„Denk an den Namen, denn der wird dir länger bleiben als tausend große Schätze aus Gold! Die Tage eines guten Lebens sind gezählt, ein guter Name bleibt in Ewigkeit bestehen.“ Was Jesus Sirach im gleichnamigen biblischen Buch seinen Lesern einzuschärfen sucht (41,12f), mag befremdlich klingen. Und doch hat es dieser Sinnspruch in sich. Namen wirken und bewirken; sie sind mehr als nur Benennungen individueller Persönlichkeiten. Der eigene Name lässt einen selten kalt. Besonders Politikerinnen und Politiker sind namensempfindlich, wirkt sich doch der mit dem eigenen Namen verbundene Ruf bei Wahlen stimmlich aus. Mitunter müssen sie schmerzlich erleiden, was in Medien dem eigenen Namen angetan wird.
In der Philosophie wird die Wirklichkeit von Eigennamen weitgehend außer Acht gelassen, wenn diese – wie in der sprachanalytischen Philosophie – als „Designatoren“ verstanden werden, die die singuläre Identität von Personen oder Gegenständen bezeichnen sollen. Eigennamen selbst scheinen über deren Träger nichts Eigenes zu besagen. In der Tat lassen sich im europäischen Kontext bei Eigennamen Bedeutungen semantisch häufig nicht nachvollziehen. Schließlich wurden durch den Einfluss des Christentums seit dem Mittelalter mit der Taufe zur eigenen Nachahmung vorrangig fremdsprachige Namen – seien es Heilige oder biblische Personen – vergeben, auch da wo Nachbenennungen nach Verwandten vorgenommen wurden.[1] Dazu heißt es im Catechismus Romanus von 1566:
„Endlich erhält der Täufling auch einen Taufnamen. Es soll dazu der Name eines Heiligen genommen werden, der wegen seiner hervorragenden Frömmigkeit und Gottesfurcht der Ehre der Altäre gewürdigt wurde. Diese Namensverwandtschaft wird dem Täufling leicht ein Ansporn zur Nachahmung in Tugend und Heiligkeit sein. Und wie er ihn nachzuahmen sich bestrebt, so soll er auch zu ihm beten und vertrauensvoll von ihm Schutz zum Heil der Seele und des Leibes erwarten. – Es ist somit zu tadeln, wenn man für die Kinder heidnische Namen von ganz verkommenen Menschen aussucht, um sie als Taufnamen zu geben – wohl ein Zeichen dafür, wie gering man gediegenes christliches Leben einschätzt, wo ein solches Gefallen an diesen anrüchigen Gestalten herrscht, dass man so unheilige Namen fortwährend um christliche Ohren schwirren lassen will.“[2]
Sind Eigennamen einer Fremdsprache entnommen, kommt ihnen in der eigenen Sprache keine lexikalische Bedeutung zu. Dies mag zu der Annahme führen, das Fehlen einer lexikalischen Bedeutung unterscheide Eigen- von Gattungsnamen. Das erweist sich freilich als Fehlannahme, wenn anderen Kulturen bzw. Sprachfamilien in Betracht gezogen werden, wo Namengebungen oft nach dem Wortsinn erfolgen. Bei einer eigensprachlichen Namensgebung für Neugeborene berücksichtigen die Eltern die Bedeutung von Worten, um dem zukünftigen Leben des jeweiligen Namensträgers Wohlergehen, Fähigkeiten und Tugenden zuzusprechen. So besteht im Chinesischen ein Eigenname meist aus einer Kombination zweier einsilbiger Wörter bzw. Morpheme, die jeweils einem Schriftzeichen entsprechen und eine Lebensverheißung aussprechen. Mit ihrem lexikalischen Bedeutungsgehalt lassen sich dort Eigennamen nicht von Gattungsnamen semantisch abgrenzen. Die Unterscheidung vollzieht sich vielmehr sprachpragmatisch bzw. grammatikalisch, indem Eigennamen – abgesehen von einer Identifikation – nicht als Prädikate verwendet werden.
