Über den prophetischen Dienst der christlichen Gemeinde und des einzelnen Christen
Von Karl Barth
Wir dürfen diese Übersicht nicht schließen, ohne endlich mit Nachdruck auch auf den prophetischen Dienst der christlichen Gemeinde hinzuweisen. Sie dient – und das heiße nun also: sie liebt, sie missioniert, [584] sie evangelisiert – je in dieser und dieser Zeit, je in dieser und dieser Phase des allgemeinen Weltgeschehens, je unter den Menschen, die, dieser Phase entsprechend, am Weltgeschehen diesen und diesen aktiven und passiven Anteil haben, so und so in ihm handeln und leiden, so und so Schiebende und Geschobene sind. Sie hat mit ihrem Dienst überall und jederzeit und allen Menschen dasselbe ewige Wort Gottes zu bezeugen. Aber sie selbst ist nicht ewig und so kann auch ihr Dienst nicht ewig sein und weder zeitlos noch überzeitlich, wie übrigens auch Gottes Ewigkeit weder zeitlos noch überzeitlich ist. Die Gemeinde dient nicht wie unter einer Glasglocke, unter der sie selbst von der jeweiligen Zeit und ihrem Geschehen, vom Wirken und Leiden der jeweils lebenden Menschen abgeschlossen wäre. Sie dient, indem sie und in ihr alle ihre Glieder an dem Allem selbst und direkt Anteil haben: sicher nicht geringeren, mindestens denselben Anteil wie alle anderen Menschen. In Wirklichkeit sogar einen prinzipiell stärkeren, einen vom Gegenstand ihres Dienstes her ganz unmittelbaren Anteil! Gerade weil der Gegenstand ihres Dienstes das ewige Wort Gottes ist, geschieht er gewissermaßen in der Mitte jeder Zeit: im Blick auf den Punkt, in welchem die Zeit von ihrem Anfang und von ihrem Ende her jeweils Gegenwart ist, mitten in allem Weltgeschehen: als Bezeugung seines heilsgeschichtlichen Kernes, und darum wahrhaftig auch in der Mitte all der zu einer bestimmten Zeit als Teilnehmer an ihrem besonderen Geschehen bewegten und sich bewegenden Menschen. Kein Tun der Staatsmänner und der Völker, der Massen und ihrer Sprecher und Vertreter, der Gelehrten, Künstler, Techniker und Feldherrn irgendeiner Zeit kann gründlicher zeitlich sein als das Tun der christlichen Gemeinde, wenn sie in ihrem Dienste tätig ist. Und eben sofern es in diesem gründlichen Sinn zeitlich ist, wird es prophetisch. Es beruht ja auf der Wahrnehmung des gekommenen und kommenden Reiches Gottes. Es besteht wesentlich darin, dieses Reich anzuzeigen. Es vergegenwärtigt also, was von Gott her geschehen ist; es vergegenwärtigt aber auch, was von ihm her noch geschehen soll und wird. Es nimmt Bezug auf jene qualifizierte Vergangenheit und nimmt von ihr her jene qualifizierte Zukunft vorweg. Es bezeugt den Tod und die Auferstehung Jesu Christi als den Anfang, seine Wiederkunft als das Ende aller Dinge, und eben so seine Gegenwart, seine Herrschaft, sein Sein, Leben und Werk als der Heiland der Welt. Es bezeugt im Rückblick und im Ausblick auf ihn, in jener Bezugnahme auf das von ihm schon Vollbrachte und in jener Vorwegnahme dessen, was von ihm her noch aussteht, daß er allein in Ewigkeit und darum auch in der Zeit regiert. Es bezeugt eben damit auch, was jetzt, heute, hier im tiefsten Grunde wahr, wirklich und gültig ist. Die Gemeinde sieht die Zeit, ihr Geschehen, ihre Menschen, sie sieht die jeweilige Welt von daher. Und sie kann sich ihr nicht zuwenden, sie kann nicht mit ihr reden, ohne es ihr auch zu sagen, und zwar konkret, im [585] Blick auf ihre Gestalten und Ereignisse, ihre vollzogenen und sich anbahnenden Entscheidungen, auf ihren Weg aus der letzten Vergangenheit in ihre nächste Zukunft zu sagen, daß sie sie und wie sie sie von