Gerhard von Rad über Gerhard von Rad (1966): „So sehe ich mich nach wie vor in meinem lesen Lernen und meinem lesen Lehren unterwegs und noch weit von einem befriedigenden Ziel.“

Gerhard von Rad über Gerhard von Rad (1966)[1]

Meine Aufgabe als akademischer Lehrer war und ist: lesen zu lernen und lesen zu lehren. Sich recht zu bewegen in der Literatur eines an­tiken Volkes, das viel weniger schrieb und las, als das moderne Völker tun, das darum aber viel gesammelter schrieb, so daß dem einzelnen Wort in der Regel ein viel größeres Gewicht und ein markanteres Pro­fil eigen ist – das ist eine Bemühung, in der keiner auslernt. Immer neu mußte, etwa im Seminar, die für die Studenten zunächst entmutigende Erkenntnis eingebracht werden, daß sich die alten biblischen Texte uns abweisend verweigerten, wenn man sie frischweg von den bedrän­genden Tagesfragen aus anging. Aber dem, der sich für sie ganz frei machte, der versuchte, ihnen die Spannungen abzuspüren, in denen sie standen, dem können sie sich in einer oft überraschenden Weise und vorher gar nicht geahnten Aktualität öffnen.

Mit dieser Aktualität der alttestamentlichen Texte für den modernen Leser war es damals, als wir in die Wissenschaft eintraten, freilich so eine Sache. Für die historisch-kritische Wissenschaft des letzten Jahr­hunderts und auch noch für viele ihrer Vertreter am Anfang unseres Jahrhunderts, die der deutschen Bibelwissenschaft Weltgeltung ver­schafft hatten, war dies wohl eine ihrer geringsten Sorgen. Ja mehr noch: viele der monumentalen Monographien und Kommentare dieser Forschergeneration beschäftigten sich viel weniger mit dem Text, der Erzählung, wie sie dastand, als mit ihrer Entstehung, ihren literari­schen, sagengeschichtlichen oder mythologischen Vorstufen. Wieviel Gelehrsamkeit und Scharfsinn war zB zur Auslegung der biblischen Urgeschichte oder der Vätergeschichte in der Genesis aufgeboten wor­den; aber es beunruhigte mich schon früh, daß bei dieser Art von Lesen und lesen Lehren etwas nicht stimmte, solange die Bemühung fehlte, den Text nun auch ebenso präzis in seiner Letztgestalt und im Rahmen seines Kontextes zu verstehen. Die Aufgabe war also, den Weg – und zwar ohne »pneumatische« Gewaltakte – wieder zum Text in seiner Ganzheit zurückzufinden und vor allem das Sinngebäude der großen literarischen Kompositionen zu verstehen, in die der jeweilige Text als ein Baustein ja auch nicht zufällig geraten war. Hier mußte eines das andere interpretieren helfen: die Einzelerzählung die große Gesamt­komposition und umgekehrt. Das Volk Israel hat ja – ein Unikum in der Literatur der altorientalischen Völker! — immer aufs neue große Geschichtswerke entworfen, weil es vor der Notwendigkeit stand, sich unter immer neuen Gesichtspunkten als Gegenstand einer göttlichen Führung zu verstehen. Enthalten diese Geschichtswerke auch vorzüg­liches dokumentarisches Material, das uns in den Stand setzt, die Ge­schichte dieses Volkes ziemlich genau zu rekonstruieren, so ist unsere Arbeit an diesen Werken damit noch nicht getan, daß wir sie als Histori­ker in ihrer Eigenschaft als Geschichtsquellen ausholen. Sie müssen ja in ihrer spezifisch bekenntnismäßigen Eigenart ernst genommen werden, dh es müssen die Bilder, die Israel selbst von seiner Geschichte gezeichnet hat, zuerst einmal für sich als eine Leistung von einem hohen geistigen Anspruch und theologischen Gewicht aufgenommen, untersucht und gewertet werden.

Das Leben und der Werdegang eines deutschen Hochschullehrers verläuft normalerweise still und ohne äußere Sensationen. Die Span­nungen, unter denen es wie jedes Leben steht, sind verborgener. Ich kann darin nichts Unrechtes sehen. Wirklichkeitsfremd? Steht der akademische Lehrer nicht vor Wirklichkeiten besonderer Art und in Verpflichtungen, in denen er sich stellvertretend für viele, die sie nicht kennen, zu bewähren hat? Als aber der Nationalsozialismus kam mit seiner widerlichen und groben Absage an das Alte Testament, die doch in weiten Kreisen verwirrend wirkte, wurde die Lage kritisch, denn diese Herausforderung traf die alttestamentliche Wissenschaft fast völlig ungerüstet. Sie hatte mit einem fast schon religiösen Ernst zum Ethos eines unbestechlichen historischen Erkennens erzogen, aber nicht dazu, in entscheidungsvoller Situation – die Theologen sagen: in statu confessionis – öffentlich, ja im politischen Raum sich zum Alten Testa­ment zu bekennen. Zum Glück weiß ich heute kaum mehr, was ich in den zahllosen Vorträgen vor Studenten, in Pfarrkonventen, in illegalen Fortbildungskursen und kirchlichen Gemeindeversammlungen (oft mit anschließender heftiger Diskussion) gesagt habe. Damals schien es mir oft, als ob die zeitraubenden Reisen, die im Krieg noch mühseliger wur­den, mich störend von der mir eigentlich aufgetragenen wissenschaft­lichen Arbeit abhielten. Aber vielleicht hat doch auch dieser Dienst ein wenig dazu beigetragen, mein lesen Lernen und mein lesen Lehren zu prägen.

Heute bin ich alt. Die Begeisterung, mit der ich ehedem las und lehrte, hat sich etwas gelegt. Es mischt sich ihr gelegentlich etwas wie eine Trauer bei, daß sich manchmal die stärksten Eindrücke nicht ange­messen wiedergeben und nicht in die nötigen größeren Zusammenhänge recht einordnen lassen. So sehe ich mich nach wie vor in meinem lesen Lernen und meinem lesen Lehren unterwegs und noch weit von einem befriedigenden Ziel.

Quelle: Hans Walter Wolff (Hrsg.), Probleme biblischer Theologie. Gerhard von Rad zum 70. Geburtstag, München: Christian Kaiser, 1971, S. 659-661.

Hier der Text als pdf.


[1] Zuerst veröffentlicht in: Ernst W. Böhm (Hrsg.), Forscher und Gelehrte, Stuttgart: Ernst Battenberg Verlag, 1966, S. 17-18.

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