Dass Eigennamen promissorische, also verheißende Bedeutung haben können, zeigt sich auch in den theophoren Personennamen in der Bibel wie zum Beispiel „Josua“ (hebräisch jəhôšua‛ bzw. ješûa‘) in der Bedeutung „JHWH [ist] Retter / Rettung / Hilfe“ oder „Timotheus“ (griechisch timótheos) in der Bedeutung „Fürchte Gott“, aber auch in den deutschsprachigen, zweigliedrigen Rufnamen wie „Gottlieb“, „Gottfried“, „Gotthold“ oder „Traugott“ , die unter pietistischem Einfluss im 17. und 18. Jahrhundert neu gebildet wurden. Auch wenn solche theophoren Eigennamen einen promissorischen Bedeutungsgehalt aufweisen, können deren Träger nicht immer auf diese zugesagte Bedeutung hin erinnert werden. So findet sich bei Theodor Traugott Meyer (1904-1948) aus München dessen Lebensweg nicht im eigenen Namen wieder. Dieser war in der NS-Zeit als Adjutant und Schutzhaftlagerführer verschiedener Konzentrationslager tätig und wurde nach seiner Verurteilung im zweiten Stutthof-Prozess 1948 in Danzig hingerichtet. Ähnlich bei Gottlieb Hering (1887-1945) aus Warmbronn (Leonberg), der 1942 im Rahmen der sogenannten Aktion Reinhardt als Kommandant das Vernichtungslager Belzec sowie später das Zwangsarbeitslager Poniatowa leitete und bis Kriegsende an der Judenvernichtung und Partisanenbekämpfung im italienischen Triest beteiligt war, bevor er 1945 krankheitsbedingt im ausgelagerten Katharinenhospital in Stetten im Remstal verstarb. Dessen Stellvertreter im Vernichtungslager Belzec, Gottfried Schwarz (1913-1944) aus Fürth, war für den Vergasungsvorgang im Vernichtungsbereich verantwortlich. Danach leitete er das Zwangsarbeitslager Poniatowa, bevor er dann ebenfalls zur Judenvernichtung und Partisanenbekämpfung in Italien eingesetzt wurde, wo er 1944 von Partisanen getötet wurde. Fallen diese theophoren Namen einem ins Gedächtnis ein, lassen sie sich postum nicht gutheißen, auch wenn Theodor Traugott Meyer 1947 in polnischer Haft sich selbst zu rechtfertigen suchte:
„Es ist heute […] von Seiten der früheren Häftlinge nicht schwer, Vorwürfe gegen mich zu erheben. Wird aber zur gleichen Zeit anerkannt, was gut gemacht wurde? Ich glaube nicht. Der Mensch ist nun einmal so. Das Gute wird meist vergessen oder gar nicht bemerkt, das Schlechte bleibt immer in Erinnerung und wird immer wieder aufgefrischt.“[3]
Mag der eigene Namen selbst anderes besagen, so wird er jedoch von dem geprägt, was über einen an Handlungen, Taten, Äußerungen, Erlebnisse und Widerfahrnissen erzählt werden kann (und muss). Da Eigennamen zeitgebundene Handlungen und Ereignisse kondensieren und damit auch ansprechbar machen, haben sie gewissermaßen ein „Eigenleben“. Somit kann deren Bedeutung und Verwendung eben nicht analytisch bestimmt, sondern allein narrativ entfaltet werden. Nicht eine selbsterdachte Identität und auch nicht eigenschaftliche Zuschreibungen, sondern Lebenserzählungen sind im eigenen Namen präsent. Im Unterschied zu Gattungsnamen, die definiert werden können, erweisen sich Eigennamen erzählerisch als indefinit. Daher können sie auch nicht als Prädikation angeführt werden. Wird hingegen ein Name an- oder aufgerufen, ist das Leben des Namensträgers gleichfalls gegenwärtig.
