Rudolf Bohren, Die Hauskirche Johann Christoph Blumhardts. Anmerkungen zur seelsorgerlichen Funktion des Hauses: „Die Seelsorge Blumhardts ist die Seelsorge eines Gastfreundes. Der Seelsorger ist Gastgeber, Hausherr und Diakonos zugleich, auch wenn er nicht eigenhändig am Tische dient. Er ist ein Aufnehmender: Sein Haus ist offen, sein Tisch gedeckt. Sofort wird die Kranke ins Privatge­mach der Familie gebettet.“

Die Hauskirche Johann Christoph Blumhardts. Anmerkungen zur seelsorgerlichen Funktion des Hauses

Von Rudolf Bohren

Wir sind genötigt, die Funktion des Hauses in der Seelsorge und im Gemeindeaufbau neu zu durchdenken. Wir suchen dieser Frage am Beispiel der Seelsorge Blumhardts nachzugehen und stützen uns dabei vornehmlich auf die Schrift „Krankheit und Heilung“, die den Leidens­weg einer kranken Pfarrfrau und ihre Begegnung mit Blumhardt schildert, die erstmals 1853 erfolgte.

„Einheit von Menschlichkeit und Heiligkeit“

Blumhardt hatte Bad Boll gekauft, weil sein Pfarrhaus in Möttlingen all die bei ihm Hilfe und Heilung Suchenden nicht mehr zu fassen vermochte. Dem Seelsorger war der Raum in Mött­lingen zu eng geworden. Der Andrang zu seiner Seelsorge erforderte eine größere Häuslich­keit. Es gehört zum Stil des Hauses, dass von Ankommenden nicht viel Aufhebens gemacht wird. Man muss den Eingang suchen, zuerst nach Blumhardt fragen, bis „die liebe Frau Pfar­rer“ ein Kind schickt: „Geh, sag’s dem Papa“.

Es ist hier nicht der Ort, die Seelsorge Blumhardts an der Kranken weiter zu verfolgen, es sei hier nur die Häuslichkeit geschildert, in der Blumhardt am Werk ist, eine Häuslichkeit, die echt biedermeierlich uns zuerst beim Kaffee vorgeführt wird: 60 bis 70 Personen sitzen an zwei langen Tafeln im Speisesaal, Blumhardt spricht das Tischgebet, man plaudert ungezwun­gen, bis Gesang und kurzes Dankgebet das Mahl schließen.

„Ein frischer, fröhlicher Geist, ein Geist, von dem man den lebhaftesten Eindruck bekommt, was es ist um den Frieden Gottes, …weht in diesem Hause und durchzieht gleichmäßig das Äußerliche wie das Innerliche, geht durch das Kleinste und Größte; eine Atmosphäre, die auf die Seele wirkt, wie frische Bergesluft auf den Leib.“

„Das Herz geht einem auf und wird einem weit in diesem Haus, wo man das Christentum Fleisch geworden sieht, wie nicht leicht sonst irgendwo. Es ist nicht mehr diese Scheidewand, die man sonst immer aufrecht erhalten muss, zwischen Profanem und Heiligem. Und doch ist weder das Heilige ins Profane herabgezogen, noch das natürlich Menschliche um sein Recht gebracht. Alles Heilige ist so menschlich, und alles menschliche so verklärt und das alles ohne Zwang, so ganz natürlich, dass man, so lange man mitten drin lebt, meint, es könne ja eigent­lich gar nicht anders sein, und nicht begreift, warum es nicht in allen anderen Christenhäusern auch so sei.“

Diese Einheit von Menschlichkeit und Heiligkeit wird an einem Beispiel charakterisiert: „Eines Abends war eine Frau mit einem vierjährigen Töchterlein zugegen. Sie saß oben in der Nähe Blumhardts und das Kind just hinter der Säule. Blumhardt hatte sich eben die Bibel bringen lassen nach dem Essen und wir warteten auf die Vorlesung der Abendlektion. Auf einmal, als alles still war, hört man plötzlich Blumhardts Stimme. „Guguk! Guguk!! Und so scherzte er eine Weile mit dem Kinde und brach dann ab, indem er sagte: „So, jetzt sei hübsch brav und still. Wir stehen bei der zweiten Hälfte des zweiten Kapitels im Epheserbrief.“, welche er nun vorlas. Und ich bin gewiss, dass gleich mir niemand auch nur um mindesten durch diese Naivität sich gestört oder unangenehm berührt gefühlt hätte.

