Gerhard von Rad, Die Geschichte von Simson (1953): „Sein Leben zeigt einen fortgesetzten Wech­sel zwischen Krafterweisen und erniedrigender Schwäche. Seine Gotteskraft verpufft doch immer wieder in wir­kungslosem Schabernack. Er spielt mit seinem Charisma und betätigt es nicht im Gehorsam. So zeigen uns die Sim­son-Geschichten das Bild einer vertanen Gotteskraft.“

Die Geschichte von Simson

Von Gerhard von Rad

»Da fiel das Haus auf die Fürsten und alles Volk, daß der Toten mehr waren, die in Simsons Tod starben, denn die bei seinem Leben starben!« Mit diesem düsteren und sehr nachdenklichen Satz schließt die Erzählung von Simson (Ri. 13-16).

Wer war denn dieser Simson? Wir denken an einen unge­heuerlichen, langhaarigen Kraftmenschen, der Menschen erschlägt, Löwen zerreißt, Häuser um wirft, der also er­staunliche Krafttaten vollbringt, die uns doch nicht so sehr imponieren, ja die uns fast ein wenig lächerlich und un­würdig erscheinen. Aber dieses Bild, das uns überkommen ist und an dem die christliche Unterweisung nicht unschul­dig ist, ist doch sehr unvollständig und oberflächlich. Der alte biblische Erzähler will uns sehr viel mehr zeigen.

Zunächst wird freilich kein Leser dieser alten Erzählun­gen davon dispensiert, sich erst einmal ein Bild von den damaligen geschichtlichen Verhältnissen zu machen. Um 1200 vor Christus saßen die israelitischen Stämme über­wiegend im Bergland, weil die große palästinische Ebene im Westen von den Kanaanäern und den Philistern besetzt war. Der Stamm nun, der den Philistern am nächsten be­nachbart war, war der Stamm Dan am Westabhang des judäischen Hügellandes, und er lebte deshalb fortgesetzt in Händeln mit den Philistern. Und auch in solchen loka­len Reibereien ging es regelmäßig um Leben und Tod. Es war das eine sehr rauhe, urwüchsige Zeit, eine Art Früh­mittelalter, jugendfrisch, kraftstrotzend, nicht wehleidig, nicht human, und so war auch Simson. In den Geschichten, die von ihm handeln, geht es oft sehr derb zu. Wir sollten das alles nicht schulmeistern vom Standpunkt einer moder­nen Humanität; solche urwüchsigen Zeiten gab es doch in der kulturellen Entwicklung aller Völker.

Aber warum ist von diesem Kraftmenschen, der den Phili­stern so großen Tort antat, in der Bibel die Rede? Dieser Simson war schon vor seiner Geburt zu einer besonderen Gottangehörigkeit bestimmt. Mehr als andere sollte er ein Werkzeug in der Hand Gottes sein, sollte er Gott zur Ver­fügung stehen. Solche Menschen einer besonderen Gottan­gehörigkeit nannte das alte Israel Nasiräer. Sie enthielten sich des Weines, durften sich sogar ihre Haare nicht sche­ren, und so lebten sie als ein aufrüttelndes Signal innerhalb ihrer gedankenloseren Umwelt. So hatte also das Leben Simsons bei Gott eine bedeutsame Vorgeschichte. Vielen ist die Erzählung, wie der Engel des Herrn den Eltern Simsons erschien, durch ein Gemälde Rembrandts unver­geßlich geworden.