Während Naturwissenschaften auf Gattungsnamen basieren, beruht die Geschichte bzw. die Geschichten auf Eigennamen. Ohne Eigennamen – in Ergänzung mit Personal-, Possessiv- und Demonstrativpronomen (Deiktika) – können einmalige Handlungen und Geschehnisse weder erinnert noch erzählt werden. Jedes Geschehen, das in seiner Einmaligkeit für uns Menschen von Bedeutung ist, hängt zumindest an einem Namen. Nur wem ein eigener Name gilt, hat seine eigene Lebensgeschichte. Im Eigennamen verdichtet und erhält sich besonderes Geschehen über die Zeit hinweg. Zurecht schreibt Oskar Grether:
Die Bedeutung eines Menschen, seine Taten und Leistungen, sein ganzes Lebensschicksal konzentrieren sich in seinem Namen. Der Name ist der Exponent der Persönlichkeit. Aus seiner engen Verkettung mit seinem Träger zu dieser Bedeutung gekommen und seinen Inhalt stets von dessen Schicksalen erhaltend, wird ihm ein gewisses Maß von Selbständigkeit. gegenüber seinem Träger beigelegt. So kann z. B. der Name seinen Träger überdauern. Man denke an Schillers Vers: Wenn der Leib in Staub zerfallen, lebt der große Name noch.[4]
Was Namen besagen, wächst ihnen selbst zu, nämlich ihr Ruf. Im Unterschied zu Gattungsnamen lassen sich Eigennamen gerade nicht auf vorgegebene Merkmale hin definieren, gewinnen sie doch mit der Zeit an Bedeutung. Nach all dem, was mit einem Namen geschehen ist, ist dieser mit der Zeit ein anderer geworden, der jedoch immer noch demselben gilt. So hat es Zelda Schneersohn Mishkovsky (1914-1984) in das folgende Gedicht „Jeder Mensch hat einen Namen (Lechol isch jesch schem)“ gefasst, das jedes Jahr im April in Israel am nationalen Gedenktag an Shoa und Heldentum (Jom haScho’a) feierlich rezitiert wird:
Jeder Mensch hat einen Namen
den GOTT ihm gegeben
den Vater und Mutter ihm gegeben.
Jeder Mensch hat einen Namen,
den seine Gestalt und sein Lächeln ihm geben.
Jeder Mensch hat einen Namen,
den das Gebirge ihm gibt
und die Wände, in denen er lebt.
Jeder Mensch hat einen Namen,
den seine Sünde ihm gibt
und die Sehnsucht, die sein Leben prägt.
Jeder Mensch hat einen Namen,
den seine Feinde ihm geben
und den seine Liebe ihm gibt.
Jeder Mensch hat einen Namen,
den seine Feste ihm geben
den seine Arbeit ihm gibt.
Jeder Mensch hat einen Namen
vom Kreislauf des Jahres
und von seiner Blindheit ihm beigelegt.
Jeder Mensch hat einen Namen,
den das Meer ihm gibt
und schließlich auch der eigene Tod.[5]
Im Namen ist derselbe mit der Zeit ein anderer – Veränderlichkeit in der Identität, dafür steht der jeweilige Namen in seiner Lebensdichte. Da Eigennamen weder a priori zu definieren noch analytisch zu erschließen sind, können sie nur erzählt werden, auch wenn sie können nie zu Ende erzählt werden können. Ohne namhafte Besonderheit entschwinden Ereignisse entweder als Zufall in das Vergessen oder aber in die prinzipielle Wiederholbarkeit eines naturgesetzlichen Kausalzusammenhanges. Allein dort, wo ein kontingentes – so als auch anders mögliches – Geschehen auf einen Namen als Kondensat eines Lebens gebracht wird, kann es erinnert werden.
