Walter Jens, Martin Luther. Prediger, Poet und Publizist (1983): „In der Welt der Bibel, deren Wüste er mit der Heide zwischen Wittenberg und Leipzig verglich, war er, wortwörtlich zu Hause: Da lebten liebe Bekannte, deren Geschick er ausmalte und auf sich selber bezog. Als wäre er ein naher Verwandter, schlüpf­te Luther in Petrus’ Wams, schaute mit Noah aus der Luke heraus, stimmte in Josephs Klagelied ein und machte aus dem Beraubten des Samaritergleichnisses eine Elendsgestalt, die exemplarisch auf das Los der Kreatur in Zeiten von Gewalt und Krieg verweist.“

Martin Luther. Prediger, Poet und Publizist

Von Walter Jens

»Ich kenne einen Menschen, der versichert hat, er habe die Strafen (der Hölle) mehr als einmal erlitten; sie hätten zwar nur sehr kurze Zeit gedauert, wären aber so schwer und so höllisch gewesen, daß ihre Gewalt keine Zunge aussprechen und keine Feder beschreiben könne … Wenn sie ihren höch­sten Grad erreichen, ja nur den zehnten Teil einer Stunde anhalten würden, so müßte er gänzlich zugrunde gehen und alle seine Gebeine würden in Asche verwandelt … In solchem Augenblick kann die Seele nicht glauben, daß sie jemals erlöst werden kön­ne … weit ausgespannt ist sie mit Christus, so daß man gleichsam alle ihre Gebeine zählen kann, und es ist kein Winkel in ihr, der nicht mit der bittersten Bitterkeit, mit Schrecken, Zittern und Traurigkeit angefüllt wäre, und alle von ewiger Dauer«: Der Augustinermönch Martin Luther, der 1518, in seinem Traktat» Resolutionen oder Erklärung der Thesen von der Kraft der Ablässe«, das innerliche Höllenfeu­er, das weit schrecklicher als jedes äußerliche sei, für unbeschreibbar erklärt, urteilt zu bescheiden über die ihm eigene Gabe der Vergegenwärtigung von höllischem Elend und ewi­ger Qual – viel zu bescheiden. Wenn es, nach Augustin und Dante, einem Schriftsteller gelungen ist, Verdammnis und Erlösungsbedürftigkeit des Menschen, die Situation an der Grenzscheide von Gericht und Befreiung, Todesurteil und Losspruch sichtbar zu machen, dann ist es Martin Luther gewesen.

»Ich kenne einen Menschen«: Mit diesen, dem zweiten Ko­rinther-Brief entnommenen Worten bringt der Schreiber, di­stanziert und ichbezogen zugleich, ein Subjekt ins Spiel, dessen Leidenserfahrungen, Schmerzen, Versuchungen, Irrwe­ge, Hoffnungen, Zweifel und endliche Gewißheiten er in immer neuen Anläufen, anfangs in verzagter Rede, später gelassener (wenngleich niemals unbedroht) artikuliert hat. Einerlei, ob er biblische Texte auslegte, Flugschriften schrieb oder im Disput mit großen und kleinen Kontrahenten Grund­satzfragen erörterte: Martin Luther hat sich nie gescheut, von sich, seinen Ängsten und Anfechtungen zu reden: »Ich selbst«, läßt er Erasmus in der Schrift »Vom unfreien Willen« wissen, »bin mehr als einmal bis in die Tiefe und in den Abgrund der Verzweiflung hinabgestoßen worden, so daß ich wünschte, ich wäre nie als Mensch erschaffen worden, solange ich nicht wußte, wie heilsam und wie nahe der Verzweiflung solche Gnade ist.«

Mit einer Inständigkeit, die in der Literatur ohne Beispiel ist, hat Luther die Seelenlage eines Menschen veranschaulicht – seine eigene! –, der Tod, Fegefeuer und Jüngstes Gericht im Hier und Jetzt durchlebt, das große Sterben, »was über die ganze Welt kommen wird«, beispielhaft vorwegnimmt und Zeugnis von jenen »harten Stößen« und »Püffen« gegen das Herz gibt, deren zermalmende Kraft er auf den Begriff bringt, indem er die Gedächtnis-Höhle Augustins mit ihren Gängen, Kammern und Nischen in eine Gewissens-Höhle verwandelt: ein inneres Inferno, in dem der Teufel den Hauptpart spielt, der »höllische Kaiser« und »Gott dieser Welt«, mit dem Lu­ther sein lebenslanges Zwiegespräch führte.

Niemanden – weder Christus noch den Papst oder Frau Käthe – hat man zu Wittenberg so wort- und bildreich wie den Teufel beschrieben: den Herrn und Meister der Lutherschen Nachtkriege, den Disputator, der die witzigen Paradoxien ans Herz und die Nüsse an die Zimmerdecke schnellen läßt, den Gesell, der in der Regenrinne, unterm Tisch und – sein liebster Aufenthalt – im Bett, als Luthers Schlafgenosse, sitzt. (»Er schläfet viel mehr bei mir denn meine Käthe.«)

Hausteufel! Eheteufel! Zauberteufel! Saufteufel! (»Sauff«: der Beelzebub aller Deutschen.) Freßteufel! Kleiderteufel! Fallensteller! Herbergsvater! Liedleinsinger! Spekulieret! Disputator! Die Synonyma jagen sich; hunderte von Voka­beln werden aufgeboten, um den »schwar­zen Nickel«, den »Poppelmann« und »Meister Klügel« dingfest zu machen und derart jene vier Worte zu bestätigen, die da lauten: »Ich kenne ihn wohl.«

Der Ort der Anfechtung – nicht das Dante-Reich der Unterir­dischen, sondern die Region des bösen Gewissens im Innern des Menschen (»denn ein jeglicher hat seine Hölle mit sich, wo er ist, so lange er die letzten Nöte des Todes und Gotts Zorn fühlt«) … der Ort der Anfechtung aber ist für Luther nicht nur die Herrschaftszone des Teufels, sondern zugleich ein Reich, in dem der Bedrohte Geistergespräche mit den biblischen Figuren der Schrift führt: imaginäre Dialoge, in deren Verlauf die angefochtenen Heiligen (Abraham, Hiob oder Petrus) den Charakter von Nothelfern gewinnen – Not­helfer wie es Paulus war, mit dem Luther über den Teufel und das Kreuz disputierte, Nothelfer wie Jesus von Nazareth, dessen Niedrigkeit mitsamt aller Angst, Todesnot und Ver­zweiflung der Reformator wieder und wieder in dramatischer Rede vorgeführt hat: »Der Teufel hat ihn geplagt«; »ist nicht ein Spiegelfechten gewesen, die Passion, sondern ein Ernst«; »er war kein Stock noch Stein«.

»Christus«, heißt es in Luthers Karfreitagspredigt, 18. April 1522, sei ein »fein pur lauter Mensch« gewesen. »Darum hat er auch … in des Todes Ängsten so getrauert und gezagt … Die Angst aber ist, eh einer stirbt, ein Stund oder vier vor dem Tod, wenn einer sieht dem Tod in die Freß hinein, sicht, daß der Tod seinen Rachen aufsperret und auf ihn Zufällen will. Da geht dann ein solch Not und Angst an, ein solch Zagen und Trauern, daß es ihm durch alle seine Gliedmaß geht, durch Leib und Leben, durch Mark und all Gebein«, und diese Angst und Traurigkeit hat »Christus auch gehabt, und viel härter denn sie etwa ein Mensch versucht hat, denn das ist ihm vorbehalten, daß er nicht wahnsinnig worden ist, sein Vernunft ist ihm lauter, klar und rein blieben, und je klarer die Vernunft den Tod ansieht, je schrecklicher er ist, je mehr Angst er auch macht.«

Ein Jesus-Porträt in der Form eines Lutherschen Selbstbilds: der Gekreuzigte als erhabenes alter ego eines Poeten, dessen Ziel es war, im Angesicht mittelalterlicher Höllenschrecken, Vernunft zu bewahren und dort, mit einem Höchstmaß von phantasiebestimmter Präzision, Eindrücke zu notieren, Visio­nen in klaren deutschen Sätzen zu bannen und aus Schreckens-Phantasmagorien plastische Szenen zu machen, wo an­dere, nach Luthers Wort, »toll und unsinnig« werden.