daher sieht. Sie müßte überhaupt verstummen oder sie müßte bloß vor sich hinreden wollen, statt die Welt, wie es sich gehört, anzureden, sie müßte also ihren Dienst ihr gegenüber vernachlässigen oder preisgeben, wenn sie ihr das nicht sagen wollte. Es ist klar, daß sie den Menschen dabei nicht eben das wird sagen können, was sie über ihre Zeit und Lage, über deren Fragen, Sorgen und Aufgaben selber schon wissen oder allenfalls selber sich ausdenken und sagen können. Mag sein, daß die Gemeinde manchmal mit dem, was andere Menschen im Blick auf das Geschehene und noch Kommende auch denken und sagen, im praktischen Ergebnis zusammentrifft. Aber zu erwarten steht das nirgends und niemals. Und auch, wenn das der Fall ist, wird damit zu rechnen sein, daß ihr Zeugnis ganz andere Dimensionen hat und nach kurzer äußerer Übereinstimmung mit dem, was auch von anderer Seite vertreten wird, in eine, von dort her gesehen, ganz fremde Richtung weist. Es ist nun einmal ein Anderes, ob dieselben weltlichen Dinge unter dem Aspekt des Reiches Gottes oder ob sie unter dem einer ihr angeblich auch sonst innewohnenden Logik, Metaphysik und Ethik gesehen werden: ein Anderes, was von dort, ein Anderes, was von hier her zu ihnen zu sagen ist. Und nun ist das prophetische Zeugnis der christlichen Gemeinde ihrer jeweiligen Zeitgenossenschaft gegenüber zwar auch nur ein menschliches, in allen seinen Urteilen und Anwendungen irrtumsfähiges, es ist aber gegenüber Allem, was von anderen menschlichen Standorten her vertreten wird, freies Zeugnis. Es wird sicher in der Regel ganz anders lauten als die Verlautbarungen von anderer Seite. Steht es in allzu breiter Übereinstimmung mit dem, was die Regierungen, die herrschenden Parteien, die Massen da und dort ohnehin sagen, dann muß es zwar nicht notwendig falsche Prophetie sein. Aber die Frage, ob es das nicht sein möchte, legt sich dann allerdings peinlich nahe und sollte dann von der Gemeinde sehr streng geprüft werden. Es ist wahrscheinlicher, daß das, was sie zu sagen hat, im Verhältnis zu dem, was man den jeweiligen Zeitgeist seufzen oder jubeln, murmeln oder schreien hört, das höchst Unzeitgemäße sein wird. Ist es ihr prophetisches Zeugnis, dann ist es ja gerade nicht etwa aus der Tiefe der jeweiligen Gegenwart, sondern in der Gegenwart aus der Tiefe jener qualifizierten Vergangenheit und jener qualifizierten Zukunft geschöpft, gesagt im Angesicht des gekommenen und wiederkommenden Herrn und ihm verantwortlich in der Gegenwart gesagt. Von da aus wird es in der Regel überraschend sein. Die Gemeinde wird von da aus manchmal Ungerechtigkeit nennen müssen, was Jedermann für höchst, gerecht anzusehen gewöhnt ist, und wieder von da aus eine höhere Gerechtigkeit auch da anerkennen müssen, wo Jedermann über notorisches Unrecht die Hände [586] über dem Kopf zusammenschlagen zu müssen meint. Sie wird von da aus manchmal Dinge aussprechen müssen, die alle Beruhigten aufs Tiefste beunruhigen müssen, und wieder von da aus ein anderes Mal den Unruhigen sagen müssen, daß sie nun zuerst und vor allem einmal ganz ruhig werden möchten. Sie wird von da aus jetzt kommendes größtes Unheil anzeigen und voraussagen und wieder von da aus in eine allgemeine Schwarzseherei hinein laut und fröhlich von Hoffnung reden müssen. Sie wird von da aus das eine Mal scharf für eine Seite und gegen eine andere auftreten und ein anderes Mal wieder von da aus ebenso bestimmt einen dritten Ort beziehen müssen. Sie wird von da aus vielleicht den Weg des gesunden Menschenverstandes (im Zeichen der köstlichen