Namen sind weder Worthülsen noch Begriffe, sondern Anspruch und Bestimmung, die zu erhören sind, oder wie Elazar Benyoëtz schreibt: „Der Name eines Menschen – sein nicht zu widerrufender Ruf.“[6] Mit Eugen Rosenstock-Huessy gesprochen: „Namen sind so heilig, weil sie für die Einheit oder den Zwiespalt von Worten und Taten im menschlichen Leben Zeugnis ablegen.“[7] Mit sich selbst eins ist man nur in seinem eigenen Namen und nicht etwa im Selbstbewusstsein. Andreas Knapp, katholischer Ordensgeistlicher bei den kleinen Brüdern vom Evangelium, hat dem poetisch Nachhall in seinem Gedicht „Name“ verliehen:
dein Name
nicht Schall und Rauch
sondern Klang und Bild
ein gutes Omen
unverwechselbarer Schriftzug
Buchstaben des Lebens
dein Name
von der Liebe erfunden
zärtlich geflüstert
kein einsames Echo
sondern Widerhall des Herzschlags
Passwort zu dir
dein Name
Lebenslinie in Seiner Hand
unvergänglicher eingraviert
als in granitesten Grabstein
Lieb-Kose-Name
unaufhörlich[8]
Worte und Taten, die nicht besonderen Namen zugesprochen und dann auch zugeschrieben worden sind, gehen unwiederbringlich in einer anonymen Vergangenheit verloren. Namenloses verwest mit der Zeit und hat daher keinen Anhalt in der Ewigkeit. Eigennamen bezeugen das eigene Leben; sie sind eminent ethisch und zugleich eschatologisch gehalten. So weiß Jesus Sirach deren Bedeutung herauszustellen:
Alles, was aus dem Nichts kommt, kehrt ins Nichts zurück;
so der Ruchlose aus dem Leeren zum Leeren.
Nichtig ist der Mensch in seinem Leib,
nur des Treuen Name wird nicht ausgerottet.
Zittre um deinen Namen; denn er gibt dir Geleit,
mehr als um tausend kostbare Schätze.
Das Glück des Lebens dauert gezählte Tage,
aber ein guter Name Tage ohne Zahl.
Sir 41,10-13[9]
Kann es – hypothetisch gedacht – eine Welt ohne Eigennamen geben? Wovon könnte da alles die Rede sein? Mittels Gattungsnamen (bzw. genereller Termini) ließen sich dabei ohne weiteres generelle Aussagen treffen. Weiterhin könnten durch deiktische Ausdrücke sowie Kennzeichnungen kontextuelle Identifikationen vorgenommen werden. Es ließe sich sogar eine ganze Geschichte ohne Inanspruchnahme von Eigennamen erzählen – ein Mensch irgendwo an einem Ort, der mit der Zeit im Zusammenleben mit anderen Menschen irgendetwas erlebt … Allerdings kollabiert die Identität des solchermaßen Benannten mit dem Ende der jeweiligen Erzählung. Anonyme Identifikationen via Kennzeichnungen oder Deiktika sind über den jeweiligen Kontext hinaus nicht kommunizierbar. Sie können allenfalls als anonyme literarische Charaktere bedacht werden. Ohne intertextuelle Eigennamen können Geschehen über die jeweils erzählte Geschichte hinaus nicht miteinander verbunden und damit auch nicht in einen zeitlichen Ablauf gebracht werden. Jede Form von Geschichtsschreibung wäre damit unmöglich.
