Eduard Thurneysen, Predigt über Psalm 65: „Gott, man lobet dich! Das ist das Wunder des Gottesdienstes. Mitten in all dem Murren und Klagen geht der Mund auf, der Gott lobt, der Gott Recht gibt, der zu Gott ruft. Unser Gottesdienst ist wahrhaftig ein Wun­der. Denn er ist nicht nur eine Tat oder Veranstaltung des Men­schen. Sondern es ist Gott selber, immer neu Gott selber und allein, der sich ein Lob erweckt aus Menschenmund auf Erden.“

Das Wunder des Gottesdienstes. Predigt über Psalm 65

Von Eduard Thurneysen

Gott, man lobt dich in der Stille zu Zion, und dir bezahlt man Gelübde. Du erhörst Gebet, darum kommt alles Fleisch zu dir. Unsre Missetat drückt uns hart, du wollest unsere Sünden vergeben. Wohl dem, den du erwählst und zu dir lassest, daß er wohne in deinen Höfen, der hat reichen Trost von deinem Hause, deinem heiligen Tempel.
Erhöre uns nach deiner wunderbaren Gerechtigkeit, Gott, unser Heil, der du bist die Zuversicht aller auf Erden und ferne am Meer, der du die Berge fest setzest durch deine Kraft, der du gerüstet bist mit Macht. Der du stillest das Brausen des Meeres, das Brausen seiner Wellen und das Toben der Völker, daß sich entsetzen, die an den Enden der Erde wohnen, vor deinen Zeichen. Du machst fröhlich, was da webet, gegen Morgen und gegen Abend.
Du suchest das Land heim und wässerst es und machst es sehr reich. Gottes Brünnlein hat Wassers die Fülle. Du lässest ihr Ge­treide wohl geraten, denn alo bauest du das Land. Du tränkest seine Furchen und feuchtest sein Gepflügtes, mit Regen machst du es weich und segnest sein Gewächs. Du krönest das Jahr mit deinem Gut, und deine Fußstapfen triefen von Fett Die Weiden in der Wüste sind auch fett, daß sie triefen, und die Hügel sind umher lustig. Die Anger sind voll Schafe, und die Auen stehen dich mit Korn, daß man jauchzet und singet.

„Gott, man lobet dich in der Stille zu Zion!“ Was heißt das? Was heißt loben, Gott loben? Es heißt, daß wir auf alle Fälle nicht stumm dasitzen, stumm wie die Fische, sondern daß unser Mund aufgeht, weil aus unserm Innersten etwas aufbricht, ein Rufen, ein Schreien, ein Flehen zu Gott. Vielleicht sind es nur ein paar Worte, vielleicht nicht einmal das, sondern nur ein stilles Seufzen, das zu Gott empordringen möchte, um ihm zu sagen, daß wir ihn kennen und lieben. Und nun beginnt der Psalm damit, daß er es als eine Tatsache hinstellt: Es gibt das! Es gibt solch ein Rufen und Seufzen zu Gott! Es ist ein Wunder, aber es gibt dieses Wun­der, es gibt ein Lob Gottes aus Menschenmund: Gott man lobet dich!

Das ist nicht selbstverständlich. Es könnte sein, daß wir Menschen zwar dies und das loben, etwa uns selber, unsere Kraft, unsere guten Tage oder Taten, die Schönheit der Berge oder des Meeres, aber Gott loben wir nicht. Denn es könnte ja sein, daß man Gott überhaupt nicht kennt auf Erden, daß man wohl Erkenntnis hat vieler Dinge, aber keine Erkenntnis Gottes. Ach, weithin ist es so! Ist das nicht das Furchtbare an unserem Leben: wir wissen um viele Dinge, aber Gott ist der große Unbekannte. Und darum geht wohl der Mund des Menschen auf und redet geschwätzig daher, aber von Gott ist nicht die Rede. Besinnen wir uns doch: Wieviel oder besser wie wenig von den tausend und abertausend Worten, die wir reden, gelten ihm, gelten dem Lobe Gottes?

Und was noch furchtbarer ist: Man kennt Gott auf Erden, man weiß um ihn, aber statt daß wir ihn loben, klagen wir ihn an, wir murren gegen Gott, wir spotten seiner! Wer von uns hat noch nie gemurrt und gespottet? Es kann uns eine tiefe Angst überfallen, wenn wir all den gottfeindlichen Geräuschen begegnen, die durch die Welt gehen. Was für Gerichte muß Gott noch über uns kom­men lassen, bis wir endlich aufwachen und seiner gedenken, zu ihm rufen, ihn loben und ehren?