Das vermeintlich Unbeschreibbare zu formulieren und das Spektakulärste – Anfechtungen auf dem Seelenschauplatz, Apokalypse, unmittelbar bevorstehendes Ende der Welt – in ein wohlgegliedertes Drama, mit Szenenanweisungen, Ge­sprächen über die Zeiten hinweg und großen Monologen des Autors, zu verwandeln: Das ist Luther gelungen, weil er die Bibel in der Form einer zeitgenössischen Moritat nachzuer­zählen verstand. Jerusalem und Wittenberg, Kapernaum und das Augustiner-Kloster rückten nah zueinander, und die Fres­ser und Säufer, Hochzeithalter und Häuserbauer von Sodom sahen sich in sächsische Bauern und Herren von Adel umfiguriert, die mit ihren »Joachimstalern und Ketten« prunkten und den warnenden Lot alias Martin Luther als Toren ver­lachten. (»Du lieber Lapp«, läßt der Prediger seine Landsleute sagen, »zu morgen früh [aber], da die Sonne aufging, ward der Himmel schwarz, erhub sich ein groß Wetter, plitz, platz waren sie in inferno.«)

Wenn Luther die Bibel exegesiert, verwandelt er Figuren aus dem Bereich frommer Legende in Gestalten, die sich wie Zeitgenossen aufführen: Jesus trägt nach der Taufe, als Zei­chen der höchsten Ehre, der Würde des Doktors, ein rotes Barett, und Noah macht sich Gedanken über den Mist in der Arche: Wohin mit dem Dung all der Tiere? (Antwort: Nur frisch aus dem Fen­ster gekippt! Durch ein Loch von einer Leipziger Elle im Quadrat geht hinaus, was da will.)

Pointiert ließe sich sagen: Abraham, Jesaja, der barmherzige Samariter oder die Kindsmutter Maria waren Luther vertrau­ter als Erasmus oder Friedrich der Weise. In der Welt der Bibel, deren Wüste er mit der Heide zwischen Wittenberg und Leipzig verglich, war er, wortwörtlich zu Hause: Da lebten liebe Bekannte, deren Geschick er ausmalte und auf sich selber bezog. Als wäre er ein naher Verwandter, schlüpf­te Luther in Petrus’ Wams, schaute mit Noah aus der Luke heraus, stimmte in Josephs Klagelied ein und machte aus dem Beraubten des Samaritergleichnisses eine Elendsgestalt, die exemplarisch auf das Los der Kreatur in Zeiten von Gewalt und Krieg verweist: »Die Mörder … haben uns beraubet und verwundet, und haben uns halb tot lassen liegen, wir zappeln noch ein wenig, da liegt Roß und Mann, können uns aber selbst nicht aufhelfen. Und wo wir also liegend gelassen wür­den, da müßten wir sterben vor großer Angst und ver­schmachten, es würden uns Maden in den Wunden wachsen und würde Jammer und Not werden.«

Zwei oder drei vorgegebene Sätze aus der Heiligen Schrift, eine knapp angedeutete Szene, eine Rede mit wenigen Gedan­ken (und noch weniger Worten), und schon sieht Luther sich herausgefordert, fängt an weiterzudichten, auszuschmücken, dazuzuerfinden, macht aus Skizzen monumentale Gemälde und aus Abbreviaturen Genreszenen im Stil seines Jahrhun­derts: »Daß sich solch eins jungen Weibs«, so die Kirchenpo­stille von 1522 über Lukas 2,1-14, »daß sich solch eins jungen Weibs, die ihr erst Mal gebären sollt, niemand hat erbarmet, niemand ihren schwängern Leib zu Herzen nommen, nie­mand angesehen, daß sie in fremden Orten nit hat das aller mindste, das einer Kindbetterin not ist! Sondern allda … ohn Licht, ohn Feuer, mitten in der Nacht, im Finstern allein ist, niemand beut ihr einigen Dienst an, wie man doch natürlich pflegt schwangeren Weibern, da ist jedermann voll und toll in der Herberge … daß sich dies Weibs niemand annimt! Ich acht auch, sie hab sich selbst nit so bald vorsehen ihrer Ge­burt, sie wäre sonst vielleicht zu Nazareth blieben. Nun denk, was mögens für Tuchle gewesen sein, da sie ihn einwickelt, vielleicht ihr Schleier oder was sie hat mögen entbehren an ihrem Leibe … daß sie aber in Josephs Hosen sollt ihn gewickelt haben … das laut allzu lugerlich und leichtfertig.«

In der Tat, wenn für Luther ein Begriff nicht gilt, dann ist es »Einschüchterung durch Klassizität«. Statt den Text zu neh­men, wie er ist, spinnt der Poet sein Garn, sagt »vielleicht« und nicht »so ist es gewesen«, läßt Möglichkeiten über die Wirklichkeit triumphieren, stellt Fragen – und beginnt noch einmal von vorne: So oft Luther über das Evangelium des Christtags (um nur dies zu nennen) gepredigt und meditiert hat – immer fallen ihm neue Nuancen, Arabesken, überra­schende Weiterungen ein: Warum, fragt er, 1544 in der Haus­postille, hat niemand in der Herberge Leintuch, Polster, Kis­sen und Federbett zur Verfügung gestellt? Weshalb mußte sich die »Kindbetterin« erkälten, gezwungen, ihren Mantel herzugeben, während man drinnen, in der Herberge, praßte, fraß und mit Gewändern Aufwand trieb? Und warum stand niemand dem Vater zur Seite (Joseph hat »auch müssen das beste tun«), als er um Wasser für das junge Weib im Kuhstall bat? (»Pfui dich an, du schändliches Bethlehem, man sollt die Herberg mit Schwefel anstecken. Denn [wäre] die Jungfrau Maria ein Bettlerin … oder ein unehrliche Frau gewesen, die die Ehr hättʼ hintangesetzt, so sollt man doch zur solchen Zeit, ihr zu dienen, willig und geneigt sein.«)

Was 1522 wie Schamade klingt, dröhnt ein Vierteljahrhun­dert später im Fanfarenton: Aus der Idylle, die von Armut und Bescheidenheit kündet, ist ein Pamphlet geworden, das Jesu Elend und Jammer (»hier dienet er uns und legt sich in unseren Schlamm«) mit der Hoffart der Welt, dem Übermut der Reichen und der Gnadenlosigkeit der Habenden konfron­tiert.

Hier die Niedrigen und dort die im Regiment, hier der Bar­bier (»Meister Petrus, der Balbierer«), dem Luther die Erbau­ungsschrift »Wie man beten soll« dediziert, hier der Kriegs­mann oder die Magd und dort der Hofstaat zu Rom, Bischöfe und Kardinäle; hier der Stall und dort die Herberge; hier das Kreuz und dort die Zwingburg des Wider- und Endchristen, der Palast des Papstes. Unter diesen Aspekten stellte der Schriftsteller Luther, auf die Herausarbeitung schlagkräfti­ger, rhetorisch wirksamer Antithesen bedacht, das Demuts- Reich, in dem der »im kalten Winter, im fremden Lande« Geborene beheimatet ist, dem Reich der irdischen Majestät gegenüber, wo die großen Hänse schalten und walten: sie, die das Kind vergessen haben und die Warnzeichen am Himmel nicht sehen, in denen Luther, wie viele seiner Zeitgenossen, von Leonardo bis Albrecht Dürer, Vorboten des nahenden Gottesgerichts zu erkennen glaubte: »Und gehen … Zeichen durch die ganze Welt in Schwang …, daß wir des gewiß sein sollen und nicht denken, daß sie ohngefehr geschehen und nichts sonderlichs bedeuten.«

Fünfundzwanzig Jahre lang, von den Tagen des reformatori­schen Durchbruchs bis zu seinem Tod, hat Luther biblische Niederkeit mit der Glorie der vom Evangelium abgefallenen Sodom-Bürger seiner Zeit konfrontiert, die Tod und Gericht verdrängen möchten, und hat Jesus von Gethsemane, dessen Blutschweiß er mit dem gleichen visionären Realismus wie den Kuhstall zu Bethlehem beschrieb, zum Richter des römi­schen Papstes gemacht. Lucas Cranach dachte in seiner Bild­folge »Passional Christi und Antichristi« von 1521, für die Melanchthon und der Jurist Schwerdtfeger die Unterschrif­ten verfaßten, Luthers Antithese zuende: »Christus in Demut wohnet bei den Armen – des schämt sich der Papst, das ist zum Erbarmen«; »In Armut und Fried war Christus geboren. Zu Krieg und Hoffart der Papst erkoren«; »Christus hat selbst seine Schäflein geweidt. In Wollust lebt dieser und Üppig­keit.«