Das Haus des Seelsorgers

Das Haus des Seelsorgers hat prägende Kraft, wird zum Prototyp und Vorbild aller anderen Christenhäuser. Der Besucher hat offenbar den Eindruck, hier ein Haus zu betreten, das Modellcharakter hat. Bad Boll ist wohl Ausnahme, aber es sollte Regel sein! – Es fasziniert, erscheint nachahmenswert, nicht nur als Beispiel für die Pfarrhäuser, sondern für alle anderen Häuser überhaupt. Man begreift nicht, „warum es nicht in allen andern Christenhäusern auch so sei“.

Seelsorgerliche Gastfreundschaft

Die Seelsorge Blumhardts ist die Seelsorge eines Gastfreundes. Der Seelsorger ist Gastgeber, Hausherr und Diakonos zugleich, auch wenn er nicht eigenhändig am Tische dient. Er ist ein Aufnehmender: Sein Haus ist offen, sein Tisch gedeckt. Sofort wird die Kranke ins Privatge­mach der Familie gebettet. Sofort wird sie aufgenommen in das Wohnen des Seelsorgers, bekommt sie teil an der Intimsphäre der Familie. Allein die Aufnahme muss vorher gesucht werden. Man findet den Eingang nicht ohne weiteres. Der Seelsorger wird aufgesucht, die Ankommenden werden ihm gemeldet. Distanz und Intimität bleiben gleichermaßen gewahrt.

Solange der Seelsorger in einem Haus wohnt, wird er zu beachten haben, dass Seelsorge in seinem Haus notwendigerweise immer wieder gastfreundliche Seelsorge sein wird, vorläufige Heimat bietend in der Gleichzeitigkeit von Distanz und Intimität.

Blumhardts Seelsorge ist zunächst Seelsorge am gedeckten Tisch, sie wird in seinem Zimmer oder im Zimmer der Kranken eine Fortsetzung unter vier Augen finden. Aber sie hebt Kaffee trinkend an. Hier ist der Hausherr anwesend, ist für die Gäste da. Am gedeckten Tisch wird leibliches und geistliches Wohl aufgeteilt, Leib und Seele werden gelabt. Am Tisch des Seel­sorgers finden sich vier Wesensmerkmale der Kirche. Diakonia, Koinonia, Liturgie und Kerygma. Wer das Haus Blumhardts betritt, nimmt teil an diesem Vierfachen, er ist Glied seiner Hauskirche. Wer sich an den Tisch des Hauses setzt, nimmt teil am Gottesdienst.

Wenn Seelsorge zur Menschlichkeit, zum Menschsein befreien will, dann wird sie immer wieder Aufforderung zum Tisch sein, Einladung zum Mahl. Einer überfrommen Dame, die nicht mehr essen will, kann er gebieterisch erklären. „Das erste Gebot der Bibel heißt: Iss“.

Aus der Gemeinschaft des Essens ergibt sich der Dialog, das Tischgespräch. Die Seelsorge Blumhardts hebt an als Tischgespräch, Seelsorge geschieht als Tischrede, und damit wird deutlich: Es wird für den ganzen Menschen gesorgt!

So begegnet er uns hier im freien Gespräch, er redet auch in der Konversation nicht von Extradingen, ist „voll Humors und mitunter derben Witzes“. Frömmelndes Geschwätz taucht in seiner Nähe nicht leicht auf. „Diejenigen Gespräche waren ihm allerdings die liebsten, welche sich unmittelbar auf Herzens- und Gewissensangelegenheiten und auf die großen Dinge des Reiches Gottes bezogen, aber sonst hatte er auch für alles Menschliche Interesse und fand bei allem den direkten Bezug auf Gottes Reich.“

Blumhardt hatte offenbar die Gabe des Verknüpfens, des In-Beziehung-Setzens; er bleibt im Gespräch geistesgegenwärtig und hebt das Menschliche ins Licht der „letzten Dinge“. Bei Tisch ergeht das Wort Gottes mitmenschlich, wahrhaftig menschlich, das Gespräch ist daher nach Blumhardts Meinung die beste Form der Verkündigung.