Wahrheit, daß zwei mal zwei vier ist und nicht fünf) und wieder von da aus ein anderes Mal das kühne Wagnis eines blinden Glaubens als den Weg der Weisheit zu empfehlen haben. Sie kann von da aus vielleicht erstaunlich konservativ und wieder von da aus vielleicht sehr revolutionär reden und Stellung beziehen müssen. Das Alles zu seiner Zeit: zu der Zeit nämlich, die ihr, indem sie sich an der Ewigkeit orientiert (jetzt für diese, jetzt für jene Sicht und Beurteilung) als die rechte Zeit bezeichnet wird. Sehr wahrscheinlich – und von daher ihre Unzeitgemäßheit – wird es dann so sein, daß sie je mit dem Einen und mit dem Anderen jeweils immer das sagt, was in der Welt, was im Zeit- und Ortsgeist, im Geist der Mächtigen und im Geist der Mehrheit gerade nicht an der Reihe ist. Sie wird es also den Leuten wahrscheinlich nie recht machen. Es wird wahrscheinlich immer ein gewisses Befremden, eine gewisse Sorge, ein gewisser Unwille um sie her sein. Man wird ihr zureden, ihr Zeugnis dem ein wenig zu koordinieren, was etwa sonst die Meinung und Tendenz der durchschnittlich vernünftigen Leute ist. Und sie ist nicht unfehlbar: sie wird sich vielleicht Einiges sagen lassen und sich danach richten müssen. Aber wenn sie ihr Zeugnis der Stimme der Welt wirklich koordinieren, wenn es etwa dauernd dem Durchschnitt von deren Urteil entsprechen würde und gleichgeschaltet wäre, dann wäre es ihr prophetisches Zeugnis sicher nicht mehr. Sie würde dann ebensogut schweigen können, weil die Welt ihre Sache ja gewöhnlich auch ohne geistliches sforzando laut und kräftig genug vorzubringen pflegt. Man wird ihr, wenn ihre Stimme sich in den Welthändeln bemerkbar macht, gerne raten, sich doch lieber an das reine Evangelium zu halten. Man hat sich zwar nie um das reine Evangelium gekümmert. Man meint denn auch nicht das reine, sondern das zeitlose oder überzeitliche, das das Zeitgeschehen nicht berührende, geschweige denn anfassende, das die Welt nicht störende Evangelium. Nun, die Gemeinde wird immer bereit sein müssen, sich Rechenschaft darüber zu geben, ob das, was sie konkret zur Lage sagen zu müssen meint, noch immer die Bezeugung des ewigen Wortes Gottes ist, oder ob sie dabei nicht längst mit irgendeiner Partei parteiisch zu werden oder einfach mit [587] den Hornisten zu hornen, mit den Kannegießern zu kannegießern im Begriff steht. Aber abusus non tollit usum. Das zeitlose oder überzeitliche, das dem Zeitgeschehen ausweichende, das neutrale Evangelium wäre sicher nicht das reine Evangelium, und ihr Zeugnis wäre gerade dann, wenn es bloß abstrakt evangelisch sein wollte, nicht nur kein prophetisches, sondern ein falsch prophetisches Zeugnis. Denn wenn irgend etwas falsche Prophetie ist, so ist es die Verkündigung einer Gemeinde, die sich der Sicherheit halber auf eine innere Linie zurückziehen und der Neutralität befleißigen wollte. Man wird sie, wenn sie aus solcher Neutralität hervorbricht und in solche Neutralität nicht wieder zurückzukehren willig ist, vielleicht anklagen und angreifen. Sie wird dann von den Großen und von den Kleinen, von den allzu Gescheiten und von den allzu Dummen verdächtigt und wohl als öffentlicher Feind behandelt werden. Das wird nicht immer ein gutes Zeichen für sie sein. Sie hat ihre Sache vielleicht schlecht gemacht; sie hat vielleicht anderen Geistern als dem Heiligen Geist gehorcht. Es geschieht ihr vielleicht recht, wenn sie sich dafür plagen lassen muß. Es kann aber dies, daß man sie plagt, auch ein gutes Zeichen sein: die notwendige Folge ihrer fröhlichen und unermüdlichen