Nur keine evangelische Glorie, kein pompöses Ausmalen des Wortes, kein Bildzauber und kein Übertünchen der beschei­denen, nüchtern und schlicht geschriebenen Vorlage lautet Luthers Devise: darum sein Beharren auf der Menschlichkeit Jesu, seiner Ohnmacht und der Verzweiflung am Kreuz – »man muß ihn je ein Menschen lassen bleiben, der etlich Ding nit hat gewist«; darum sein Beharren auf dem Magdtum Ma­rias, das in der Auslegung des Magnifikat zu strikter Anwei­sung an die Künstler führte, dem Realistisch-Niederen in gleicher Weise Achtung wie der erhabenen Stellung einer von Gott Auserwählten zu zollen. Zum überschwenglichen Reich­tum Gottes habe sich tiefe Armut, zur göttlichen Größe die Kleinheit, zur göttlichen Güte das Unverdienst, zur göttli­chen Gnade die Unwürdigkeit Marias zu fügen: In die Irre ginge, wer als Künstler die Jungfrau »also abmale und vorbil­de, daß nichts Verachts, sondern eitel große hohe Ding an ihr anzusehen« seien.

Nicht einschüchtern, so Luthers Forderung, solle die künstle­rische Auslegung biblischer Texte den Betrachter und Leser, nicht ihn »blöd und verzagt machen«, sondern im biblischen Vorbild eine Figur aus Fleisch und Blut erkennen lassen, die den Gläubigen zu hilfreicher Nachfolge einlüde.

Im Zustand der ihm eigenen wachen Begeisterung und nüchter­nen Entrückung: als Exeget, dessen Auslegungskraft in glei­chem Maße zunahm, wie die Macht der Anfechtungen wuchs, denen er ausgesetzt war, hat Luther sich Fremdes zu eigen gemacht und, ineins damit, Eigenes im Anderen und Fernen verfremdet: ohne die Erfahrung unterm Kreuz kein Verständ­nis der Botschaft, ohne das Hören aufs Wort kein Begreifen der Seelenlage eines Christen in Betrübnis und Hoffnung.

Experienz und Auslegung gehören für Luther untrennbar zusammen: wobei Erfahrung nicht nur existenzieller Bezug zum Wesensverwandten, sondern auch redliches Sich-Um- tun, Wissens-Aneignung und ein Höchstmaß von Gelehrsam­keit hieß. In äußerster Verzweiflung Gottes Gerechtigkeit zu erfahren, Anfechtung, in den Spuren Jesajas, als eine Kraft zu begreifen, die sinnstiftend wirke, im Apostel Paulus, dem von den Fäusten der Engel Geschlagenen, den frater sub cruce auszumachen: das ist für den Schriftsteller Luther die eine conditio sine qua non der rechten Bibelauslegung gewesen – aber eben auch nur die eine. So wichtig ihm die Inspiration jenes Betroffenen war, der, im Sinn des tropologischen Schriftver­ständnisses, das biblische Wort auf die eigene Situation, die eigenen Anfechtungen und Teufels-Disputationen bezieht, und so nachdrücklich der Ausleger darauf bestand, daß nie­mand den Geist einer Schrift wie des Psalters verstünde, der nicht die gleichen Affekte verspüre wie der Psalmist, also auf Grund eigenen Erlebens urteilen könne, so daß er, im Herzen fühlend, was von außen durch das Wort an ihn herangetragen werde, zu sagen vermöge: »Eia, vere sic est« (Ja! So ist es in Wahrheit!) … so emphatisch Luther die Übereinstimmung von »Herz« und »Text«, dem Gemüt des Lesers und dem Wort der Schrift, als Voraussetzung angemessenen Verste­hens begriff, so entschieden bestand er auf der anderen Seite darauf, gerade die biblischen Realien, von der Geographie bis zur Folklore, für wichtig zu nehmen.

Kein deutscher Schriftsteller hat es so wie Luther verstanden, ein Maximum von Seelen-Erforschung, Ich-Analyse, Ge­müts- und Affekt-Beschreibung mit einem Höchstmaß an Welt-Erfahrung, dem Einbringen von Alltag, Realität und konkretem Leben zu vereinen. Luther, der Schriftsteller: Das ist zugleich der unermüdliche Ich-Erzähler, der, wenn er David, Jesaja, den Psalmisten, Paulus (und, natürlich, den Teufel) auftreten läßt, von sich selbst, den eigenen Anfech­tungen, dem eigenen Pfahl im Fleisch spricht, und es ist auch der wortgewaltige Verfasser einer comédie humaine des sech­zehnten Jahrhunderts. Luther: Das ist einerseits der Seelenzergliederer und Erforscher der Gewissenshöhle, ein Mann, der, vom Brief an Hans Luther, seinem großen Rechen­schaftsbericht vor der väterlichen Instanz, bis hin zu den letzten Tischreden, in der ersten Person Singularis redet: »Ich«, heißt es in einer Predigt vom 22. August 1529, »hätte für eine Bibel und eine fromme Lektion zweihundert Gold­gulden gegeben, ja alles hätte ich dahingegeben, hätte ich nur ein Evangelium, eine Epistel oder einen Psalm recht verstehen können. Ich hätte damals gesagt: O selig, wenn ich diese Zeit erleben könnte! Ich wäre mit barfüßigen Knien gekrochen, dies Evangelium zu hören, auch bis an die Knochen.«

Aber der gleiche Luther, der – exempli causa wohlgemerkt, nicht aus eitler Selbstgefälligkeit-von sich und seiner Seelen­angst redet, getrieben (wie’s der beste: weil seelenverwandte Luther-Kenner, Sören Kierkegaard, beschrieben hat) von der »Passion für Ausdruck und Beschreibung seiner Leiden« … der gleiche Luther, der ein Meister der unerbittlichsten (wenngleich oft verschlüsselten) Introspektion war, verstand sich, zumal als Prediger, in einer Weise auf die Technik der von Weltoffenheit und Fabulierlust geprägten Wirklichkeits­analyse, daß es manchmal so scheint, als habe, nach 1520, in Wittenberg ein schriftstellernder Rembrandt sein Zelt aufge­schlagen.

Was, gilt es zu fragen, wüßten wir vom Leben der Kleinen und Vielen in Goethes Weimar, von ihrem Alltag, ihrem Elend und Glück, von Kindstaufe, Hochzeit und Tod, stünden uns als Quelle nur Goethes Tagebücher und Herders Predigten zur Verfügung? Wenig genug – kaum mehr als das, was wir, das sechzehnte Jahrhundert betreffend, aus den opera omnia des Erasmus erführen.

Und dagegen nun Luther! Dagegen die Beschreibung des Johannisfests zu Wittenberg, in dem sich der letzte Akt der Wagnerschen »Meistersinger« präfiguriert sieht: Tanz soll sein und Sprung ums Feuer herum! Rautenkranz! Und die Kinder mögen ihr Spiel haben! Und dann die Darstellungen des Wirtshausle­bens, der Bettelei, der Trunksucht, der Pest; die Vorführung von Klatschbasen, Geizhälsen, Kriegsknechten, Wucherern, Tierhaltern, Verbrechern, Honoratioren und lieben Nach­barn!