Der Tisch ist nicht nur Ort des Gesprächs, sondern auch Ort der Liturgie. Hier wird das neue Lied gesungen. Wer an Blumhardts Tisch sitzt, wird hineingenommen in das Lob, das er singt, in das Danken, mit dem er dankt; der Seelsorger ist Liturg, Vorsänger, er bringt die Menschen zum Beten und zum Singen!

Er ist ein berühmter Mann, er lässt sich die Bibel bringen, er wird bedient, und bevor er lesen will, entsteht eine erwartungsvolle Stille, in die hinein jenes unnachahmliche „Guguk! Guguk!“ tönt. Wir begegnen dem Seelsorger als einem spielenden Kind. Wer das miteinander kann, mit einem vierjährigen Töchterlein spielen und die Bibel vorlesen, der ist ein Seelsorger, der übt nicht nur Seelsorge aus, er ist Seelsorge.

Andererseits wird die „Nonchalance“ bewundert und geliebt. Denn in der Kindlichkeit ist Größe, in der „Nonchalance“ Zucht, sie ist Zeichen von „Gleichmut“, der sich schwerste familiäre Kümmernisse nicht anmerken lässt. – Wir haben hier das Idealbild eines Psycho­therapeuten vor uns, der sich nicht aufdrängt, geduldig zuhören kann, ein Mensch, den man wohl bewundert, vor dem man aber nicht Angst haben muss, der nicht imponieren will. Kurz, hier ist ein Mensch, der in der Freiheit der Kinder Gottes sich bewegt.

Charismatische Hausgemeinde

Das Haus ist nicht Einsiedelei, der Seelsorger haust nicht allein, um ihn ist Gemeinde, Haus­gemeinde. Die Großfamilie Blumhardts ist zugleich Familie, die mit ihm eine Kampfgemein­schaft bildet. Sein Haus ist Beispiel einer „Charismatischen Gemeinde“ in fünffacher Gliede­rung. Zuerst hat Blumhardt eine Gehilfin. Sie tritt nur am Rande in Erscheinung, repräsentiert aber sein Wesen, sein Haus wie niemand sonst in der „glücklichsten Vereinigung von einer Maria- und Marthaseele.“ Ihr begegnet man zuerst, wenn man das Haus des Seelsorgers betritt.

Und er, der Sohn, habe den Vater „nachgemacht“, weil er die göttlichen Gaben am Vater gesehen und sich gesagt habe, so müsse er auch werden, das müsse er festhalten, „alles, alles – hat der Papa Wunder erlebt, so will ich auch Wunder erleben! Ist’s dem Papa so ergangen, so muss es mir auch so gehen! – das musst du mir tun, lieber Heiland! Das habe ich durchgesetzt, ganz einfach weil es Gottes Gabe ist.“ Die Charismen sind nicht erblich, aber sie erscheinen vorbildlich, es gilt, nach ihnen zu eifern.

Die Hauskirche ist ein Ort, nach Charismen zu eifern, der Sohn strebt nach den Gnaden-gaben, die dem Vater zuteil wurden, und er erhält sie! Dann sind mit der Zeit 24 Enkel da. Blumhardt „sah diese Kinder als seine Leibgarde, seine Elitetruppe an.“ Der Seelsorger ist Kind unter Kindern, sie wirken inspirierend auf ihn. Er hat den Eindruck, „als ob ein Engel um die Kinder wäre“. Darum werden sie ihm zu Boten: „Ich erfahre vieles und Großes eben an den Kindern.“ Die Charismen sind nicht nur für Erwachsene: „oft haben die Kinder vor dem Herrn schon etwas persönlich Wertvolles.“ Die Kinder sind – wie die Lebensgefährtin und die erwachsenen Söhne – Gehilfen des Seelsorgers.

