Es ist Martin Luther, der landeskirchlich verordneten Gottesdienstagenden widersprochen hat:
„Es scheint mir nicht notwendig zu sein, dass man allzu besorgt ist, gottesdienstliche Formen einzurichten und in Übereinstimmung zu bringen, gleichsam durch ein ewig geltendes Gesetz festzulegen. Aber das Eine muß getan werden, dass das Wort rein und reichlich gelehrt wird, daß gelehrte und geeignete Diener des Wortes ordiniert werden, die sich zuerst darum bemühen, daß sie ein Herz und eine Seele (Apg. 4,32) im Herrn sind. […] Ich kann nicht diesen Rat erteilen, dass an jedem Ort und überall Einheitlichkeit der gottesdienstlichen Formen bestehen soll, sondern wo die offensichtlich gottlosen und albernen gottesdienstlichen Formen abgeschafft worden sind, sollen unterschiedliche geduldet werden, so dass, wenn irgendwo einige aufgehört haben, sie nicht wiederhergestellt und, wenn sie geblieben sind, nicht aufgegeben werden.
Hier der entsprechende Brief Luthers an Georg von Anhalt:
Die Bedeutung der gottesdienstlichen Formen
Von Martin Luther
Luther schrieb diesen Brief (WA Br 11, 132-134) auf Anfrage an den Fürsten Georg von Anhalt (1530-1553), der als regierender Fürst zugleich ein evangelisches Predigtamt übernahm. Er führte in dem Dessauer Herrschaftsgebiet der Anhaltiner von 1530 bis 1532 die Reformation ein, die der Kurfürst Joachim I. von Brandenburg, der Erzbischof Albrecht von Mainz und der Herzog Georg von Sachsen als Vormünder verhindert hatten. Georg wirkte seit 1539 an der Reformation im Kurfürstentum Brandenburg mit. 1544 wurde er außerdem geistlicher Koadjutor des Administrators für das Bistum Merseburg, was ihm ein neues Betätigungsfeld für die evangelische Bewegung brachte. Aus der damit verbundenen Umgestaltung der Kirche erwuchs seine Anfrage über die gottesdienstlichen Formen an Luther.
Gnade und Frieden im Herrn!
Doktor Augustin Schurf[1] hat mich auf das fleißigste aufgefordert, an Dich, erhabener, durchlauchtester Fürst, einen Brief über die gottesdienstlichen Formen zu schreiben. Und ich bekenne, daß ich auch den notwendigen gottesdienstlichen Formen nicht gewogen bin, den nicht notwendigen aber bin ich feindlich. Es hat mich beunruhigt und beunruhigt mich noch nicht nur die Erfahrung, die man in der Papstkirche gemacht hat, sondern auch das Vorbild der Alten Kirche.[2] Denn es geschieht leicht, daß die gottesdienstlichen Formen sich zu Gesetzen emporschwingen. Nachdem aber die Gesetze erstellt worden sind, werden sie bald zu Fangstricken für die Gewissen. Und schließlich wird die reine Lehre verdunkelt und verschüttet, zumal wenn die Nachfolgenden ohne Feuer und ungelehrt [133] sind, die sich mehr über die gottesdienstlichen Formen als über das Abtöten der fleischlichen Gesinnung streiten – wie auch wir sehen, daß uns Lebenden und [133] Beobachtenden Parteiungen und Streitigkeiten widerfahren bis ein jeder seiner eigenen Meinung folgt. Kurzum: Die Verachtung des Wortes unsrerseits und die Gotteslästerung der Gegenseite scheinen mir jene Zeit vorherzusagen, die Johannes der Täufer seinen Zuhörern vorhergesagt hat, nämlich (Matth. 3,10): „Die Axt ist an die Wurzel des Baumes gelegt …“ Da folglich überhaupt das Ende bevorsteht, wenigstens dieser „glücklichen“ Zeit, scheint es mir nicht notwendig zu sein, daß man allzu besorgt ist, gottesdienstliche Formen einzurichten und in Übereinstimmung zu bringen, gleichsam durch ein ewig geltendes Gesetz festzulegen. Aber das Eine muß getan werden, daß das Wort rein und reichlich gelehrt wird, daß gelehrte und geeignete Diener des Wortes ordiniert werden, die sich zuerst darum bemühen, daß sie ein Herz und eine Seele (Apg. 4,32) im Herrn sind. Mit dieser Einmütigkeit geschieht es allerdings, daß die gottesdienstlichen Formen leicht übereinstimmen oder geduldet werden, ohne jene wird es kein Ende und keine Grenze für das Streiten über die gottesdienstlichen Formen geben. Denn die Nachfolgenden werden sich eben über die Autorität erheben, die wir geltend machen. Und so wird das Fleisch gegen das Fleisch kämpfen, wie es die verderbte Natur mit sich bringt. Daher kann ich nicht diesen Rat erteilen, daß an jedem Ort und überall Einheitlichkeit der gottesdienstlichen Formen bestehen soll, sondern wo die offensichtlich gottlosen und albernen gottesdienstlichen Formen