Hüben die Seelenzergliederung und drüben das Beschreiben der großen und kleinen Welt; hier das Beharren auf rigoroser Introspektion, Gedanken-Wägung und Gewissens-Erforschen und drüben das Spielenlassen eines »realistischen Tics«, dessen Fruchtbarkeit sich erweist, wenn der Leser bedenkt, wie viele typische Situationen des sechzehnten Jahr­hunderts im Werk des Schriftstellers Luther dank exakten Sich-Einlassens auf die Herausforderungen der Wirklichkeit an Konkretheit gewinnen: Wie plastisch – ein Beispiel, das für dutzend andere steht – wird die Situation einer Stadt, die von der Pestilenz heimgesucht ist, wenn Luther im Traktat »Ob man vor dem Sterben fliehen möge«, 1527 geschrieben, der Reihe nach Seelsorger, Amtspersonen, Eltern, Ärzte, Bestat­ter unter dem Aspekt »Du hast zu bleiben«, »Du darfst flie­hen« auftreten läßt: wenn er signifikante Details, wie die Lage der Friedhöfe, erörtert, die ihm zu nah dem Stadtzentrum liegen (aus den Gräbern könnten »Dunst oder Dampf gehen, der die Luft verrücke«) oder wenn er seine Situationsanalyse in konkrete Handlungsanweisung einmünden läßt: »Brauche der Arznei, nimm zu dir, was dir helfen kann, räuchere Haus, Hof und Gassen, meide auch Person und Stätt, da dein Näch­ster dein nicht bedarf oder aufkommen ist, und stelle dich als einer, der ein gemein Feuer wollt helfen dämpfen. Denn was ist die Pestilenz anders denn ein Feuer, das nicht Holz und Stroh, sondern Leib und Leben auffrisset.«

Da redet ein Prediger, der sich auf nüchterne Paränese so gut wie auf die begeisternde Rede verstand; ein Schriftsteller, der noch in der scheinbar selbstverlorenen Meditation immer auf den anderen zuschrieb: den Partner, den er in seine Überle­gungen hineinnahm: Da, schau! Petrus im Totenreich! Joseph auf dem Weg in die Gefangenschaft! Die Pest vor den Foren der Stadt! Der Papst in der untersten Hölle! Die Bauern: Beute des Teufels!

Was immer er schrieb, Martin Luther: Vorlesungen, Streit­schriften, Übersetzungen, Predigten, Postillen, Dispute, Ser­mone, Handreichungen, Traktate – jeder Satz war adressa­tenbezogen, nahm den Leser in Pflicht, provozierte Wider­spruch oder Akklamation; denn er war Ausdrucksmittel eines Autors, der sich als »Wortführer Gottes« und »Mund Christi« verstand, als einen Gefangenen des Wortes, dessen Aufgabe es sei, das Evangelium unter die Menschen zu bringen.

»Evangelion aber heisset nichts anderes« – der Zentralsatz Luthers: das Glaubensbekenntnis, das seine Schriftsteller­pflicht definiert – »Evangelion aber heisset nichts anderes denn ein Predigt und Geschrei von der Gnad und Barmher­zigkeit Gottes, durch den Herren Jesum Christum in seinem Tod verdienet und erworben. Und ist eigentlich nicht das, das in Büchern stehet und in Buchstaben verfasset wird, sondern mehr ein mündliche Predigt und lebendig Wort, und ein Stimm, die da in die ganze Welt erschallet und öffentlich wird ausgeschrien, das man überall höret.«

Das Wort zu verkünden hieß für Luther nicht: Geschriebenes nachzuschreiben, sondern Gesprochenes weiterzusagen und bei jeder Formulierung daran zu denken, daß der Christenmensch den heiligen Geist nicht durch Arbeit und Schweiß (non ex laboribus et sudoribus) und nicht durch gesetzestreue Werke, sondern allein durch gläubiges Hören empfängt. Die viva vox evangelii in mündlicher, dialogbestimmter Diktion zu verbreiten: Darum war’s Luther zu tun – und indem er so tat, diente er dem, Jesus Christus, der ihm als verbum verbi die Sinneinheit der überlieferten Botschaft verbürgte.

Das Wort – nicht die Schrift! – zu verkündigen hieß: Christus zu predigen und ihn als Offenbarung Gottes, sein Wort und sein Zeichen, verstehen zu lehren: »Evangelii zu predigen« – Kirchenpostille von 1522 – »ist nichts anderes denn Christum zu uns zu kommen oder uns zu ihm zu bringen.« Je wortge­waltiger, so Luthers These, ein Text, desto näher liegt er dem Zentrum: desto sichtbarer ist sein Christus-Bezug – dies gilt für die Heilige Schrift. Der wortbesessene Johannes zählt für Luther mehr als die von »Werk und Historie« Jesu ausgehen­den Synoptiker – und dies gilt auch für die Interpreten der evangelischen Botschaft, denen das Wort über alles: über das Werk, ja selbst über die Schrift zu gehen habe. Entferne Chri­stus aus der Schrift – was könntest du dann noch finden in ihr?

Unter diesem Aspekt ging Luther daran, in der Bibelüberset­zung so gut wie in den Schriften für den Tag und die Stunde, das Wort zu »befreien«, Christus zu »retten« und das Evange­li­um, im Kampf gegen die Papstkirche, wieder in seine Rechte zu setzen: »Drum, liebe Freun­de«, heißt es in der Streitschrift »Das Papstthum mit seinen Gliedern gemalet und beschrie­ben«, »laßt uns aufs Neu wieder anfangen schreiben, dichten, reimen, singen, malen und zeigen das … Götzengeschlecht, wie sie verdienet und wert sind. Unselig sei, der hier faul ist, weil er weiß, daß er Gott einen Dienst daran tut, der im Sinn hat …, den Greuel auf dem Erdboden zu malmen und Asche zu machen. Laßt unsere Zungen, Federn und Stimme (Gott gerüstet) sein und ihm dienen, doch ohne frevlerische Hand, und alleine mit Worten.«

Ohne frevlerische Hand, allein mit dem Wort: Das ist die Losung, in deren Zeichen Luther die Christenheit auffordert, sich vor Aufruhr und Empörung zu hüten. Wer zum Schwert greife, mißtraue dem Wort, greife dem verheißenen Gericht gegen die Widersacher des Evangeliums vor, verfalle, statt sich aufs Sakrament des Worts einzulassen, dem politischen Narren­spiel und bedenke zu wenig, daß, wenn Christus das Wort sei, schon ein Diminutivum genüge, um selbst dem Teufel (und wieviel eher erst seinen Trabanten!) den Garaus zu machen. Ungeachtet der Tatsache, daß Luther ein Mal (aber ein ent­scheidendes Mal) seinem Wortvertrauen und Wortglauben Valet sagte, als er die großen Hanse antrieb, die aufständischen Bauern das Fürchten zu lehren – ungeachtet der einen Aus­nahme, die beweist, wie inkonsequent Luther selbst dort sein konnte, wo das Zentrum seines Glaubens tangiert war … ungeachtet des »steche, schlage, würge wer da kann« bleibt festzuhalten, daß es niemals einen Schriftsteller gegeben hat, der, im Doppelsinn der Adjektive, so wortbesessen, wort­gläubig, wortselig war wie Martin Luther.

»Das Wort macht aus Menschen Götter«: So hat einer gespro­chen, der sehr genau wußte, daß es ein Reden in Bildern, eine Sprache des Herzens und eine gemütsbewegende Diktion gibt, die, affektgeladen, die Affekte des Hörers erregt: War­um, fragt Luther in der Auseinandersetzung mit dem Leiwe­ner Theologen Latomus, hat die uneigentliche figürliche Sprache eine solche Kraft, daß sie das Gemüt durchdringt und bewegt und jeder Mensch seine Lust daran hat, bildliche Rede zu hören oder zu sprechen? »Klingt es nicht viel lieblicher: ›Die Himmel erzählen die Ehre Gottes‹ als: ›Die Apostel predigen es‹? Und wenn 5. Mose 4,19 davon spricht, daß man die Sterne nicht anbeten soll …, die der Herr, dein Gott, erschaffen hat zum Dienst für alle Völker, die unter dem Himmel sind … dann kannst du gewiß nichts hören, was lieblicher, mächtiger, vollkommener lautet. So (aber) klingt es im Hebräischen: ›(Die Sterne), die Gott, dein Herr, zum Beweis seiner Liebe gesetzt hat allen Völkern unter dem Him­mel. ‹ Ich bitte dich, muß nicht dieses Wort den frommen Sinn bilden, das Gemüt bewegen und Vergnügen wecken (das Wort, das da sagt,) der Herrgott habe die Sterne allen Völkern gegeben, um sie … durch sanfte Wohltaten zu sich zu laden, auf daß sie ihn wieder lieb hätten, nicht anders als es eine Mutter macht, die mit ihrem Kinde auf den Knien spielt?« Da sage noch einer, Luther habe die allegorische Ausdeutung der Schrift, dem Prinzip der historisch-wörtlichen Exegese folgend, zumindest als eine nachgeordnete Technik verstan­den! Das Gegenteil ist richtig: Gedicht und Bild haben den Artisten und Poeten, nach eigener Aussage, entschiedener bewegt und stärker in ihren Bann gezogen als die prosaische Rede. Das lateinische Schreiben an den Humanisten Eobanus Hesse, den Übersetzer des Psalters, formuliert am 1. August 1537, spricht für sich selbst: Da wird der Geist der Poesie beschworen, die auf Himmelsthronen sitzt; da sieht sich der Psalter als Gedicht der Gedichte und Jesus Christus als Muse gefeiert, deren Anhauch der Übersetzer sein Kunstwerk ver­danke.

