Gerhard von Rad zum 70. Geburtstag
Von Gustav W. Heinemann
Im Jahre 1934 beschlagnahmte die Geheime Staatspolizei (Gestapo) eine Broschüre, die die Bekenntnissynode im Rheinland hatte drucken und verbreiten lassen. Sie wurde als verkappter Angriff auf das nationalsozialistische Regime verstanden. In Wahrheit war sie jedoch ein unveränderter Neudruck dessen, was der Wuppertaler Pastor Paul Geyser schon in den siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts unter dem Titel „Die Sünde Jerobeams“ dargestellt hatte, und zwar „daß der Narr auch die Gewissen regieren, die Kirche sich unterwerfen, die Gottesverehrung nach dem Staatsinteresse, das will sagen, zur Befestigung seiner Herrschaft modeln und bestimmen wollte.“ In dieser Theologie Jerobeams fühlten sich die nationalsozialistischen Deutschen Christen getroffen und riefen die Gestapo zu Hilfe.
Das Alte Testament ist aber nun einmal schockierend direkt und konkret. Seine Weltoffenheit und Wirklichkeitsnahe hat die Christen immer schon in Verlegenheit gebracht. Es wurde oft einer minderwertigen Moral verdächtigt und sollte ebenso oft Kreuzzüge rechtfertigen. Der große Flügel des deutsch-christlichen Protestantismus sagte sich 1933 vom Alten Testament los und übertrug gleichwohl das Erwählungsbewußtsein Israels auf sich selbst.
Die Bekennende Kirche erklärte demgegenüber in der ersten These der Barmer Erklärung von 1934 das Alte Testament zum unverzichtbaren Zeugnis für Jesus Christus. Er allein ist Gottes Wort. Unkritische Benutzung oder ideologische Ablehnung des Alten Testaments waren damit in gleicher Weise abgewehrt.
Gerhard von Rad erbrachte mit seiner Arbeit am Alten Testament den Erweis für diese These des Barmer Bekenntnisses. Er machte deutlich, daß der Gott, dessen Handeln Israel seine Existenz verdankt, schon die Züge desselben Gottes trägt, den Jesus im Neuen Testament als unseren Vater verkündigt. Diese Einsicht stellte das altgewohnte theologische Schema vom Alten Testament als dem Gesetz und vom Neuen Testament als dem Evangelium biblisch in Frage. Wenn das Gesetz für Israel unter dem Vorzeichen des Evangeliums gegeben worden war, mußte auch die »Zwei-Reiche-Lehre« neu überdacht werden. Die Befreiung der Glaubenden durfte dann nicht auf die private Sphäre des Verhältnisses Gottes zum Menschen beschränkt bleiben, sie mußte sich vielmehr auch im öffentlichen Leben und im politischen Handeln bewähren und das ständige Bemühen um bessere Gerechtigkeit und Frieden in unserer vorläufigen Welt aufschließen.
Die Theologische Erklärung von Barmen ist bis jetzt nicht zu einer gemeinsamen Basis des Protestantismus geworden. Altüberlieferte Lehrmeinungen lassen sich wohl nicht in einem Menschenalter verändern. Doch hat uns Gerhard von Rad auf die Handgreiflichkeit und Diesseitigkeit der Abrahamsverheißung neu zu achten gelehrt: Glaubende werden von Gott gerufen und dazu geführt, schon jetzt Segen, nämlich Lebensrettung und Lebenshilfe, unter die Völker zu bringen.
Damit hat Gerhard von Rad gerade uns Nichttheologen für die politische und soziale Arbeit der beharrlichen kleinen Schritte in Richtung auf die »konkrete Utopie« eine dankenswerte Hilfe geleistet.
Quelle: Hans Walter Wolff (Hrsg.), Probleme biblischer Theologie. Gerhard von Rad zum 70. Geburtstag, München: Christian Kaiser, 1971, S. 11-12.