Ausrichtung des prophetischen Zeugnisses. Die Klügsten unter den Weltkindern werden ihr Urteil über die Gemeinde wahrscheinlich kopfschüttelnd dahin zusammenfassen: sie sei ein unsicherer, ein unzuverlässiger, ein unberechenbarer Faktor. Von ihrem Ort her gesehen wird die Gemeinde das tatsächlich sein müssen. Sicher und zuverlässig kann sie nur ihrer eigenen Spur folgen. Konsequent kann sie nur ihrem Herrn gehorsam sein wollen. Eben darum kann sie sich weder einer fremden Politik verschreiben, noch eine eigene, kirchliche Politik, vielleicht die einer christlichen Partei, in Gang setzen wollen. Sie kann nur im Gegenüber – in einem zutiefst teilnehmenden und positiven Gegenüber freilich – zu aller menschlichen Politik auf die Politik Gottes hinweisen, die kein System, sondern seine souveräne, verborgene Aktion ist, der die Gemeinde, indem sie auf sein Wort hört, demütig aber frisch zu folgen und deren Weg sie nun eben in Kraft oder Schwachheit zu bezeugen hat. Die Sache ist von vielen Problemen umgeben. Es versteht sich in keiner Lage von selbst, daß der Gemeinde der rechte Blick für das Zeitgeschehen und dann auch das rechte Wort zu ihren Zeitgenossen wirklich gegeben ist. Sie kann ja nicht besitzend und verfügend aus der Höhe des Wortes Gottes zu ihnen herunter, sie kann selber nur unter dem Worte Gottes menschliche Worte reden. Es kann ihr in bestimmter Lage durchaus auch geboten sein, ihr Zeugnis damit abzulegen, daß sie schweigt. Sie hat ferner zu bedenken, daß, was sie sagt, nicht etwa durch irgendeinen sakralen Charakter oder Klang, durch irgendeinen Autoritätsanspruch, mit dem sie es sagt, und nicht einmal dadurch, daß sie es in der Sprache der Bibel vorbringt, sondern allein dadurch Gewicht haben kann, daß es in der jeweiligen Lage – [588] ob es von den Menschen beachtet, verstanden und angenommen wird oder nicht – faktisch das Richtige trifft, sich also auch den Draußenstehenden früher oder später als das Richtige erweisen kann. Und sie hat vor allem dafür besorgt zu sein, daß sie mit dem, was sie sagt, weder aus der Liebe herausfällt, die sie – und wäre es auch in der Form einer harten Liebe – den Zeitgenossen auf alle Fälle schuldig ist, noch (und das noch viel weniger!) aus der Verkündigung des Evangeliums als der frohen Botschaft, daß Gott die Welt liebt und daß sie in allen ihren Irrungen und Wirrungen die von ihm geliebte Welt ist. Die Prophetie der Gemeinde könnte sachlich zehnmal recht haben und wäre doch noch immer falsche Prophetie, wenn sie nicht die Prophetie der Gnade und der Hoffnung, wenn sie etwa die Prophetie einer bösen, scheltenden, zankenden Gemeinde wäre. Die wahre Prophetie kann nur die der in der Sache wie in der Form weihnachtlich, österlich und von daher adventlich redenden Gemeinde sein.
In dem allem an ihrem Dienst in der Welt mitzuwirken, ist nun auch jeder einzelne Christ berufen. Er als solcher lebt ja zugleich in der Gemeinde und nun doch, nun gerade darum in der Zeit, mitten im Weltgeschehen, mitten unter denen, die draußen stehen. Er sieht und erfährt konkret, was dort vorgeht. Er hat mit darunter zu leiden. Er steht mit vor den Fragen und Aufgaben, die sich dort stellen. Und wieder ist er auch dort gebunden und frei von dem her, was die Gemeinde von ihrem gekommenen und wiederkommenden Herrn als dem Herrn der ganzen Welt und also von dem Anfang und Ende aller Dinge wissen darf. Er ist aufgerufen, die Zeichen der Zeit zu verstehen und auszulegen. Die prophetische Stimme der Gemeinde ist stark oder schwach, verworren oder deutlich, Stimme der Wahrheit