Gewiß, da ist Humanisten-Höflichkeit dabei, eine Prise Schmeichelei, dargeboten in jenem eleganten Latein, auf das sich Luther, wenn er wollte, nicht minder perfekt als Erasmus verstand. (Summa voluptate legi, lego, legamque semper: itagratus est mihi labor tuus in hunc suavissimum librum collocatus: Mit allerhöchstem Vergnügen habe ich gelesen, lese ich, werde ich lesen: So teuer ist mir die Mühe, die du auf dieses mir aller­liebste Buch verwendet hast.)

Ein Zeugnis literarischer Höflichkeit; Dokument der Courtoisie und des zierlichen Worts, das nur jenen überraschen wird, der, wie’s Nietzsche, oder ihm folgend Thomas Mann tat, in Luther allein den teutonischen Grobian und cholerisch wütenden Anti-Europäer sieht … gut und schön. Aber ist es wirklich nur Urbanität, nur Spaß an gefälligen Formeln, der Luther hier die Feder führt und ihn veranlaßt, den Lyriker – den frommen Psalmisten mitsamt dessen genialen Übersetzer auf Kosten selbst eines Demosthenes und Cicero in den Him­mel zu heben? Gewiß nicht. Luther war nicht nur ein Freund schlichter Rede, sondern in gleicher Weise Liebhaber jener bildlich verrätselten Sprache, die seiner sinnstiftenden Erhel­lungskünste bedurfte: Dem Psalmisten über die Schulter schauen könne, so Luthers Fazit, nur einer, der wisse, was Geistbesessenheit und prophetische Begeisterung sei: einer vom Schlage dessen also, den es, wie die Nachschriften der Studierenden zeigen, selbst in den Vorlesungen hinriß, so daß er mit hui und pfui außer Atem geriet und Mühe hatte, jenen Einflüsterungen des heiligen Geistes Paroli zu bieten, die ihn nach eigenem Bekenntnis (einem zweifelhaften freilich) bis in die Kloake verfolgten.

Aber dieser inspirierte Luther, der sich rühmte, er möchte alle Königreiche der Welt nicht mit dem vertauschen, was er durch den Segen des heiligen Geistes in der Meditation über die Psalmen erlangt habe … dieser im Zustand der Anfech­tung und Begeisterung von der rabies poetica ergriffene Schrei­ber war zu gleicher Zeit der nüchterne Handwerksmann, der sehr genau wußte, daß gerade der heilige Geist ein klares und ruhiges Werkzeug verlange: Nicht in der Anfechtung, son­dern erst, wenn sie vorbei sei, könne der Mensch die Wahrheit verkünden. »Daher muß angenommen werden«, heißt es in der Psalmenvorlesung, »daß auch David erst im Zustand ruhiger Betrachtung den geheimen Sinn dessen erkannte, was ihm zugestoßen war.«

Kein Zweifel: Hier ist, im Sinne Thomas Manns, ein Spuren­gänger am Werk; hier wird die eigene Schaffensart, das Wech­selspiel von mystischem Aufschwung und nüchterner Retrak­tion des Geschauten, durch einen Verweis auf den ersten und größten Sänger legitimiert. Ein bißchen poetische Kopierlust, Spaß an geheimen, halb angedeuteten, halb verschwiegenen Bezügen – hier zu David, da zu Joseph, dort zu Jesaja – war schon dabei, wenn Luther eigenes Erleben in die Interpreta­tion biblischer Vorgänge einfließen ließ. Janusgesichtig wie er als Schriftsteller war, liebte der Reformator den absichernden Hinweis auf Vorbilder in den oberen Rängen, mit dessen Hilfe er die Widersprüchlichkeit seiner poetischen Manier aufhellen konnte (bin ich nicht Davids kleines Ebenbild?), und widersprüchlich, in der Tat, ist sie gewesen, die von Luther praktizierte Verfahrensweise als Prediger, Poet und Publizist. Mal schreibt er, zumal während der Arbeit am Alten Testament, im Kreise der Freunde nur ein paar Sätze am Tag, und dann wieder zieht er alle Register, läßt brausen und wallen, evoziert die Gedanken, die Tag und Nacht auf ihn einstürmten, lobt seine »rauhe Feder im Tintenfaß« und preist den heiligen Zorn, der ihm das Predigen und Schreiben leicht mache: nie flösse ihm, was formuliert werden wolle, so rasch in die Feder als wenn der Zorn sein »ganz Geblüt« erfrische, den Geist schärfe und die Anfechtungen verjage. Wut als Lebens- und Schreibelixier; Haß als Hebamme der Poesie; Zorn als Muse eines Schriftstellers, der mit Vorliebe erklärte, daß er sich seiner Sache um so gewisser fühle, je größer und mächtiger die Schar der Widersacher sei, die nicht in die Schranken zu verweisen, sondern zu erledigen das Ziel seiner von zynischen Späßen und tollen Grobianismen strotzenden Streitschriften war – einerlei, ob’s um die Türken, Bauern, Juden oder Papisten ging: immer mußte niedergemacht, tabula rasa geschaffen, ausgemerzt werden.

Nieder mit den Israeliten! »Ich verfluchter Goi kann nicht verstehen, woher sie solche hohe Kunst haben (daß sie den Text und Gottes Wort so meisterlich können würfeln), außer daß ich muß denken, da Judas Scharioth sich erhängt hatte, daß ihm die Därme zerrissen und … die Blase geborsten … da haben die Juden … die Judaspisse aufgefangen, danach unter­einander die Merde gefressen und gesoffen, daß sie Glossen in der Schrift lesen, die weder Matthäus noch Jesaja noch … alle Engel geschweige denn wir verfluchten Gojim sehen können. Oder haben ihrem Gott in den Hintern geguckt und in dem­selben Rauchloch solches geschrieben gefunden … (und) dar­um müssen wir verfluchten Gojim den allerheiligsten Juden ihre himmlische Weisheit in Judaspisse und ihrem Juden­schweiß lassen, daß sie allein klug bleiben.«

Wenn Luther zu poltern beginnt, gegen die räuberischen Rotten der Bauern oder den Farzesel Papst (eine Verballhor­nung des Namens Farnese), den aller Hellischt Vater Paula Tertius, den Hermaphroditen, durchtriebenen Erzspitzbuben, der in des Satans leibhafftiger Wohnung zu Rom in die Arena reitet, um seine seit der Auseinandersetzung mit Hieronymus Emser erprobten Ritter-Kunststücke zu praktizieren, dann reißt es ihn hin, aus Schimpfworten werden Schimpfwortrei­hen, aus Schimpfwortreihen Schimpfwortabsätze, die Invek­tiven überschlagen sich, Deutsch schwappt ins Lateinische über, Lateinisches in ein verballhorntes Italienisch-Franzö­sisch: »Gremmerze, Miser Asine, porlabon informationes, satanissime Papa« – »Grand Merci, Monsieur Asine, per la buona informatione, allersatanischster Papst, Du!«

Wider das Papsttum zu Rom, vom Teufel gestiftet: Das ist, über hundert Druckseiten hinweg, eine einzige Eruption von Schimpfbrocken, Unflatgeschossen und Kotbatzen, die Ra­belais geknetet haben könnte: Gaukler, Hurenkind, Kaisermör­der, Verräter, Grundsuppe (Absud) aller bösesten Menschen auf Er­den, die sich mit dem Namen Christi schmücken, obwohl sie doch »voll sind aller ärgsten Teufel in der Hölle, voll, voll, und so voll, daß sie nichts denn eitel Teufel ausspeien, schmeissen und schneutzen können«.