Namenloses Erzählgeschehen verflüchtigt sich in die Vergangenheit. Jede Form von Geschichtsschreibung wäre damit unmöglich. Insofern ist Franz Rosenzweig recht zu geben, wenn er schreibt, dass „durch das Einbrechen des Namens in das Chaos des Unbenannten […] der Schauplatz und der Inhalt der Weltgeschichte entstanden“ sei.[10] Wider die Anonymität spricht Ingeborg Bachmann eindrücklich von der „Strahlkraft des Namens“:
Der Name allein genügt, um in der Welt zu sein und es gibt nichts Mysteriöseres als das Leuchten von Namen und unser Hängen an solchen Namen, und nicht einmal die Unkenntnis der Werke verhindert das triumphierende Vorhandensein von Lulu und Undine, von Emma Bovary und Anna Karenina, von Don Quichotte, Rastignac, dem Grünen Heinrich und Hans Castorp. Ja, der Umgang mit ihnen in Gesprächen oder in Gedanken ist uns so selbstverständlich, so geheuer, dass wir nicht ein einziges Mal fragen, warum ihre Namen in der Welt sind, als wäre jemand mit ihnen besser getauft als wir mit unseren Namen, als hätte da eine Taufe stattgefunden, bei der zwar kein Weihwasser hat herhalten müssen und von der kein Schriftzug in einem Register spricht – als hätte da eine Namensgebung stattgefunden, die endgültiger und von einem Vorzug ist, an dem kein Lebender teilhat. Diese Namen sind eingebrannt in erdachte Wesen und vertreten sie zugleich, sie sind dauerhaft und so mit diesen Wesen verbunden, dass, wenn wir sie ausborgen und Kinder so nennen, diese zeitlebens mit der Anspielung herumgehen oder wie in einem Kostüm: der Name bleibt stärker an die erschaffene Gestalt gebunden als an den Lebenden.[11]
Dem sekundiert Sibylle Lewitscharoff:
Werden wir bei unserem Namen gerufen, kehrt unser im Vagen herumtreibendes Ich, das unablässig in Aufflug- und Unterwindungsgeschäften unterwegs ist, augenblicks zu uns zurück. Beim Namen gerufen, sind wir in der innersten Substanz berührt, die uns zusammenhält. […] Niemals war der Name Schall und Rauch, niemals nur ein leicht obenauf sitzendes Häubchen, zufällig und ephemer, immer war zwischen dem Namen und dem, der ihn trägt, eine innige Beziehung gestiftet. Im Namen wohnt eine Zwingkraft. Sie zwingt die Gestalt zu bleiben, und sie verbürgt, dass der windige, sich selbst immerzu entflatternde Mensch sich in seiner Gestalt wieder versammeln kann. Ist mehr als ein Name da, können die Namen in die Wechselrede eintreten und darin belebend wirken.[12]
In einer nachgelassenen Aufzeichnung vom 26. Oktober 1956 sieht Elias Canetti in Namen gar eine Sprache für sich:
Was ist in einem Namen! Alles, alles! Je älter ich werde, umso mehr verfalle ich Namen. Sie erregen mich mehr als alle andern Worte in einer Sprache. Sie sind eine Sprache für sich. Was ein Dichter mit einzelnen Worten bewirkt, die er isoliert und erhöht, die er ganz neu erfüllt, das haben die Namen von selbst. Sie sind rätselhaft und erfüllt, bloss weil sie Namen sind.[13]
Und ähnlich schreibt Gershom Scholem in seinem Brief an Franz Rosenzweig vom 26. Dezember 1926:
Sprache ist Namen. Im Namen ist die Macht der Sprache beschlossen, ist ihr Abgrund versigelt. Es steht nicht mehr in unserer Hand, die alten Namen tagtäglich zu beschwören, ohne ihre Potenzen wachzurufen. Sie werden erscheinen, denn wir haben sie ja freilich mit großer Gewalt beschworen. Wir freilich sprechen in Rudimenten, wir freilich sprechen eine gespenstische Sprache: in unseren Sätzen gehen die Namen um, in Schriften und Zeitungen spielt der oder jener mit ihnen, und lügt sich oder Gott vor, es habe nichts zu bedeuten und oft springt aus der gespenstischen Schande unserer Sprache die Kraft des Heiligen hervor, denn die Namen haben ihr Leben, und hätten sie es nicht, wehe unseren Kindern, die hoffnungslos der Leere ausgeliefert werden.[14]