J. Chr. Blumhardt hat eine Lebensbeschreibung von seiner Frau hinterlassen, in der er betont, dass sie sehr hilfreich war „mit ihrer schnellen und richtigen Beurteilung von Geisteskranken und Angefochtenen, namentlich: ob wir für sie zu hoffen hatten oder nicht, was zu dem schwersten in unserer Aufgabe gehörte.“ Hier wird besonders deutlich, wie sehr der Seelsor­ger der Ergänzung bedarf. Der Seelsorger ist nicht das charismatische Universalgenie. Wer Seelsorge erfahren hat, wird zum Gehilfen des Seelsorgers.

„Es lässt sich nicht beschreiben, welche drückenden Verhältnisse durchzukämpfen waren, bis das Haus Bad Boll als ein gereinigter, christlicher Ort behaglich wurde.“ Die Kämpfe Blum­hardts haben eine reinigende Wirkung nicht nur in Bezug auf Personen, sondern auch in Be­zug auf den Ort. Man ist offenbar in seiner Umgebung der Meinung, der Geist lokalisiere sich, er wohne. Dieser wohnende Geist ist erfüllte Bitte, ist Echo des Gebets: „Im Reiche Gottes muss alles erbeten sein.“ Wer ins Haus aufgenommen wird, findet Aufnahme in den priester­lichen Dienst des Hausvaters, und diese Aufnahme verändert die Lage des Menschen, vermit­telt eine neue Menschenkenntnis. „Wer seine Schwelle betrat, für den trat er in einer Weise priesterlich ein vor Gott, dass er ihn nicht mehr anders als in dem Lichte, wie er vor Gott stehe, anschauen konnte.“

Der Anfang einer neuen Zeit

Ist der Geist des Hauses heiliger Geist, so realisiert sich in ihm die Eschatologie, eine Vor­wegnahme dessen, dass Gott sein wird alles in allem.

Zündel notiert schon für Möttlingen, „dass in dem Pfarrhausleben eine Innigkeit, eine Samm­lung, eine Weihe waltete“. In Bad Boll weht der Friede Gottes, „und durchzieht gleichmäßig das Äußerliche und das Innerliche, geht durch das Kleinste und das Größte.“ Die Scheide­wand, die der religiöse Mensch zwischen Profanem und Heiligem aufrichtet, ist durchbro­chen. Das Alltägliche ist aufgehoben im Ewigen und das Ewige herabgezogen ins Alltägliche. Zwischen dem Guguk-Spiel und dem Lesen der Schrift besteht kein Widerspruch. Blumhardt kann darum seine Gäste auch per „Du“ anreden, da er nicht unterscheiden möchte zwischen der Anrede in der Kirche und bei Tisch.

Fällt die Scheidewand zwischen profan und heilig, so kommt das wahrhaft Natürliche zum Vorschein. „Alles Heilige ist so menschlich und alles Menschliche so verklärt und das Alles ohne Zwang so ganz natürlich.“ Es öffnet sich der Raum zur Freiheit. So ist das Haus nicht nur Wohnung der Irdischen, im irdischen Haus wohnt der Himmel selber, der Geist, der an Pfingsten „das ganze Haus erfüllte“, wird hier manifest.

Kein Wunder, dass man hier den „Anfang einer neuen Zeit“ erlebte. Das Eschaton ist im Geiste da, bringt Seligkeit. Man ist eingetreten unter der Versicherung, dass alles in Ordnung gebracht werde. Man soll nicht nur, man kann ruhig sein in dieser „Atmosphäre, die auf die Seele wirkt wie frische Bergesluft auf den Leib.“

Auguste wird später in einem Brief bestätigen: „Der Friede der Ewigkeit ist ausgegossen über dieses Haus.“ Sie wünscht sich alle ihre Lieben hierher, allen Menschen möchte sie Bad Boll gönnen, „keiner ginge leer weg, keiner“! Die Schreiberin erlebt hier ein wenig die Wiederkehr des Paradieses. „Amen, Amen rauscht es leise in den Wipfeln“, schreibt die Genesende. Man atmet die Luft des Evangeliums. Darum mag das Herz aufgehen und weit werden, denn in diesem Hause sind die Räume aufgetan zum Ewigen hin. „Wir waren wie in Abrahams Schoß und glücklich, glücklich, wie ich es nie in meinem Leben geahnt hatte, dass ein Mensch auch glücklich sein könne.“