Sobald er einmal in Rage ist, Luther, geht’s bei ihm holterdipolter, ohne Gliederung und ohne pointiertes Finale, dafür mit vielen Wiederholungen und ständigem Sich-Bewegen im Kreise: Die Bezifferungen und Unterteilungen täuschen; Ge­dankenentwicklung in überschaubarem Rahmen und stufen­weise Erhellung eines Problems war nicht Luthers Force; er selber wußte nur zu gut, daß seine Hauptgefahr im Hang zum »Wäschen« lag (in seiner Jugend hätte er am liebsten »die ganze Welt zu Tode gewaschen«) – unbezwingbar die Beses­senheit, alles drei- und viermal zu sagen, und eklatant der Unwille, Thesen in knappem wissenschaftlichen Diskurs, epigrammatisch und in luzider Punkt-für-Punkt-Disposition, zu entwickeln.

Statt penibel zu feilen und die Traktate in tagtäglicher Wort­plackerei nach Art der Übersetzung des Alten Testaments zu entwickeln, schrieb der Gehetzte mit fliegender Feder – selten genug, daß ein Manuskript vom Konzept bis zur Korrektur an Reife gewann; selten genug, daß einmal eine Schrift erschien, die, wie »Von der Freiheit eines Christenmenschen«, aus einem Guß war: Kein Wunder, daß Luther, mit wenigen Ausnahmen, von seinen Arbeiten nicht eben viel hielt. Moch­ten andere sich als Künstler betrachten: ihm war es genug, wenn seine opera omnia (die er übrigens am Ende seines Lebens selbst nicht mehr überschaute: ein Schriftenverzeich­nis führte er nicht) … ihm war es genug, wenn seine Werke sich überflüssig machten und mit dazuhülfen, daß »des Schreibens weniger und des Lesens in der Schrift mehr wer­de«. Poeterei um der Poeterei willen? Befreiung der Dichtung aus dem Dienst für die Theologie? Poesie – kein Instrument der Pädagogik, kein ziel- und zweckbestimmtes Handwerk mehr, sondern sich selbst genug? Nicht in Luthers Kloster, nicht in Wittenberg! Da verlangte man, statt die Tichtkunst zu vergöttlichen, eine Sprache- und, dazu gehörig, eine Musik-, die, weit entfernt von höfisch-modischem Stil, den Menschen verständlich sei – eine sehr einfache und gewöhnliche, gleich­wohl aber lautere und der Bibel, vor allem den Psalmen, angemessene Redeweise und Melodie. (Luther 1523 an Spalatin: quo … simplissima vulgarissimaque, tarnen mundasimul et apta verba canerentur.)

Nein, auf Kunstfertigkeit wurde in Wittenberg kein Wert gelegt; hätte man Luther die unbeholfene Intonation mancher seiner Gedichte, mit ihrem meistersingerlichen Silbenzählen und der Tonbeugung im Wort, vorgehalten – wäre ihm, nicht zu Unrecht, ein Hans Sachs gekommen, der Beckmesser alias Luther über mangelhafte Behandlung des Rhythmus aufge­klärt hätte: Kein Zweifel, der Reformator hätte im Sinn der Vorrede zum ersten Band der Wittenberger Ausgabe seiner deutschen Schriften geantwortet: »Fühlest du dich und lässest dich dünken, du habest es gewiß, und kützelst dich mit deinen eigenen Büchlein, Lehren oder Schreiben, als habest du es sehr köstlich gemacht … gefällt dir auch sehr, daß man dich vor anderen lobe. Bist du der Art, Lieber, so greif dir selber an deine Ohren, und greifst du recht, so wirst du finden ein schönes Paar großer, langer Eselsohren. So … schmücke sie mit güldenen Schellen, auf daß, wo du gehest, man dich hören könnte, mit Fingern auf dich weisen und sagen: Sehet, sehet, da gehet das feine Tier, das so köstliche Bücher schreiben und wohl predigen kann.«

Erst kam die Pädagogik für Luther und dann, der Didaktik unterworfen, die Kunst, erst die Nötigung, das ihm auferlegte Wächter- und Richteramt zu erfüllen, dann die Verpflichtung gegenüber dem sanften, Versöhnung befördernden Wort. Be­klagenswerter Luther, gesegneter Philipp Melanchthon! »Ich bin dazu geboren« – Vorrede zu Melanchthons Auslegung des Kolosserbriefs von 1529 – »daß ich mit den Rotten und Teu­feln muß kriegen und zu Felde liegen, darum meine Bücher viel stürmisch und kriegerisch sind. Ich muß die Klötze und Stäm­me ausrotten, Dornen und Hecken weghauen, die Pfüt­zen ausfüllen und bin der grobe Waldrechter, der die Bahn brechen und zurichten muß. Aber Magister Philipp fähret säuberlich und still daher, bauet und pflanzet, säet und be­gießt mit Lust, nach dem Gott ihm gegeben seine Gaben reichlich.«

Ach wir, die wir den Boden bereiten wollten für Freundlichkeit, konnten selber nicht freundlich sein: Es ist, im Sinne des Brecht-Gedichts an die Nachgeborenen über die finsteren Zeiten, ergreifend zu sehen, wie die Situation einen Schriftsteller zwang, vorzüglich die eine Sei­te seiner Begabung zu kultivie­ren: den Sinn für die zermalmende Beredsamkeit der Polemik, fürs Dreinschlagen mit Hilfe von Satire, Verbalaggression und einem Witz, der den Gegner erledigte, indem er ihn lächerlich machte. Die andere Seite hingegen, wo der leise Ton, die zarte Weise des Lyrismus und das Nürnbergisch- Anmutige dominieren … wie selten hatte Luther Gelegen­heit, seine zweite – und vielleicht größte! – Begabung auszu­spielen: eine Begabung, die sich erweist, wenn er das Ambien­te der Weihnachtsgeschichte beschreibt, biblische Genre­szenen mit behutsamem Wort übersetzt, in der Magnifikat-Exegese das Hohelied der niedrigen Braut singt oder, im Liebesgedicht auf die Kirche, die Schmerzensmutter Maria, die Geliebte, wie sie die Minnesänger beschrieben, und die heili­ge Gemeinschaft der Christen in einer einzigen Figur vereint:

Sie ist mir lieb die werde magd
und kan jr nicht vergessen
Lob, ehr und zücht von jr man sagt,
sie hat mein hertz besessen.
Ich bin jr hold,
und wen ich solt
gros Unglück han,
das ligt nicht an.
Sie wil mich des ergetzen
mit jrer lieb und trew an mir,
die sie zu mir wil setzen
und thun all mein begir.

Martin Luther, ein deutscher Schriftsteller? Nein, nicht ein Schriftsteller, sondern viele, unter einem Namen versam­melt. Da gibt’s, zum ersten, den Polemiker – einen Mann der schnellen Feder, dessen wichtigste Arbeiten, nach eiliger Sammlung der Truppen, aus der Defensive heraus formuliert wurden: Luther war kein Systematiker, der ein Gedankenge­bäude Schritt für Schritt nach freiem Ermessen entwarf – er war ein Mann des Augenblicks, der sich – in der Auseinander­setzung mit Zwingli, Erasmus, Müntzer, den Päpsten und Bauern – seine Entgegnung abtrotzen ließ: immer mit schwar­zen Steinen gespielt und die Züge des Gegners notiert, immer in vorgegebenen, vom Widersacher bestimmten Bahnen ge­gangen. Luther war Antworter, nicht Vorredner – ohne Eras­mus keine grundsätzliche Behandlung der Prädestinationsfra­ge; ohne Thomas Müntzer keine Deutsche Messe, ohne Zwingli keine stufenweise, anfangs vorläufige, dann langsam systematisierte Ausformung der Abendmahlslehre! (Ein Jam­mer, so betrachtet, daß es niemanden gab, der Luther eine Schrift über die Rechtfertigung hät­te abnötigen können: Wäre ein Brechtscher Zöllner zur Stelle gewesen, der Reformator hätte sie mit Gewißheit geschrieben.)

Und dann gibt es, zum zweiten, den Satiriker Luther: Partner des Thomas Murner – einen Literaten, der die Antithese hier Christus, dort der Papst in seinem Spätwerk, den römischen Bischof als gesetzestreuen Kämpfer gegen den Milch-, But­ter-, Käse- und Eiergenuß am Sabbath verhöhnend, zur Nar­renfarce zuspitzt … immer darauf bedacht, den Gegner in jener Manier der Lächerlichkeit preiszugeben, die er am wit­zigsten in der Aufforderung an Albrecht von Mainz prakti­zierte – »Neue Zeitung vom Rhein«, 1542 –, der Aufforde­rung, die in der St. Martinskirche auszustellenden Reliquien­schätze durch einige besonders eindrucksvolle Exponate zu bereichern: ein Stück vom linken Horn Moses’ zum Beispiel, ein Ei vom heiligen Geist, einen Zipfel der Fahne, mit der Christus in die Hölle hinabstieg oder, eine Preziosität beson­derer Art, dreißig Förze von der Pauke, die am Roten Meer zu hören war.