Aber jetzt, heute, in dieser Stunde, hier in unserer Kirche, jetzt dürfen wir dem allem gegenüber feststellen: Gott, man lobet dich! Das ist das Wunder des Gottesdienstes. Mitten in all dem Murren und Klagen geht der Mund auf, der Gott lobt, der Gott Recht gibt, der zu Gott ruft. Unser Gottesdienst ist wahrhaftig ein Wun­der. Denn er ist nicht nur eine Tat oder Veranstaltung des Men­schen. Sondern es ist Gott selber, immer neu Gott selber und allein, der sich ein Lob erweckt aus Menschenmund auf Erden. „Du er­hörst Gebete“, heißt es hier, „darum kommt alles Fleisch zu dir!“ Darum! Das will doch sagen: Es kommt nicht nur auf den Menschen­mund an, der aufgeht, sondern lange bevor es einen solchen Mund gibt, der zu Gott rufen möchte, lange vorher gibt es ein Ohr im Himmel, das Ohr Gottes, das uns erhören will. Gäbe es dieses Ohr im Himmel nicht, so gäbe es auch keinen Mund auf Erden, der aufginge. Oder wenn er aufginge, so wäre all sein Beten und Rufen ein leeres Geräusch.

Weil du Gebete erhörst, darum kommt alles Fleisch zu dir! Weil wir einen Gott haben, der uns erhören will, darum geht unser Mund auf zum Beten und Loben, darum gibt es also Gottesdienst hier auf Erden. „Du erhörst Gebete!“ Im Urtext steht hier geradezu ein Eigenname: du bist der Gebetserhörer. Diesen Namen trägt unser Gott. Und zwar erhört Gott unsere Gebete nicht nur so von oben herab. Daß Gott Gebete erhört, das ist eine Aktion Gottes. Das ist sein Herabsteigen, das ist das Wunder seines Erbarmens. Gott ist nicht nur der große Ruhende, der über allem thront. Der ist er wohl auch, aber zugleich ist das andere wahr: Gott steht auf von seinem Thron. Er kommt zu uns, er will uns nahe sein, ganz, ganz nahe. Und wir dürfen ihm nahe sein, ganz, ganz nahe. Ganz tief hinunter gibt Gott sein Ohr. Gleich einem Arzt, der sein Ohr an die Brust eines Schwerkranken legt, um sein Herzgeräusch zu hören, so legt Gott sein Ohr an die Erde, um auch das leiseste Seufzen zu hören, das aufsteigt aus Menschenmund. Wir reden von Jesus Christus, indem wir das sagen. Wir reden von Weihnacht, von Karfreitag und Ostern. Dort, in ihm, in Christus hat Gott sein Ohr auf die Erde geschickt. In Christus ist Gott uns nahe ge­worden. Er, Christus, ist seit Ostern bei uns, er erfüllt das All mit seiner Gegenwart vom Himmel her. Keiner, der denken müßte: Aber mich erhört er nicht! Doch, er hört dich, wir haben einen Gott, der Gebete erhört.

Und nicht nur sein Ohr hat er herabgeschickt. Er hat uns im Heiland auch den Mund aufgetan. An unsrer Statt, für uns hat Christus hier unten auf Erden als der Sohn Gottes zum Vater gerufen. Christus bricht die falsche Stummheit. Christus betet und nimmt uns hinein in sein Beten. „Darum sollt ihr also beten: Unser Vater im Himmel!“ Und so kommt es zum Gottesdienst. So wird es wahr: Gott, man lobet dich!