Hat man aber das fromme Bild von der Berufung Simsons im 13. Kapitel des Richterbuches angesehen, so ist man höchlichst überrascht, wie uns der Erzähler daraufhin in einen Wirbel ganz ungeistlicher Geschichten stürzt. Sim­son ist hinter den Frauen her, er besteht gefährliche, aber auch oft recht komische Abenteuer. Da ist die Geschichte von dem Schmaus mit den Philistern: Simson setzt sich mit Männern, die ihm keineswegs wohlwollen, zum Mahl. Das ist freilich keine gemütliche Tafelrunde. Man schmaust, man ist witzig, die Atmosphäre ist aber sehr gespannt. Noch beschränkt sich das übermütige Rivalisieren aufs Geistige; man wetteifert im Scharfsinn, man erprobt sich, wie es die Zeit damals liebte, in witzigen Rätselspielen: »Was ist süßer als Honig, was ist stärker als der Löwe? Die Liebe!« Aber dieses Rivalisieren geht dann blutig aus. Später jagt Simson Füchse mit Feuerbränden an den Schwänzen in die Kornfelder der Philister, ein andermal weilt er in Gaza nachts bei einer Dirne. Jetzt glauben ihn die Philister in der Falle zu haben, denn die Stadttore wer­den des Nachts ja geschlossen. Er aber — nach einer Nacht der Liebe — hebt um Mitternacht die Tore mit Riegeln und Pfosten aus und schleift sie viele Kilometer weit auf einen Berg bei Hebron. Dann aber ist er an Delila geraten, und sie ist sein Verderben geworden. Nun geht es schnell mit ihm bergab, denn — so sagt der Erzähler — »der Herr war von ihm gewichen«. Wir sehen ihn, den Unbesieglichen, wehrlos im Schoß einer listigen Frau liegend — auch das ein Bild, das unzählige Maler gereizt hat. Und zum Schluß wird Simson von seinen eigenen Landsleuten, denen er auch unheimlich geworden ist, seinen Todfeinden aus­geliefert. Er wird geblendet und muß im Gefängnis die Mühle drehen. Aber bei einem großen Fest, da holt man ihn, um sich noch einmal an dem Überwundenen zu ergöt­zen. Man stellt ihn in die Mitte des Saales an zwei Säulen, die das Dach des Palastes tragen, da soll er der Menge auf­spielen. Aber in einer letzten Aufwallung seiner Kraft reißt er die Säulen um und begräbt sich und die festliche Menge unter den Trümmern.

Was soll das alles? Wie finden wir uns in diesen Geschich­ten, in denen Recht und Unrecht so heillos ineinanderliegen, zurecht? War es recht, die Füchse in die Kornfelder zu jagen? War es recht, daß ihn seine eigenen Landsleute den Philistern ausgeliefert haben? War es recht? So könnten wir mit Fragen gewiß noch lange fortfahren. Aber der Schlüssel liegt woanders. Simson war von Gott ungewöhn­lich reich begabt. Nicht nur seine Körperstärke, vor allem auch seinen Witz und seine Schlagfertigkeit sollen wir be­wundern. Und mit diesen großen Gaben verband sich etwas Einfältiges, Argloses, so daß er uns eigentlich wie ein großes Kind erscheint, dem man nicht ernstlich böse sein kann. Und nun erliegt er am Ende denen, die zwar nicht so stark und nicht so witzig, aber um so hinterhälti­ger waren. Sollten wir da nicht von einer im Grunde tra­gischen Gestalt reden? Aber wenn wir vom Tragischen reden, so denken wir an ein überpersönliches Verhängnis. Hier aber geht es doch um etwas ganz anderes. Simson hatte einen göttlichen Auftrag, und für diesen Auftrag hatte er göttliche Gaben. Charisma nennt das Neue Testa­ment diese göttliche Berufsausrüstung. Aber was vollbringt Simson damit? Sein Leben zeigt einen fortgesetzten Wech­sel zwischen Krafterweisen und erniedrigender Schwäche. Seine Gotteskraft verpufft doch immer wieder in wir­kungslosem Schabernack. Er spielt mit seinem Charisma und betätigt es nicht im Gehorsam. So zeigen uns die Sim­son-Geschichten das Bild einer vertanen Gotteskraft; ver­tan im Niederreißen. Sie zeigen das klägliche Unterliegen in dem Kampf zwischen Eros und Charisma. Simson schafft nichts, und er geht zuletzt in dem Chaos unter, das er um sich herum verbreitet. »Und der Toten, die in seinem Tod starben, waren mehr, denn die bei seinem Leben star­ben.«

Vortrag im Süddeutschen Rundfunk, Sendereihe »Glauben und Leben«. Geschichten der Bibel, Dezember 1953.

Quelle: Gerhard von Rad, Gottes Wirken in Israel. Vorträge zum Alten Testament, hrsg. v. Gerhard von Rad, Neukirchen-Vluyn: Neukirchener Verlag, 1974, S. 49-52.

Hier der Text als pdf.

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