Dann aber gibt es, zum dritten, den anderen Luther, einen Psalmisten des sechzehnten Jahrhunderts, der ein Leben lang in Davids Spuren ging: mit Hilfe allegorischer Ausdeutung Metaphern enträtselnd und selber, wie im Gedicht »Sie ist mir lieb, die werte Magd«, Metaphern, Bilder und Formeln entwickelnd, die, als Abbreviaturen, die Summe vielfältiger – und erhellungsbedürftiger – Zusammenhänge ziehen.

Und dann gibt es, zum vierten, den Balladendichter (»Ein neues Lied wir heben an«), zum fünften den Übersetzer, der, wir haben’s gesehen, mit Bildfiguren wie mit Zeitgenossen umspringt (»Ezechiel ist sehr verbosus«) und das Alte Testa­ment von Palästina nach Thüringen transportiert: »Wird (da­mals) zugegangen sein wie (heute) im Papsttum, hat niemand studiert, ist die Bibel unter der Bank gelegen.«

Dann gibt’s, zum sechsten, den Bearbeiter, einen poeta doctus, der die Psalmen versifiziert, zum siebten den Rhetor und Epistolographen, der jedermann in der ihm eigenen Sprache anzureden versteht: Eobanus Hesse im eleganten Latein, Me­lanchthon in latinisierter Umgangsrede (mündlich, wie man weiß, mit sächsischem Einschlag), die Eltern und vor allem Frau Käthe, die »Brauerin und Richterin auf dem Saumarkt«, in derb-bildkräftigem Deutsch, den Kurfürsten in makello­sem Kanzleistil: ein Mann und vier Redeweisen, mit der deutsch-lateinischen Diktion der Kolloquien sogar deren fünf! (Fünf Idiome – vom Latein des scholastischen Finassierens bis hin zum Deutsch des weihnachtlichen Kinderlieds!) Und dann gibt es achtens den bis heute nahezu unbekannten Disputator und gibt schließlich, um von weiterem zu schwei­gen, den Prediger Luther … und wenn da eine Tätigkeit war in seinem Schriftstellerleben, die alle anderen gleichsam in nuce enthielt, dann ist es das Predigen gewesen. Denn was er auch tat, Martin Luther: Gedichte schreiben, Fabeln erzäh­len, Lieder komponieren, Send-, Mahn-, Kampf- und Trost­schreiben verfassen – er hat immer gepredigt, sprach von der Kanzel herab, auch wenn er in der Schreibstube saß, und zielte, als geistlicher Lehrer, in allen Gattun­gen der Schrift­stellerei auf jene Verbindung von herzbewegender Rede und schlichter Diktion ab, die ihm eine rhetorische Tradition offerierte, deren System er – wie seine Gegenüberstellung von Tragödie und Komödie, königlichem und bürgerlichem Schicksal beweist – auch unter poetologischen Aspekten be­herrschte. (Nachzulesen im zweiten Band der Tischreden, Weimarer Ausgabe, Nummer 2073.)

Docere, suadere, movere – lehren, überzeugen und die Affekte erregen: Die Ciceronianische, von Augustin auf die christli­che Unterweisung bezogene Trias war für Luther verpflich­tend, auch wenn er, unter dem Aspekt der Unterweisung des ungeschulten »Pöfels«, die schlichte als die angemessenste, dazu von der Schrift vorgegebene Redeweise, die Diktionjesu — »hat am allereinfältigsten geredt und war doch die eloquentia selbst« – und Paulus’ bevorzugte: »Paulus«, heißt es in den Tischreden (Nr. 5240), »hat nicht so hohe Wort wie Demo­sthenes, aber proprie (sachgemäß) redt er und hat significantia verba. (Will heißen: hat das richtige Wort, zur richtigen Zeit, für die zu bezeichnende Sache.) Paulus hat recht getan, daß er’s nicht sehr kraus und hoch gemacht hat, sonst wollt jeder­mann so hoch reden.«

Trotzdem, Verzicht auf krause Worte und dunkle Anspielun­gen vor der Gemeinde, der Wittenberger, mit ihren »wenig ernsten«: also unwissenden Christen, für die – und nicht für die Gebildeten vom Schlage Melanchthons, Jonas’ und Bu­genhagens – der Reformator predigte, Verzicht auf die verbositas und maiestas, die Wortumschweifigkeit und Glorie des hohen Stils und, statt dessen, Bevorzugung der jesuanischen Redeweise, der Diktion des genus hu­mile, das Operieren mit einer Sprache, die Dürers Malweise entspräche (»Dürer liebt schlichte Predigten und einfältige Worte«), dies alles hieß für Luther keinesfalls, auf Bilderschmuck und Prophetenwort zu verzichten: da ja gerade der Pöbel – so die in der Auslegung des Propheten Habakuk formulierte Predigerthese – der bunt schillernden Rede bedürfe, während einem Verständigen »balde geprediget sei«. »Da sehen wir, wie die Propheten … kurz und reichlich ein Ding ausstreichen (konnten.) Denn was ein anderer hätte gesagt mit einem Wort … da redet Habakuk mit vielen Worten und streicht es alles eigentlich aus und schmückts mit Gleichnissen, wie man denn auch tun muß, wenn man dem groben, harten Pöbel prediget; dem muß man es vormalen, blauen und kauen und auf alle Weise versuchen, ob man sie könne erweichen.«

Vormalen, einbläuen, vorkauen: Luther war ein harter, bisweilen auch unbarmherziger Magister – nicht zuletzt auf der Kanzel, wo er’s für die höchste Predigeraufgabe ansah, »frisch und getrost das Maul« aufzutun, nicht zu schweigen und nicht zu »mummeln«, sondern »unerschrocken und ohne Scheu zu bekennen«. Martin Luther ist ein Mann gewesen, der Heere von Schreibern, ganze Druckoffizinen in Bewegung setzte – ein Mann, der allein mit dem Wort aus dem Nichts heraus eine gewaltige Bewegung schuf. (Hat, frage ich mich, jemals ein einzelner – Thomas von Aquin, Galilei oder Marx – mit dem Mittel der magistralen Sprache derart viel erreicht wie Martin Luther?) Luther war ein Mann, dessen Stimme bis Rom und Madrid drang und der doch zur gleichen Zeit in Wittenberg – gelegentlich, nicht immer! – vor halbleeren Bänken predigen mußte: vor sich die Dösenden (»sie gehen so klug hinaus als hinein, schlafen und schnarchen in der Kirche«), vor sich junges, unverständiges Volk, dazu aufsässige Burschen und Diebsgesindel – alles in allem eine höchst gemischte Gesell­schaft (»Die sind zu kühn, jene zu blöde, die zu klug, die zu närrisch«) … eine Gesellschaft, die selbst einem Luther die Grenzen seiner Wortkunst aufzeigte: Perlen vor die Säue zu werfen, hieße es, hat er gesagt, den »Rohen und Frechen« zu predigen, die man mit den zehn Geboten und dem Sach­senspiegel treiben müsse wie Vieh und Hund!

So erfolgreich Luther als Prediger für alle Welt war: als Ge­meindepfarrer – »Ihr habt mich satt und ich habe euch satt!« – war er, der Poet und Artist, trotz allen redlichen Mühens um eine biblia pauperum, kaum am richtigen Platz – und er wußte darum: Auf die Dauer war’s nicht seine Sache, sich, wie er sagte, »aufs Tiefste herunterzulassen« und über Schriftworte predigen zu müssen, die der gemeine Haufen ohnehin nicht verstünde. (Darum die Sehnsucht, auf der Kanzel, nach Kol­leg und Katheder.)