Gerät nun ein Name in Vergessenheit (vgl. Jer 11,19; Hos 2,19; Sach 13,2) oder wird er gar aus dem kollektiven Gedächtnis herausgerissen (damnatio memoriae – vgl. Dtn 29,19; Zef 1,4; Ps 34,17), sind die ihm eigenen Ereignisse gleichfalls vergessen. „Schwerer ist es, das Gedächtnis der Namenlosen zu ehren als das der Berühmten. Dem Gedächtnis der Namenlosen ist die historische Konstruktion geweiht.“ Da mag dieses Apophthegma durch den berühmten Namen „Walter Benjamin“ autorisiert sein,[15] und dennoch macht es keinen Sinn: Für Namenlose – und seien sie symbolisch in Gedenksteine gehauen – gibt es kein wirkliches Gedächtnis. Ohne Eigennamen sind wir unseres Gedächtnisses beraubt. Es ist allein das Namensgedächtnis bzw. die Wirklichkeit eines Eigennamens, die ein einzigartiges Leben mit all seinen Erfahrungen und Handlungen zusammenfasst und ansprechbar macht.
Menschliches Vertrauen gilt immer ganz bestimmten namentlichen Personen, mit denen man über eine gemeinsame Geschichte verbunden ist, und nicht etwa deren Menschheit (humanitas). Wird über das Menschsein räsoniert, kommen allgemeine Eigenschaften qua Gattungsnamen (Appellativa) ins Spiel. Die Anthropologie mag Grundlegendes über biologische und kulturelle Bedingungen und Möglichkeiten von Menschen aussagen. Dennoch wird damit keine zwischenmenschliche Beziehung eröffnet. Vielmehr muss man an dem einmaligen Leben des Anderen Anteil nehmen. Das Signifikante ist eben nicht das Wesen, sondern die jeweilige Lebensgeschichte. Glaube und Vertrauen erwachsen aus den besonderen tugendhaften Taten und Worten, die im Eigennamen angesprochen werden.
Wer einen bei dessen Eigennamen anruft, lässt sich auf die unbestimmbare Wirklichkeit des anderen – seine eigene Geschichte und Zukunft – ein. So hat es auch der niederländische Theologe und Poet Huub Oosterhuis in seiner Einführung in das Beten herausgestellt:
Ein Name ist nicht einfach ein Wort. Der Name eines Menschen ist geschichtsbeladen: Ereignisse und Erfahrungen, Freud und Leid und Missverständnis klingen darin mit. Wenn ich die Namen meiner Freunde ausspreche, entsinne ich mich, wie ich zu ihnen stehe, was uns bindet. Unsere ganze Verbundenheit – das ist für mich die Tiefe und Höhe ihrer Namen. Manchmal sagt man von einem Verstorbenen: Wenn ich seinen Namen nenne, so ist er ganz da.[16]
Was Menschen Zukunft verheißt, sind weder allgemein Gedachtes noch die Natur, sondern Namen, die glaubwürdige Geschichten tragen. So wird JHWH im Psalmgebet vertrauensvoll angegangen: „Du bist mein Fels und meine Burg, und um deines Namens willen wollest du mich leiten und führen.“ (Ps 31,4) Beim Propheten Zephania findet sich im Anschluss an eine Gerichtsansage (Zeph 3,1-8) eine eschatologische Heilsansage, die Israel wie auch die Völker hoffen lässt:
„Dann aber werde ich den Völkern reine Lippen geben, damit sie alle den Namen des Herrn anrufen und ihm Schulter an Schulter dienen. Von jenseits der Ströme von Kusch werden sie jene, die mich anbeten – die Tochter meiner Verstreuung – als Gabe für mich bringen.“ (Zeph 3,8f)
Dem biblischen Zeugnis zufolge umfasst der Name all das, was JHWH an seinem Volk Israel und durch seinen Sohn Jesus Christus zum Heil der Völker getan hat. Die Taufe „im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes“ nimmt den eigenen Namen in das trinitarische Heilsgeschehen mit hinein.