Darum fühlt man sich offenbar in Bad Boll fast wie im Himmel, Himmlisches und Irdisches wohnt hier versöhnt beieinander, die Zukunft bricht ein in die Gegenwart, und damit wird das Haus zum Ort der Heilung, zum „Healing Home“. In einem Brief vom 16. August 1853, also aus der Zeit, in der die Pfarrfrau Auguste in Boll war, äußert Blumhardt sich kritisch im Blick auf die Vorstellung von seinem Beten, Handauflegen und Beichtehören und meint, dass er „das Hauptgewicht auf Eindrücke lege, die ich durch meine Vorträge, oder durch gemein­schaftliche Unterredungen, oder durch den Geist meines Hauses überhaupt indirekt den Leu­ten beibringe, und dass ich auf Einzelgespräche in der Regel nur ein untergeordnetes Gewicht lege, weswegen es mir oft sehr lästig ist, wenn die Leute nur so daherkommen, ohne es auf einen Gottesdienst zu richten.“

Das Geheimnis der Hauskirche

Das Haus wird in seinem Geist, in seinem Wesen primär durch die Eschatologie der Wohnen­den bestimmt. Das Erwarten des kommenden Christus bestimmt das Wohnen. Das Hoffen auf Gottes Zukunft macht das Haus in aller Vorläufigkeit häuslich. Das Geheimnis jeder Hauskir­che ist das Geschenk von Zukunft. Das erwartete Reich bricht zeichenhaft, häuslich an, und das Haus des Seelsorgers bekommt ein „Dächle“, ein „Ewigkeitsdach“. Wenn die Wohnung aus Zeiträumen besteht, dann überdeckt Ewigkeit das Aus und Ein, den Wechsel und das Vor­läufige. Wer dann das Haus des Seelsorgers betritt, kommt unter das Dach des Ewigen, findet Unterschlupf in einem von Ewigkeit überwölbtem Raum: Das Haus wird damit zum Vor-Ort des Reiches Gottes, zum Vorzeichen der „Hütte Gottes bei den Menschen“ (Off. 21,3). Und das heißt: Ins irdische Wohnen scheint das himmlische Wohnen, der Vor-Ort des Reiches wird zum Platz der Hoffnung. Wer unter das Dach der Ewigkeit tritt, wer auf dem Platz der Hoffnung isst und schläft, denkt und redet, den umgibt Heil.

Wenn nach Thornton Wilder die Hoffnungslosigkeit die Ursache aller Krankheiten ist, dann muss in der Hoffnung Heilkraft liegen, dann werden heilende Kräfte von einem Hause ausge­hen, das von Ewigkeit überwölbt der Hoffnung Raum gibt. So wird das Haus zum Organ der Seelsorge, zur Werkstatt des Heils. Durch das Hoffen der Bewohner wird das Haus zur Stätte der Seelsorge. Die erste Aufgabe des Seelsorgers ist darum, in Hoffnung zu wohnen und in der Erwartung. Gastfreundschaft aber ist je und je recht als ein Akt der Hoffnung: Wer im Hoffen wohnt, wohnt in der Freiheit, in der Bereitschaft, in der Nachfolge Jesu das Haus zu verlassen. Und das Aufnehmen des Hilfebedürftigen, das Sich-stören-lassen im Privaten ist gleichsam ein Verlassen und Wiedergewinnen des Hauses am Ort. So kann das Haus zum Ort der Nachfolge werden.

