten Bilder des Hesekiel zu neuen Kombinationen. Sie wurden ihm zu neuen Sprachfiguren für die Interpretation seiner Zeit, seiner Welt und ihrer Zukunft. Aus den alten Worten wurden neue Bilder, zu Bildern geronnene Worte.
II. WIE REGIERT DENN GOTT HEUTE?
Verehrte Zuhörer, liebe Gemeinde, man soll nicht historische Situationen über die Jahrhunderte- und -tausende leichtfertig vergleichen. Das kommt nie gut heraus. Aber die Fragen, die die Gläubigen hatten, die sind vergleichbar. Auch er fragte, so wie wir: wenn es Gott gibt – was Mauricio vielleicht noch lernen kann – also wenn es Gott gibt, lenkt er denn die Dinge? Ist er denn verantwortlich für den Verlauf der Geschichte? Gibt er uns die Möglichkeit, die „Achse des Bösen“ zu erkennen und uns selber als gut, als weitgehend gottwohlgefällig, als die, die Recht haben? Wie erweist er denn seine Macht, seine Allmacht, da doch ungezählte Millionen unbehütet leiden, hungern und sterben? Oder: wenn seine Macht und Wahrheit sich erst später erweisen, aber uns heute schon den Weg zeigen, uns warnen und einladen und mit Hoffnung und Vertrauen füllen – das ist übrigens, was ich persönlich glaube – kann man sie heute schon sehen, spüren? Welche Antwort hatte darauf der schriftgelehrte jüdische Christ auf der Insel Patmos? Wo denn? Wie denn? Wo soll sich denn Gottes Macht zeigen? Erschrecken Sie nicht, wenn ich das Wort „entblöde“ brauche, er entblödete sich nicht, möchte ich sagen, diese Macht „das Lamm“ zu nennen! Stellen Sie sich das vor: hier die Macht des römischen Kaisers und Reiches, gegenübergestellt einem Lamm, das Gott gehört, einem Opferlamm! Hätten wir nicht in der Kirche diese Metapher millionenfach in ernsten Gebeten, Liedern und Gemälden, kitschigen Postkarten und Abzeichen wiederholt und totgetreten, würde die unglaubliche Wucht dieses Vergleichs uns ganz anders in den Ohren tönen. Bei Ghandi und Martin Luther King haben wir noch gestaunt, wie Gewaltlosigkeit gegenüber brutaler Militär- und Polizeigewalt wirkt. Aber bei einem Wort wie „Lamm Gottes“ merken wir gar nichts mehr – ich jedenfalls würde es darum nicht verwenden, in keiner Predigt, auch den Studenten gegenüber nicht; erst recht nicht gegenüber unserm Enkel Mauricio. Ein totes Lamm, was soll denn das, wie geht das denn? Seit ca. eintausend-neunhundertfünfzig Jahren sprechen Christen bei den Passionsfeiern vom „Lamm“, vom toten Jesus und von der Kraft der Zuwendung Gottes, der Vergebung. Aber ist es nicht wie bei den Advents- und Weihnachtsfeiern: einige Momente des Gedenkens, dann wieder der Alltag? Wie geht denn das?
Spätestens hier – beim absurden Gebrauch der Bezeichnung für ein so extrem schwächliches und kleines Wesen wie es ein Lamm ist, ein Bild für den gekreuzigten Jesus, um zu sagen, wie stark und herrlich Gott ist – spätestens hier merken wir, dass die Sprache des Alten und Neuen Testamentes und mithin die Sprache der Juden und Christen aller Jahrtausende metaphorische, uneigentliche Sprache ist. Die Geschichten der Bibel – eben die Geschichten, in denen heute die junge Generation zum großen Teil gar nicht mehr zu Hause ist – die Geschichten und ihre Bilder sind keine Beschreibungen, keine Abbilder von Geheimnissen, keine Fotos, keine Deskriptionen. Sie sind Metaphern, uneigentliche Redeweise, die nie auf Eigentliches, sozusagen Nacktes, Unverpacktes reduziert werden kann. Die Metaphern können nicht ausgepackt und aufgelöst werden. Sie können sich nur gegenseitig interpretieren und begrenzen. Das Wichtigste, das Herzstück des Glaubens – wir können es nur in Bildersprache sagen, weitergeben, gewiss nicht in philosophisch-theologischen Begriffen.