Jochen Teuffel
7. Januar 2022
[1] Als Überblick siehe Volker Kohlheim, Die christliche Namengebung, in: Namenforschung: Ein internationales Handbuch zur Onomastik, hrsg. v. Ernst Eichler et al., Bd. 2., Berlin 1996, 1048-1057; bzw. Michael Mitterauer, Systeme der Namengebung im Vergleich, in: Ders., Traditionen der Namengebung. Namenkunde als interdisziplinäres Forschungsgebiet, Wien-Köln-Weimar 2011, 27-43.
[2] 2. Teil, Kap. 2, Nr. 73, zitiert nach: Das Religionsbuch der Kirche in deutscher Übersetzung, Zweiter Teil: Von den Sakramenten, hrsg. v. Michael Gatterer, Innsbruck-Leipzig 31941, 70.
[3] Zitiert nach Ernst Klee, Personenlexikon zum Dritten Reich, Frankfurt a.M. 2003, 408f.
[4] Name und Wort Gottes im Alten Testament, BZAW 64, Gießen 1934, 25.
[5] Abgedruckt als Abendgebet für den Jom Kippur in: Jonathan Magonet/Walter Homolka (Hg.), Seder hat-tefillôt. Das jüdische Gebetbuch, Bd. 2. Gebete für die hohen Feiertage, Gütersloh 1997, 297.
[6] Scheinhellig. Variationen über ein verlorenes Thema, Wien 2009, 74.
[7] Des Christen Zukunft oder Wir überholen die Moderne, München u.a. 1965, 25. Vgl. außerdem Ders., Der Atem des Geistes, NA, Moers o.J. (1991), 53-62.
[8] Weiter als der Horizont. Gedichte über alles hinaus, Würzburg 2002, 25.
[9] Übersetzung nach Otto Kaiser, Der Mensch als Geschöpf Gottes. Aspekte der Anthropologie Ben Siras, in: Ders., Zwischen Athen und Jerusalem, Berlin 2003, 242.
[10] Brief an Gertrud Oppenheim vom 30. Mai 1917, in: Ders., Briefe, hrsg. v. Edith Rosenzweig, Berlin 1935, 211.
[11] Der Umgang mit Namen (1960), in: Ingeborg Bachmann, Werke, Bd. 4: Essays. Reden. Vermischte Schriften. Anhang, München 1978, 238-254.238f.
[12] Vom Guten, Wahren und Schönen. Frankfurter und Zürcher Poetikvorlesungen, Berlin 2012, 7-9.
[13] Zitiert nach Alexander Schüller, Namensmythologie. Studien zu den Aufzeichnungen und poetischen Werken Elias Canettis, Berlin-Boston 2017, 81f.
[14] Bekenntnis über unsere Sprache. An Franz Rosenzweig. Der Text findet sich in Michael Brocke, Franz Rosenzweig und Gerhard Gershom Scholem, in: Walter Grab/Julius H. Schoeps (Hrsg.), Juden in der Weimarer Republik, Stuttgart-Bonn 1986, 148-150.
[15] Gesammelte Schriften I/3, Frankfurt a.M. 1974, 1241.
[16] Ganz nah ist Dein Wort. Gebete, aus dem Niederländischen übertragen von Peter Pawlowsky, Wien-Freiburg-Basel 101972, 1+2.
Die Einheit von
Geist Seele Leib
in unteilbarer Würde
als das Wesen Mensch
die Seele birgt
alles Leben
auch die der Namenlosen
unsere Ahnen
auf deren Schultern
wir stehen
deren Name
vergessen wurde
die im Traum
sich in jedem von uns
Gehör verschaffen wollen