Es klingt so merkwürdig unbestimmt und allgemein, dieses „Man lobet dich!“ Wer ist denn dieses „man“? Sind es nur ein paar wenige Auserwählte? Eine Elite sozusagen, ein paar Fromme, ein paar Pfarrer vielleicht? So wie in der katholischen Kirche es immer nur die Priester sind, die wirklich beten und opfern? Oh nein! „Zu dir kommt alles Fleisch!“ Wo in der Bibel von „Fleisch“ die Rede ist, da ist gerade nicht eine Elite gemeint, die es ohnehin vor Gottes Augen gar nicht gibt. Da sind Menschen gemeint wie wir alle: schwache, verdrehte, gebrechliche Leute. „Fleisch“ — da sind die gemeint, von denen es hier heißt: „Unsere Missetat drückt uns hart, du wollest uns unsere Sünden vergeben!“ Wörtlich heißt es sogar: Unsere Missetaten haben uns übermannt, du bist es, der sie sühnt. Wir haben gekämpft gegen die Sünde, aber sie hat uns gebodigt. Nicht wahr, so sind wir dran, immer wieder gebodigt, übermannt von unserer Verkehrtheit. „Aber du bist es, der die Sünde zudeckt“. Wir haben einen Gott, der zudeckt, wegwirft, hin­ter sich legt alle unsere Verdrehtheit. Das ist ja sein Erhören un­serer Gebete, daß er nicht sagt: Weg mit dir, ich kann dich nicht brauchen! Er könnte wohl so reden, aber gerade er tut das nicht. Er will dich bei sich haben, dich, wie du bist. Darum kommt alles Fleisch zu ihm. Darum gibt es ein Lob Gottes auf Erden. Darum Gottesdienst. Darum singen wir im Gottesdienst. Oh, es müßte noch ganz anders gesungen werden. Ein Jauchzen müßte aufsteigen in unseren Gottesdiensten, ein frohes Aufatmen der Seele müßte ge­schehen, sooft wir beisammen sind in der Gemeinde, darüber, daß wir einen solchen Gott haben, einen Gott, der Gebete erhört, der unser Vergehen hinwegnimmt.

„Gott, man lobet dich in der Stille zu Zion.“ Ein bestimmter Ort wird hier genannt, an dem das Lob Gottes auf Erden aufsteigt: Zion mit seinen Vorhöfen. Wir dürfen ganz schlicht sagen: Die Kirche wird hier genannt, die Kirche als der Ort, wo man es ausgerichtet bekommt, daß wir einen Gott haben, der ein Gebets- erhörer ist und ein Sündenvergeber. Und nun heißt es hier, daß die­ser Ort ein stiller Ort sei. Stille herrscht in der Kirche, Stille in der Gemeinde, Stille in ihren Gottesdiensten. Stille darum, weil hier alles schweigen soll außer dem einen, dem Worte unseres Gottes. „Gott ist in der Mitte, alles in uns schweige und sich innigst vor ihm beuge!“ Das ist die Stille zu Zion. Darum haben unsere Väter alles hinausgetan aus dem Kirchenraum, was diese Stille stören könnte, allen Pomp, alles falsche Getöne, auch alle Bilder. Nur das Eine haben sie uns gelassen: das Bibelbuch, aus dem Gottes Wort zu uns redet, und unser Beten und Singen, mit dem wir zu Gott flehen, ihm danken und fröhlich antworten, damit sein Lob nicht aufhöre unter uns.

Es gibt ja auch einen Lärm zu Zion. Schon die Bibel weiß darum, daß es manchmal lärmig zugeht zu Zion. Es mag ein festlicher Lärm sein, ein prunkvoller Lärm, ein frommer Lärm sogar, aber es ist Lärm, und Gott hat keinen Gefallen an unserem Lärm zu Zion, an Festen, an denen wir uns breitmachen mit selbstersonnenen Zeremonien und allerlei frommem Überschwang. Nicht umsonst hat Jesus den Tempel säubern müssen. Und als er, der Sohn Gottes, auf Golgatha seine letzte Wohnstätte bekam, ein Haus aus zwei Balken, an denen er sterbend hing, da sprach Gott in allen gott­losen Lärm zu Zion sein entscheidendes Wort, das Wort seines Er­barmens. Und dann wurde es stille. Und seither bleibt nur noch eines übrig zu Zion: das Lob dieses Erbarmens. Hüten wir diese Stille! Die Stille, die vom Kreuz ausgeht. Achten wir darauf, daß unsere Kirche nicht ein Sprechsaal wird menschlicher Meinungen! Ein Tummelplatz menschlicher Religionsveranstaltungen! Was wol­len wir anderes, besseres als immer neu jenes Wort des Erbarmens laut werden lassen? Und dann beten und singen, das Taufwasser spenden und den Abendmahlstisch decken. O dieser Tisch, an den wir treten dürfen, um ihm zu begegnen, ihm und der Macht seiner Ver­gebung!