Wenn Sie der etwas alberne Vergleich nicht stört, will ich erzählen, wie ich den Studierenden, besonders den Anfängern, versucht habe zu erklären, was eine Metapher ist. Eine alte Werbung für Esso-Benzin hieß: „Tu den Tiger in den Tank“. Niemand natürlich sollte die Idee haben, einen richtigen Tiger in einen Autotank zu stopfen: nur die Sprungkraft des großen Tieres sollte im Vergleich das Esso-Benzin anpreisen. Die alte Schulphilosophie sagte dazu: die Analogie zwischen dem Tiger und dem Benzin besteht nur in einem einzigen Attribut; es ist eine analogia attributionis. So auch, wenn die Psalmen und hundert andere Texte Gott „König“ nennen: nicht ein orientalischer König auf seinem Thron und mit seinen Gewändern war gemeint, sondern nur sein Attribut der Stärke und Weisheit. So wie ein König das Recht setzt und Recht hat, so auch Gott. So wie das Licht strömt und leuchtet, so beleuchtet Gott das Dunkel. Gott ist nicht Licht, er ist wie Licht. Man kann nicht sagen: er ist so und so, sondern: er ist wie dies oder jenes. Gott gibt es auch nicht in dem Sinn, wie es Gegenstände oder Zustände gibt. Unser Enkel Mauricio müsste, wenn er älter wird, lernen, dass es in dem Sinn, den er jetzt meint, Gott nicht gibt, sondern in seiner eigenen Weise und dass wir nur in Metaphern von ihm sprechen können.
Aber was heißt „nur“? Das ist kein Mangel, keine unglückliche Begrenzung, sondern Ausdruck seines Gottseins, seiner Heiligkeit, ein bleibender Schutz vor Trivialisierung, vor einer Vergegenständlichung Gottes. Gewiss, in allen Religionen, auch bei Juden und Christen aller Jahrhunderte, besteht genau diese Gefahr: Gott in trivialer – auch mit besten religiösen Absichten – Weise an Objekte zu binden. Sorgfältiges, immer erneutes Studium der Geschichten und der Bildersprache der Bibel sind der einzige Weg, diese urmenschliche und urreligiöse Sehnsucht nach Vergegenständlichung Gottes abzuschütteln und zu überwinden.
Und wie regiert er heute? „Regieren“ ist auch eine Metapher, was ist denn gemeint, wenn jemand das sagt, wenn unsere Lieder das sagen und ihn darum preisen? Manches, was in der Johannes-Apokalypse steht, kann ich nicht nachsprechen, vor allem nicht die Stellen über den Endkampf in Harmagedon, auf die sich mindestens zwei amerikanische Präsidenten und viele andere Fundamentalisten für ihre weltpolitischen Ziele immer wieder berufen haben, auch nicht die Kapitel über das 1000-jährige Reich – von einem solchen gingen im 20. Jahrhundert so entsetzliche Schrecken aus – auch nicht die Vernichtung und Verbrennung der Mehrzahl der Menschen am Ende der Zeiten. Es wundert nicht, dass die Johannes-Apokalypse es über Jahrzehnte schwer hatte, in die Bibel aufgenommen zu werden. Vielleicht hat sie den Weg in das Neue Testament geschafft wegen dieses wunderbaren, tröstlichen Kapitels 21?
Ja, böse Mächte haben unsere schöne Welt reichlich regiert und tragisch beschädigt, Gott verspottet und Menschenwürde missachtet, und doch gibt es einen Trost in der sich ausbreitenden Gegenwart Gottes. Und doch regiert er in dem Sinn, dass er Recht hat, dass sein Wort und seine Zusage gilt, ewig gilt, dass Liebe letztlich stärker ist als Hass, Friede statt Krieg, Versöhnung das letzte Wort ist. Das ist die Selbstdurchsetzung Gottes, die Erfahrung und Ausbreitung seiner Gegenwart, seiner Liebe. Wenn das nicht Leitsterne sind für unser Leben!
Es ist eben nicht so, wie es der griechische Dichter Hesiod um 700 v.Chr. sagte, dass auf ein Goldenes Zeitalter ein Silbernes folgte und – in ständigem Abstieg – das Heroische, und jetzt das Böse, das Eiserne. Es ist eben nicht so wie in Dürrenmatts schlimmer Geschichte: alle sitzen in einem fahrenden Zug im Tunnel, der Tunnel hört nie auf, geht immer tiefer, tiefer, endlos – bis wir alle weg sind.
III. DIE GEGENWART GOTTES IN DER STADT DER ZUKUNFT
Ist nicht der ganze Inhalt der Bibel, von der Schöpfung über die Zehn Gebote bis zu den Propheten, dem Kommen von Jesus, der Bergpredigt, seinem Tod und seiner Verherrlichung, seiner Gegenwart bei den Armen und Schwachen, ist das nicht alles Zeugnis von Gottes „Gegenentwurf“ zu unserm Tun, unserer Sicht der Dinge, unserer Weltinterpretation?
Aus dem Kap. 21 nehme ich zum Schluss acht Bilder heraus, die diesen Gegenentwurf zeigen:
1. Eine Stadt zum Wohnen wird es sein, sagt das Bild. Nicht ein Himmel der Ahnungen zum Schweben der Seelen, sondern zum Leben, zum Wahrnehmen und Feiern der Herrlichkeit, das ist, der Präsenz Gottes. Sie ist partiell schon erfahrbar. Sie ist das Ziel; sie kommt. Am Anfang des Kapitels hatte er gesagt: seht, die Wohnung Gottes unter den Menschen!