Martin Luther war ein Schriftsteller, der, wenn er »er selbst« bleiben wollte, eine Diktion schreiben mußte, die von den Gebildeten verstanden wurde und nicht von jedermann: Aber die Kirche des Pastors zu Wittenberg, der, soweit er sich auch herabließ, dennoch über die Köpfe hinwegredete … die Kir­che Luthers war nun einmal ein Gotteshaus wie jedes andere, ein ganz gewöhnlicher Gemeindesaal: »Es sind jetzt wenig Knaben, Mägdlein und Frauen, die herzugehen. Es tut mir weh, wie kalt ihr euch stellt.«

In Rom gefürchtet und in Wittenberg – auch wenn hier und da »ein großer Haufe« kam – als Prediger eher erfolglos (Herder, später, ist es kaum besser ergangen): Das war das Los eines Schriftstellers, der Lehrer von Predigern war, aber – schon wegen seiner Mißachtung der »Einfältigen«: »ich wollte lieber den tollen Hunden predigen!« – kein Volksprediger im eigent­lichen Sinne des Worts – vielmehr ein Mann, der dem Volk aufs Maul schaute und von ihm lernte, sich jedoch wohlweis­lich hütete, ihm nach dem Munde zu reden. Dafür gab er sich zu herablassend mit seiner Kunstpädagogik in usum Delphini und argumentierte zu sehr von oben herab mit der auf die Wahrung von Lehrzucht bedachten Didaktik zum Nutzen einfacher Leute, die, um nicht ins »Flattern« wie die Schwär­mer zu geraten, getrost Bilder für wahr halten sollten, in denen die Wissenden nur Zeichen und Symbole erblickten: die Höllenfahrt Christi zum Beispiel und die Fahne, mit der Jesus angeblich zu den Toten hinabstieg. »Dabei«, heißt es in der Karsamstagpredigt von 1538, »sollen die Kinder und ge­meine man (!) bleiben.«

Literat, der er war, Luther, Pädagoge in litteris, konnte er, ungeachtet seiner aufs Einfache und Bilder-Biblische abzie­lenden Kunstauffassung dem clerus minor des »Pöfels« ge­genüber hoffärtig sein wie’s Melanchthon nie gewesen ist – und war doch, wiederum als Literat, zugleich von der Demut und Bescheidenheit dessen, der wußte, wie viel ihm noch zur Meisterschaft fehle: Sein Deutsch sei nicht gut genug, er müsse seinen Wortschatz durch Sprichwortsammlungen, Lektüre und Reisen erweitern; bescheidene Vertrautheit und allzu flüchtiger Umgang reichten nicht aus, um einen schwie­rigen Text in jedem Fall zu verstehen – Luthers letzte Notiz: »wir sind Bettler« –, es fehle an Experienz und langlangem Dabeisein; er sei noch nicht fertig und habe vor allem zu lernen, der von Natur gesetzten Grenzen innezuwerden – zum Beispiel zu erkennen, daß er, um manche Passagen der Bibel sachgemäß zu übersetzen, schlichtweg nicht lustig ge­nug sei.

Martin Luther – ein Meistersänger, der in der »Schul« so gut zuhaus war wie im »Gemerk«: Poet und Kritiker (der »Send­brief vom Dolmetschen«!) in Personalunion – ein Mann der Zunft, der, in der Auseinandersetzung mit den großen Scharrhansen, den Maulhelden von Rittern, die Feder – und nicht den Federbusch – als »das oberst in der Welt« beschrieb und das Schreiberamt – »Eine Predigt, daß man Kinder zur Schule halten solle« – als ein Geschäft feierte, bei dem des Menschen bestes Stück – der Kopf – und das edelste Glied – die Zunge – und das höchste Werk – die Rede – herhalten müsse: »Drei Finger tuns (sagt man von Schreibern). Aber ganz Leib und Seele arbeiten daran.« Nicht gegen die Macht des türkischen Kaisers, hat Luther in seiner Predigt über die Schule, seinem Hohelied auf Kunst und Wissenschaft, gesagt, und nicht gegen alle Güter der Welt würde er die gewonnene Stellung eines Schreibers aufkündigen. Lieber Bettelschüler mit der Feder als ein Herr der Welt: so das Glaubensbekennt­nis eines Poeten, der sich als Knecht eines anderen und größe­ren Machers verstand – als Knecht Gottes, dessen Werk – und Gedicht! – wir gemäß dem Paulus-Wort Epheser 2,10 seien. Werk und Gedicht des Schöpfers, der, was tragisch beginnt, zum guten lustspielhaften Ausgang führen könne: talia enim sunt divina poemata.

Ipse poeta est, heißt es in Luthers letzter großer Vorlesung, dem im November 1545 abgeschlossenen Genesis-Kolleg, nos ver­sus sumus et carmina quae condidit: Gott selbst ist der Dichter, wir sind seine Verse. Wir sind die Gedichte: Er hat sie ge­schrieben.

Dies, denke ich, ist, auf die Formel gebracht, Leitspruch und Testament eines Schriftstellers, der sein Leben dazu nutzte, die divina poemata als eine göttliche Komödie, die in Deutsch­land spielt, nachzuerzählen.

Gehalten am 10. November 1983 beim ökumenischen Ge­burtstagsmahl zu Ehren des Reformators im Dominikanerklo­ster zu Frankfurt/Main. Wiederholt u.a. in den Universitäten Gießen, Greifswald, Rostock, Tübingen sowie in Hamburg, Helsinki, Stockholm und Wittenberg.

Dieser Vortrag weiß sich folgenden Arbeiten in besonderer Weise verpflichtet:

Erwin Arndt, Luthers deutsches Sprachschaffen, Berlin 1962

Arnold E. Berger, Martin Luther in kulturgeschichtlicher Darstellung, 2. Teil, 2. Hälfte: Luther und die deutsche Kultur, Berlin 1919

Heinrich Bornkamm, Luther als Schriftsteller, Heidelberg 1965

ders., Das Wort Gottes bei Luther, in: Luther. Gestalt und Wirkungen. Gesam­melte Aufsätze, Gütersloh 1975, S. 187-211

Paul Bühler, Die Anfechtung bei Martin Luther, Zürich 1942

Heinz Otto Burger, Luther als Ereignis der Literaturgeschichte, in: Luther-Jahr­buch XXIV, 1957, S. 87-101

Hans Freiherr von Campenhausen, Reformatorisches Selbstbewußtsein und refor­matorisches Geschichtsbewußtsein bei Luther, Archiv für Reformationsge­schichte 37, 1940, S. 128-150

ders., Die Bilderfrage in der Reformation, Zeitschrift für Reformationsgeschichte, Vierte Fol­ge VI, LXVIII. Band, 1957, S. 97-128

Johannes Erben, Luther und die neuhochdeutsche Schriftsprache, in: Deutsche Wortgeschich­te, herausgegeben von Friedrich Maurer und Heinz Rupp, 3., neu­bearbeitete Auflage, Band 3, Berlin/New York 1974, S. 508-581

Gerhard Hahn, Evangelium als literarische Anweisung. Zu Luthers Stellung in der Geschichte des deutschen kirchlichen Liedes, Gütersloh 1981

Karl Holl, Luthers Urteile über sich selbst, in: Gesammelte Aufsätze zur Kirchen­geschichte, I,6, neu durchgesehene Auflage, Tübingen 1932, S. 381-419

ders., Luthers Bedeutung für den Fortschritt der Auslegekunst, a. a. O., S. 544-582

Gerhard Kettmann und Joachim Schildt (Hrsg.), Zur Literatursprache im Zeitalter der bürgerlichen Revolution, Berlin 1978

Bernhard Lohse, Martin Luther. Eine Einführung in sein Leben und Werk, Mün­chen 1981

Ulrich Nembach, Predigt des Evangeliums. Luther als Prediger, Pädagoge und Rhetor, Neukirchen-Vlyn 1972

Hans Preuß, Martin Luther. Der Künstler, Gütersloh 1931

Gustav Roethe, D. Martin Luthers Bedeutung für die deutsche Literatur, in: Deut­sche Reden. Berlin o.J., S. 135-171

Birgit Stolt, Studien zu Luthers Freiheitstraktat, Acta Universitatis Stockholmiensis, Stockholmer Germanistische Arbeiten 6, Stockholm 1969

Hermann Werdermann, Luthers Wittenberger Gemeinde, Gütersloh 1929

Hans Wernle, Allegorie und Erlebnis bei Luther, Bern 1960

Erich Vogelsang, Der angefochtene Christus. Arbeiten zur Kirchengeschichte 21, 1932

Herbert Wolf, Eine Einführung in germanistische Luther-Studien, Stuttgart 1980.

Quelle: Walter Jens, Kanzel und Katheder. Reden, München: Kindler, 1984, S. 163-189.

Hier der Text als pdf.

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