Todmüde – und was weiter? Predigt über 1.Könige 19,1-8
Von Albrecht Goes
Und Ahab sagte Isebel alles, was Elia getan hatte und wie er alle Propheten Baals mit dem Schwert umgebracht hatte. Da sandte Isebel einen Boten zu Elia und ließ ihm sagen: Die Götter sollen mir dies und das tun, wenn ich nicht morgen um diese Zeit dir tue, wie du diesen getan hast! Da fürchtete er sich, machte sich auf und lief um sein Leben und kam nach Beerseba in Juda und ließ seinen Diener dort. Er aber ging hin in die Wüste eine Tagereise weit und kam und setzte sich unter einen Wacholder und wünschte sich zu sterben und sprach: Es ist genug, so nimm nun, Herr, meine Seele; ich bin nicht besser als meine Väter. Und er legte sich hin und schlief unter dem Wacholder. Und siehe, ein Engel rührte ihn an und sprach zu ihm: Steh auf und iß! Und er sah sich um, und siehe, zu seinen Häupten lag ein geröstetes Brot und ein Krug mit Wasser. Und als er gegessen und getrunken hatte, legte er sich wieder schlafen. Und der Engel des Herrn kam zum zweitenmal wieder und rührte ihn an und sprach: Steh auf und iß! Denn du hast einen weiten Weg vor dir. Und er stand auf und aß und trank und ging durch die Kraft der Speise vierzig Tage und vierzig Nächte bis zum Berg Gottes, dem Horeb. (1.Könige 19,1-8)
»Die falschen Götzen macht zu Spott« haben wir gesungen. Das ist das Lied vom Karmel, das Triumphlied nach Elias Sieg; aber der Mann, der uns in unsrem Text begegnet, ist ein geschlagener Sieger. Er hatte erfahren, was nach ihm Kreuz- und Ordensritter, Könige und Mächtige an vielen Orten der Welt zu erfahren hatten: daß, wo immer die Sache Gottes mit menschlicher Gewalt vermengt wird, geschlagene Sieger auf dem Platz bleiben. Blutschuld ist Blutschuld; das Pilotengebet vor dem Abwurf der Bombe über Hiroshima war kein Gebet, und die Anrede »Soldaten Christi!«, wie sie der Armee in Vietnam im Weihnachtsgottesdienst zuteil wurde, ist eine lästerliche Rede.
Elia, der Sieger, hört Isebels Racheschwur und flieht. Er läuft um sein Leben. Seinen Diener läßt er in Beerseba und läuft allein weiter, in die Wüste nun, mit dem Wunsch, zu sterben. »Es ist genug.« So nahe können sie beisammen wohnen, wir wissen es wohl: die Stunde des Triumphes und die Stunde der Schwermut; der Lebenswille und der Lebensüberdruß. Aber wie Erfolg keiner der Namen Gottes ist, so ist auch Resignation kein Gottesname.
Todmüde – und was weiter? So wollen wir fragen, und in Frage und Antwort soll uns das Evangelium aus dieser Geschichte finden, die gute Botschaft. Gewiß, wir sind nicht Elia, und Gott hat kein Schema seiner Hilfe. Aber weil wir dieses »todmüde – und was weiter?« als Frage unter uns kennen, hören wir Gottes Geschichte mit Elia zu und denken dabei, er trete sogleich in unsre Geschichte ein.