„Wohl dem, den du erwählst und zu dir lässest! Er hat reichen Trost von deinem Hause!“ Ja, es geschehen nicht nur Verbrechen und Unglücksfälle auf Erden. Es geschehen auch die Wunder seiner Gnade. Daß wir hier zusammen sind in seiner Gemeinde, hier und überall, wo Gottes Haus vor uns aufgeht, das ist solch ein Wunder. Wohl uns, daß uns dies Wunder immer wieder zuteil wird. „Ein Tag in deinen Vorhöfen ist besser als sonst tausend!“, sagt wiederum der Psalter. Es blühen uns gewiß auch sonst viele schöne Tage auf Erden, und wir wollen sie nicht verachten. Aber der Tag, da es uns aufgeht vom Worte Gottes her in der Gemeinde: „Mir sind meine Sünden vergeben!“, dieser Tag überwiegt doch alle andern Freuden. Darum haben wir sie lieb, unsere Kirche mit ih­ren Gottesdiensten. Darum geht Kraft und Hilfe von ihr aus. Dar­um ist sie ein Gnadenort.

Es ist eine starke Sache um dieses Wunder seiner Gnade. Es greift weit hinaus über die Kirchenmauern. Es geschieht auch draußen im Raum der Welt. Gott ist ein Gott, der nicht nur Stille schenkt zu Zion, sondern „der das Toben der Völker stillt“. Der Mann des 65. Psalms hat eine Hoffnung für alle Völker. Weil er Gott in der Stille zu Zion erfahren hat, redet er davon, daß Gott Zeichen seines Erbarmens errichtet in der Weite der Welt. „Der Abend und der Morgen“, wie es hier heißt, oder wie wir heute sagen: der Westen und der Osten, hört es: auch der Osten!, sie dürfen auf­atmen und fröhlich werden, weil es einen Gott gibt, der die Völker nicht ertrinken läßt in ihrem Elend wie Mäuse im Wasser, einen Gott, der die Völker, alle Völker, heimsucht, um sie zu segnen. Das wollen wir wahrhaftig nicht vergessen in unseren Kirchen, daß die ganze Welt das Kirchspiel Gottes ist. Christus ist nicht einge­schlossen in unsern Kirchenmauern, er umgreift das All. Und dar­um sollen uns die Mauern, in denen wir hier sitzen, nicht trennen von dem, was die Menschen alle da draußen in ihren Häusern und auf den Straßen tun und leiden, denken und reden. Können wir Gott loben, ohne daran festzuhalten, daß Gott auch die Weiten der Erde nicht verlassen will? Können wir für uns beten, ohne sofort und in einem auch für die zu beten, die da draußen ihr Leben leben, ohne Gott noch zu kennen?

Und nicht nur unter uns Menschen bricht Gottes Lob auf. Es gibt, sagt uns der Psalm, auch ein Lob Gottes in der Schöpfung. Gott tränkt die Erde und segnet ihr Gewächs. „Gottes Brünnlein hat Wassers die Fülle.“ Unzählige Geschöpfe loben Gott einfach damit, daß sie seine Geschöpfe sind. Und wir Menschen sind um­rauscht von diesem Lob Gottes in der Schöpfung. Und werden des­sen kaum gewahr, weil uns die Sprache dieses Lobes Gottes so un­gewohnt ist, weil wir selber immer wieder so blind und stumm drinstehen in der herrlichen Schöpfung Gottes. Warum eigentlich? Ja, warum? Wir sehen die Bläue des Himmels, die Blumen des Sommers, das Meer und die Berge. Gottes ewige Kraft und Gott­heit wird von der Schöpfung der Welt her erschaut aus seinen Werken. Aber nur da, wo Augen sind, sie zu schauen. Tausend­fach fehlen uns diese Augen. Und dann sehen Wir wohl die Werke, aber daß sie den Schöpfer loben, das sehen wir nicht. O Gott, öffne uns die Augen durch dein Wort! Laß uns die Weite deiner Güte erschauen! Wecke unser Herz auf! Gib, daß wir nicht stumme Fische seien, damit es auch bei uns wahr werde: „Gott, man lobet dich in der Stille zu Zion!“ Damit dein Zion auch bei uns hoffe auf deinen Erlösungstag für die Weiten der Welt. Sie hofft ja, deine Gemeinde, auf die Wiederkunft ihres Herrn, deines Sohnes, der in Herrlichkeit sein Reich auf richten wird!

Gehalten an der Tagung des Reformierten Weltbundes in Emden am Sonntag, den 19. August 1956.

Quelle: Evangelische Theologie 16 (1956), S. 529-533.

Hier der Text als pdf.

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