abgeschafft worden sind, sollen unterschiedliche geduldet werden, so daß, wenn irgendwo einige aufgehört haben, sie nicht wiederhergestellt und, wenn sie geblieben sind, nicht aufgegeben werden. So beschaffen ist die Frage nach den mit der üblichen Stellung errichteten Altären[3], ebenso der Heiligen[4] bzw. alltäglichen Bekleidung der Prediger und ähnlichem. Denn wenn das Herz und die Seele im Herrn eins sind, erträgt leicht der eine des anderen Formlosigkeit in dieser Sache. Es kommt hinzu, wenn es keinen Eifer für die Einmütigkeit in Herz und Seele gibt, bewirkt jene äußere Einheit nur wenig und wird bei den Nachfolgern auch nicht lange dauern, weil die Gottesdienste Ort und Zeit, die Personen Zufällen unterworfen sind, in denen das Reich Gottes nicht besteht, weil sie von Natur aus veränderlich sind. Welche gottesdienstlichen Formen es auch immer geben wird, das muß verhütet werden, daß sie in notwendige Gesetze verwandelt werden. Deshalb erscheint es mir wünschenswert, [134]daß – wie der Lehrer oder der Hausvater ohne Gesetze leiten, sondern nur mittels ihrer Aufsicht Verfehlungen in der Schule bzw. zu Hause entsprechend dem Gesetz Gottes zurechtweisen, wo ihnen scheint, daß die Ordnung verlassen wird – auch in der Kirche durch gegenwärtige Aufsicht mehr als durch überwundene Gesetze geleitet wird. Denn wo die Aufsicht des Familienvaters fehlt, dort fehlt es auch an Familienordnung. So lauten die Sprichwörter: „Die Augen des Herrn mästen das Pferd.“ und „Die Fußspuren des Herrn düngen den Acker.“ Deshalb liegt die ganze Kraft in geeigneten und – wie Christus sagt (Luk. 12,42) – klugen und treuen Personen. Wenn wir nicht solche zur Leitung der Kirche herbeiziehen, wird ohne solche Personen die Leitung vergeblich durch Gesetze versucht. Und was besteht für eine Notwendigkeit, alles in Übereinstimmung bringen zu wollen, wenn im Papsttum eine so große Unähnlichkeit geherrscht hat, auch in jedem beliebigen Gebiet? Und was für große Unterschiede sind immer zwischen der griechischen und der lateinischen Kirche gewesen! Das ist es, warum wir auf das Errichten von Schulen drängen und am meisten auf die Reinheit und die Übereinstimmung der Lehre, die das Herz und die Seele im Herrn einigt. Aber wenige gibt es, die sich darum bemühen. [134] Viele sind nur Bäuche, die ihre Weide suchen, damit sie sich selbst ernähren. Daher ist mir nicht nur einmal der Gedanke gekommen, daß es notwendig wird, die Zahl der Dorfpfarrer zu verringern und an ihrer Stelle einen einzigen Gelehrten und Treuen einzusetzen, der im Jahr einige Male die näheren Orte mit reiner Predigt und fleißiger Aufsicht besucht, während in der Zwischenzeit das Volk zu seiner Mutterkirche zu den Sakramenten geht, bzw. diese den Kranken von Diakonen gebracht werden. So werden die Sache und die Zeit vieles lehren, dem durch Gesetz nicht zuvorgekommen und was nicht vorher bestimmt werden kann.
Deine Hoheit hat damit kurz auf dieses Mal, was ich denke. Der Herr aber leite durch seinen Heiligen Geist, „ohne dessen Macht nichts im Menschen ist und nichts ihm unschädlich ist“[5]. Deine Hoheit auf den Weg des Heils und des Friedens zum Lob und zur Ehre Gottes. Amen.
10. Juli 1545.
Deiner Hoheit ergebener
Martinus Luther, Doktor
Quelle: Martin Luther Taschenausgabe. Auswahl in fünf Bänden, hg. v. Horst Beintker, Helmar Junghans und Hubert Kirchner, Band 3: Sakramente, Gottesdienst, Gemeindeordnung, bearbeitet von Helmar Junghans, Berlin 1981, 132-134.
[1] Augustin Schürf (1495-1548) war in Wittenberg Medizinprofessor.
[2] In der mittelalterlichen Kirche nahmen sie einen ungebührlichen Raum ein. in der Alten Kirche spielten sie kaum eine Rolle.
[3] Ob der Altar, wie es im Mittelalter verbreitet war, eine Rückwand haben dürfe oder mehr die Form eines Tisches haben sollte, so daß der Geistliche hinter ihm stehen und sich immer der Gemeinde zuwenden kann.
[4] Liturgische Gewänder, die nur im Gottesdienst getragen werden.
[5] Luther zitiert aus dem nun dem englischen Erzbischof Stephan Langton (1207-1228) zugeschriebenen Lied ,,Veni, sancte spiritus, et emitte coelitus“ in der Übersetzung von Martin Moller (1547-1606) lautet diese Stelle: „Ohn dein Beistand, Hilf und Gunst ist all unser Tun und Kunst vor Gott ganz und gar umsonst“ (Evangelisches Kirchen-Gesangbuch, Nr. 101, 4).