Was ists, das Elia erfährt? Daß es dies gibt: die Gnade dessen, der uns einholt. Daß es den gibt, der alle Wege unsrer Flucht zählt und kennt. Vor dem zu fliehen uns nicht gegeben ist; doch ist es uns erlaubt, zu ihm zu fliehen. »So jagen wir ihn ohn Ermatten«: so steht es im Furienlied. Aber der, der uns hier einholt, der Jäger ewiger Liebe, der faßt uns nicht im Nacken: hab ich dich, Narr, der du meinst, mir entfliehen zu können. Er ist ja der, der, da er uns einholt, uns sogleich überholt und uns also sein Angesicht zuwendet, Antlitz zu Antlitz: »Was machst du hier, Elia?«
Und Elia erfährt, daß es die Gnade, die uns herausholt, gibt. Da ist der Schlaf, der schwere Schlaf zuerst, und danach, nach der geheimnisvollen Speisung, noch einmal ein Schlaf. Es mag uns in den Sinn kommen, daß ein vielkundiger Lehrer, Thomas von Aquino, den Schlaf zu den Heilmitteln wider die Traurigkeit gezählt hat. Aber dann erreicht den Propheten der Befehl, der dem Schlaf ein Ende setzt, der Befehl, weiterzugehen: »Du hast einen großen Weg vor dir.« Es ist hier nicht zu sprechen von dem, was ihm am Ziel dieses Weges zuteil wird, von der »Stimme verschwebenden Schweigens«, die ihm Neues, Niegekanntes sagt, sondern zunächst nur von dem, daß schon dieser große Weg zu den Gnadengaben zählt. Ich sage nicht: es sind immer die einfachsten Dinge, durch die einem Leben geholfen wird. Aber ich will sagen: es können auch diese einfachsten Erfahrungen sein, die über das »todmüde« hinausführen. Welche? Zu sehen, was ist. Nicht nur Wüste ist da, Gebirgszug, rauh-verschlossene Welt, sondern auch der Sonnenaufgang über dieser Wüste, das Blumenkissen an einem Abhang, ein einsam-ragender Baum. Zu hören dann: nicht nur das Hundegeheul, den Schakalsschrei, die Gefahr, sondern auch den lebendigen Wind und den Vogelruf. Zu laufen – und so des Weges inne zu werden, des eigenen Leibes dabei, die gute Müdigkeit des Körpers zu erfahren, nicht als Last, sondern als Wohltat. Zu sprechen endlich: nicht nur, schwer und unerlöst, mit sich selbst, sondern auch mit dem Unbekannten, der irgendwo eine Hütte hat, und mit einem, der hier eine Herde hütet.
Und dann erfährt Elia die Gnade des neuen Auftrags. Was in jener Begegnung am Ziel des Weges Elia zuteil wird, ist zuerst das Geschenk einer göttlichen Korrektur. Nicht im Wind, nicht im Beben, nicht im Feuer ist der Herr. Das will sagen: es ist ein Abschied zu nehmen. Und will sagen: es geht weiter. Abschied ist zu nehmen von einem Gottesbild, in das sich Gottfremdes, sollen wir sagen »viel wilder Elia«, eingemengt hatte. Aber in diesem Abschied wohnt schon ein neuer Anfang. Wolle nicht sogleich wissen, wie es weitergeht. Wolle den zweiten Schritt nicht vor dem ersten tun, und wenn du aus der ersten Reihe in die zweite versetzt wirst, wenn der neue Auftrag der unansehnlichere Auftrag zu sein scheint, so hadere nicht mit dem, der beide kennt, deine Kraft und die Grenze deiner Kraft.
Sprechen wir von Elia und seiner Erfahrung? Sieht uns nicht, wenn wir von der Gnade, die uns einholt, sprechen, das Angesicht dessen an, der um die vierte Nachtwache zu seinen im Sturm bedrängten Jüngern kommt? Und wieder das Angesicht dessen, der Petrus findet zwischen Knecht und Magd in des Hohenpriesters Palast, der ihn ansieht, einholt – und wärs gleich, daß er ihn holt auf den Weg der bitteren Tränen? Und wo wir sagen »Gnade, die uns herausholt«, da hören wir die Stimme, die zu Matthäus spricht: »Folge mir nach!«, und zu den Furchtsamen hinter Tür und Riegel: »Gleichwie mich der Vater gesandt hat, so sende ich euch.« Und lesen wir hier von geröstetem Brot und von der Kanne Wassers, so ersteht vor unsrem Blick das andere Mahl schon: »Nehmet, esset, das ist mein Leib.« Und immer, wenn wir von Abschied und Neuanfang lesen im alten Buch der Könige, lesen wir den neuen Text schon mit: »Als du jünger wärest, gürtetest du dich selbst und wandeltest, wohin du wolltest; wenn du aber alt wirst, wirst du deine Hände ausstrecken – und ein anderer wird dich gürten.«
Und da dies unter uns ist, das Zeichen der weiterwirkenden Gnade, so sollen wir es einander zusagen und zuteilen, wie wirs vermögen. Das »todmüde« bleibt bei uns und wird wiederkehren, morgen vielleicht schon. Und »Mitten wir im Leben sind von dem Tod umfangen« — das ist keine mönchische Schwarzseherei sondern die Wahrheit, die auch dieses »todmüde« einschließt. Aber auch das »weiter« ist kein Traumspiel. Und nicht von unsrer Seele will weichen das andere Lied: Mitten wir im Tode sind von dem Leben umfangen.
Quelle: Albrecht Goes, Der Knecht macht kein Lärm. Dreißig Predigten, Hamburg: Friedrich Wittig, 1968, S. 19-22.