2. Die Präsenz Gottes ist wie Licht, wie das Leuchten der Edelsteine. Das visionäre Aufblitzen der zwölf Steine ist keine Einladung zur Entschlüsselung der gemmnologischen Symbolik der damals bekannten und teuer importieren Edelsteine – er kannte sie vermutlich selber nicht – nur müssen es zwölf sein wegen der Totalität der zwölf Stämme Israels und der Grundlegung, „Grundsteine“ sagt er – der zwölf Apostel. Diese Grundlegung, das war doch nicht nichts! Das war der Beginn. Das Licht ist das Wichtige, auch zum Wort „Gold“ setzt er zweimal das Wort „durchscheinend“ – so ist das Bild: Licht, Durchleuchtung, offen ist alles, nichts verdunkelt, wo Gott ist.
3. Die Stadt hat – wie damals alle Städte – eine Mauer. Aber es ist keine Festung, kein umzäunter, ausgegrenzter Bereich für Religion. Weit geöffnete Tore symbolisieren den freien Zugang. Zwölf Tore, wiederum die Apostel – so wichtig waren sie ihm, dem Christ gewordenen Juden. Mit der Zahl kann man spielen: 12 x 12 gibt 144 (eine Zahl mit der er in anderen Kapiteln spielt) – zwölftausend Stadien… Ist die Stadt für ihn denn die Kirche? Das kann doch nicht sein, die Stadt Gottes ist doch etwas ganz Neues. Und doch lassen manche Bilder an die Kirche denken, an die kleinen, kümmerlichen Kirchen vielleicht, die er in Kleinasien besucht hatte? Spricht er gar nicht vom Ende der Welt, sondern von dem, was jetzt ist? Vielleicht ja, vielleicht doch nicht, denn
4. sieht er jemand maß nehmen, das Neue, Herrliche abschreiten und mit einem „Menschenmaß“ ausmessen: es ist unermesslich groß. Ein Würfel mit jeweils 2000 km messenden Kanten („12‘000 Stadien“) – also mindestens von der persischen Grenze bis Portugal reichend – und ebenso hoch nach oben. Welch ein Bild! Hier spüren wir wieder, dass dieser Traum ein Bild ist, nicht die Beschreibung einer Sache oder eines Ortes. Das verbietet schon das Bild von den Perlen: die Tore sind nicht aus Perlen – wie es das bekannte Lied vielleicht sagt – sondern sie sind selber Perlen. Das sollen wir uns nicht vorstellen, sondern wir sollen das herrliche und friedliche Bild von offenen Toren einfach vor uns stehen lassen.
5. Diese Tore sind nie verschlossen. Es ist Friede, ewiger Friede. Kein Mond und keine Sonne machen Einschnitte in die Zeit, ja, es gibt gar keine Zeit mehr. Kein Dunkel und keine Zeit.
6. Aber es ist nicht menschenleer; Massen von Menschen strömen hinein. Sie wollen alle dort wohnen, im Frieden, im Licht. Es kommen auch Könige und Machthaber, sogar ihnen wird das Prädikat Herrlichkeit beigemessen. Sie bringen alles, was sie haben und sind – das erinnert an den alten Traum in Israel vom Zug aller Menschen auf den Berg Zion. Sie kommen alle und wollen Frieden, wollen im Licht leben. Es wird kein Leid mehr sein, keine Klage. Stellen Sie sich das vor!
7. Ja, diese Traumstadt ist im Jahr 95 sicher ein Gegenbild zur mächtigen Stadt Rom, über die der Schreiber dieses langen Briefes nichts Gutes zu sagen hat. Für ihn war sie die „Achse des Bösen“, aber das sind gefährliche Bilder. Ein Gegenentwurf Gottes – das ist ein gutes Bild!
8. Das Wichtigste vielleicht – jedenfalls gewiss für solche, die sich ein Leben lang in einer Mischung von Gram, Enttäuschung, Neugierde, Freude und Hoffnung mit der Kirche befasst haben und in ihr mitgearbeitet haben, – das Wichtigste vielleicht ist der erstaunliche Satz, es gäbe in Gottes neuer Stadt keinen Tempel mehr. Wo Gott wirklich und dauernd gegenwärtig ist, muss kein Tempel, keine Kirche mehr sein. Sie sind ja nur vorläufig, nur Hinweise und Gleichnisse für die Dinge Gottes und für das echte Leben.
Vielleicht wird es mir später einmal gelingen, auch dem Enkel Mauricio diese Bilder so zu erklären, dass er sie nicht für unglaubwürdige religiöse Abbildungen hält, sondern in ihnen Gottes Gegenentwurf zu unserm Tun und Denken sieht und sie schön findet. Ich benutze dieses Wort „schön“ mit Bedacht, denn ich meine, in wenigen Kapiteln der Bibel käme Gottes Schönheit so klar heraus wie in diesen Bildern von der Stadt der Zukunft. Gottes Schönheit bricht in das Hässliche ein, das Neue in das Alte, die Liebe in den Hass. Stellen Sie sich das vor!
Gepriesen sei sein herrlicher Name in Ewigkeit! Seine Herrlichkeit erfülle die ganze Erde!
Amen.
Gehalten am Sonntag Judika, 28. März 2004.