oder des falsch prophetischen Truges, evangelisch oder gesetzlich in dem Maß, als die in ihr vereinigten Christen für ihre Person kluge oder törichte Jungfrauen, treue oder faule Knechte, aufmerksame oder schlafende Wächter, freie Geister oder Sklaven irgendwelcher Mächte sind, Trübsal blasende, wenn auch fromme Weltkinder oder fröhliche Kinder Gottes, blasse oder vielleicht auch feurig rote Schwärmer oder nüchterne Realisten. In ihrer Existenz fällt die Entscheidung über die prophetische Existenz der Kirche. Sie sind es, die das Reich Gottes – ein Jeder in seiner Weise – wahrgenommen haben. Sie in ihrer Verflechtung in das allgemeine Weltgeschehen kommen von Jesu Tod und Auferstehung her, um seiner Wiederkunft entgegenzugehen. Sie sind es, die von dorther die richtigen, die halbrichtigen, die falschen Konsequenzen zu ziehen im Begriffe stehen. Und indem sie den inneren und den äußeren Dienst der Gemeinde tragen und mitbestimmen, machen sie sich verantwortlich dafür, ob die Gemeinde in der Zeit das rechte oder ein falsches oder gar kein Wort findet. Hinter all den hier angedeuteten Möglichkeiten des Handelns und Redens der Gemeinde in der Welt steht [589] mit seiner Macht und Ohnmacht, mit seiner Hellsichtigkeit und Blindheit, mit seiner Offenheit und Verstocktheit, mit seinem Mut und mit seiner Verzagtheit die Wirklichkeit des einzelnen Christenlebens. Mitwirkung am prophetischen Dienst der Gemeinde heißt für einen Jeden primär: daß er persönlich achte auf das ewige Wort Gottes, das als solches das prophetische Wort ist, «das Licht, das an einem dunklen Ort scheint, bis der Tag anbricht und der Morgenstern aufgeht in euren Herzen» (2. Petr. 1, 19). Tut er es nicht, wie sollen es dann die Anderen tun, wie dann die Gemeinde als solche? Er wird es, in der Bruderliebe mit ihr und ihren anderen Gliedern verbunden, nicht auf eigene Faust, sondern mit diesen zusammen tun. Er wird also aus dem prophetischen Dienst der Gemeinde nicht sein Privatunternehmen machen. Er wird aber allerdings auch nicht darauf warten und sich darauf verlassen, daß Andere, daß sich vielleicht irgendwelche hervorgehobene Organe der Gemeinde dieses Dienstes annehmen möchten, sondern er wird ihn, indem er sich einund unterordnet, indem er sich dabei zu bescheiden weiß, nur eines ihrer Glieder unter anderen zu sein, auf seine persönliche Verantwortung nehmen. Die besondere Problematik, die sich hier auftut, ist unübersehbar; sie ist aber nicht unüberwindlich. Es ist einerseits klar, daß der Einzelne mit seinem besonderen Hören auf das Wort, mit seinem (hoffentlich von daher bestimmten!) besonderen Sehen der Dinge und vor und in seinen von daher sich ergebenden besonderen Stellungnahmen und Äußerungen mit den Anderen nicht nur jede mögliche Verständigung suchen, nicht nur Geduld haben, sondern sich mit Rücksicht auf die, die ihm vielleicht noch nicht zu folgen vermögen, auch eine bestimmte Zurückhaltung auferlegen wird: es ist ja nicht seine, sondern die Stimme der Gemeinde, die in der Welt laut werden soll. Es ist aber andererseits ebenso klar, daß er sich in seinen Stellungnahmen durch die der Anderen, und wären es die seiner nächsten Freunde, und wären es die der höchsten Organe der Gemeinde, nie für absolut dirigiert und gebunden halten, daß es ihm vielmehr unter Umständen geboten sein kann, ohne sie und wohl auch im Gegensatz zu ihnen einen einsamen Weg anzutreten und also nicht im Chor, sondern nun doch – in der Hoffnung, daß der Chor dereinst einfallen möchte – gar sehr Solo zu singen. Er muß es dann freilich