Man verstehe das recht: Hoffnung ist Frucht des Geistes, also nicht machbar, wohl aber mit dem Geist verheißen. Zum Warten und Hoffen gehört darum das Bitten. Im Bitten wird die Verheißung des Geistes ernst genommen. Weil die Verheißung gilt, soll das Bitten ein bestän­diges sein. Und das heißt: Das Haus ist Ort des Gebets, in ihm gibt es das „Zimmer“, das Kämmerlein, von dem Jesus spricht (Matth. 6,6), und der ins Haus Aufgenommene wird umgeben vom Gebet. Damit wird ihm ein hoher Rang zuteil, er ist so wichtig, dass er vor Gott genannt wird. Im Gebet kommt die Hoffnung zuerst zur Sprache, es geht dem Gespräch voraus. Darum funktioniert das Haus als ein Organ der Seelsorge, insofern es Stätte des Gebetes ist. In der Erhörung des Gebets aber wird der Geist des Hauses nicht mehr von irgendeinem Dämon bestimmt sein, sondern vom Heiligen Geist selber. Man lebt geistes­gegenwärtig, und daran liegt alles für den, der die Seelsorge sucht, so gut wie für den, der sie ausübt.

Im Haus als dem Platz der Hoffnung und der Stätte des Gebets wird der Horizont weit. Wer im Warten wohnt, sieht das Gegenwärtige im Horizont des Kommenden, und wo der Blick ins Weite geht, da ruht man gerne.

Im Haus des Seelsorgers findet ein kleines Vorspiel dieses Eingehens der ganzen Erdenfülle ins Reich statt. Darum ist die Beschränkung auf das Häusliche nicht Resignation und nicht Flucht, sondern Konsequenz der Eschatologie. Das irdisch Kleine, das Häusliche wird gea­delt, wird wichtig, weil es für das himmlisch Große bestimmt ist. Das biedermeierliche Zu-Tisch-Sitzen mit dem schwäbischen Bauer und der russischen Hofdame weist hin auf das große Völkermahl Gottes in der Endzeit. Im Hause beginnt, was sich im Gottesreich unvor­stellbar vollendet. So verstanden, gewinnt das Haus weltweite Bedeutung, weil in der Häus­lichkeit anhebt, was für alle Welt kommt. Unter dem Ewigkeitsdach beginnt es zeichenhaft, dass „Gott abwischen wird alle Tränen“ (Off. 21,4). Die Frage nach der seelsorgerlichen Funktion des Hauses ist zuerst und zuletzt die, ob hier Wartende und Hoffende zuhause sind. – Die Häuser der Hoffnungslosen sind entweder verschlossen oder unhäuslich im Durcheinan­der der Geschäftigkeit. So bieten sie nicht Zuflucht und vermitteln nicht Freiheit. Wichtig sind jetzt Häuser, die für Menschen offen sind, weil sie sich dem Menschensohn geöffnet haben, Häuser, in denen Gebundene Freiheit, Belastete Erleichterung, Ruhelose Ruhe finden können. Hier ist an den Umstand des Pfingstberichts zu erinnern, dass der Geist zuerst das ganze Haus erfüllt, bevor er die Jünger erfüllt.

Blumhardt war zwar der Meinung, dass wir den Geist nicht mehr so hätten, wie die Jünger zu Pfingsten. Immerhin macht sein Haus dies deutlich: Der Geist ist da, bevor der Eintretende ihn bekommt. Das vom Heiligen Geist durchwaltete Haus wirkt darum tröstlich, es wird zum Gehilfen und Werkzeug des Parakleten – indem es Ort des Geistes ist. Der Geist braucht Raum. Wohnt im Miteinander der Wohnenden der Geist, dann wohnen die Wohnenden als charismatische Gemeinde im Glauben und im Hoffen und dann finden Suchende im Zusam­menwohnen miteinander Stärkung im Glauben und in der Liebe.

Die Kontinuität des Glaubens ist mithin ekklesiologisch und damit soziologisch zu verstehen. Hier eröffnet sich ein neuer Aspekt häuslicher Seelsorge: Im Gegensatz zu aller ambulanten Seelsorge hat die häusliche Seelsorge ganz anders die Möglichkeit, dem Angefochtenen zur Beharrung zu verhelfen.

Ursprünglich erschienen in Evangelische Theologie 21 (1961). Gekürzte Fassung aus der Zeitschrift Offensive, Nr. 1, 1994.

Hier Bohrens Text als pdf.

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