wagen und verantworten, anzunehmen, daß nun eben gerade seine Stimme, obwohl zunächst isoliert, in Wahrheit die Stimme der Gemeinde sei. Es ist eine große Sache diese Annahme zu wagen und zu verantworten, und es wird ein Jeder wohl Anlaß haben, je noch und noch einmal zu prüfen, ob ihm das wirklich geboten ist. Aber es könnte ihm geboten sein. Und was bleibt ihm dann schon übrig, als diese Annahme zu wagen und zu verantworten? Und es ist einerseits wiederum klar, daß der Gemeinde, wenn solche isolierte Stimmen in ihrer Mitte sich erheben, höchste Vorsicht geboten ist. Sie tönen vielleicht schrill und unfreundlich; der einsame Rufer in ihrer Mitte ist [590] sicher auch nur ein Mensch, und es ist vielleicht leicht genug, festzustellen, daß er sich durch die Art seines Rufens menschlich weithin ins Unrecht setzt. Ganz abgesehen davon, daß sie sich durch ihn kompromittiert finden, und ganz abgesehen davon, daß sie den Verdacht hegen mag, es möchte der Weg falscher Prophetie sein, auf den er sie mitreißen will! Sie wird doch gut tun, zu bedenken: Es liegt in der Natur der Sache, daß gerade die echt prophetische Stimme, wenn sie sich erhebt, auch in der Gemeinde zunächst immer von Einzelnen her laut werden und also den Anderen und wohl besonders den zunächst auf die kirchliche Kontinuität bedachten leitenden Organen zunächst fast notwendig fremd und anstößig klingen wird. Es liegt sogar das ein wenig in der Natur der Sache, daß der, der dieser Stimme seine Zunge leiht, sich selbst dabei mehr als eine Blöße geben wird. Wie schade! seufzt es dann um ihn herum. Ja, aber «wär er besonnen, hieß er nicht der Tell». Und die seine Unbesonnenheit Beseufzenden mögen dann wohl zusehen, ob sie ihnen nicht willkommener Anlaß ist, sich gegenüber dem, was er zu sagen hat, für dispensiert zu halten, für ermächtigt, ihr Heil in der Flucht zu suchen. Es dürfte dann doch geboten sein, sich nicht zu rasch von ihm zu distanzieren, geschweige denn, ihn überhören oder gar unterdrücken zu wollen. Seine Stimme könnte ja darum doch, sie könnte in ihrer ganzen notwendigen und zufälligen Ärgerlichkeit das Echo der Stimme des Herrn und also die wahre Stimme der Gemeinde sein. Sie wird darum in der Gemeinde nicht nur frei zu geben, sondern mit größter Aufgeschlossenheit und Sachlichkeit zu hören und zu prüfen sein. Wer weiß denn, ob der Mann nicht heute einsam eben das vertritt, was morgen – aber vielleicht besser schon heute abend – zu vertreten die Sache der ganzen Gemeinde sein müsste? Wieder ist aber andererseits klar, daß die Gemeinde sich ihren Weg in der Welt nicht von einem noch so eindrucksvoll auftretenden Einzelnen diktieren, sich nicht heute von diesem, morgen von jenem angeblichen und scheinbaren Propheten aus ihrer Mitte dahin und dorthin treiben lassen kann. Die Gemeinde als solche mag ihren prophetischen Dienst in der Welt immer wieder von Grund aus neu zu lernen haben. Aber sie als solche ist und bleibt für seine Ausrichtung verantwortlich. Sie bedarf der Mitwirkung jedes Einzelnen, und darum darf sie den Geist (nämlich den Heiligen Geist!) nicht dämpfen (1. Thess. 5, 19); aber die Geister (nämlich die menschlichen Geister in ihrer Mitte) zu prüfen (1. Joh. 4, 1) wird sie nicht unterlassen dürfen, weil mehr als Mitwirkung an ihrem Dienst und nun gerade an ihrem prophetischen Dienst, keines Einzelnen Sache sein kann, weil es ihr Auftrag ist und bleibt, die Trägerin jenes an einem dunklen Ort scheinenden Lichtes zu sein.
Quelle: Karl Barth, Kirchliche Dogmatik, Bd. III,4 (Zollikon-Zürich 1951), Seiten 583-590.