Das Schweigen der unendlichen Räume (1955)
Von Reinhold Schneider
Nacht für Nacht fechten uns die Räume an. Wir verlassen die Erde auf irgendeinem Fahrzeug der Phantasie; der Widerschein des Mondes verlischt; wir treiben im Dunkel. Bald hat es keinen Sinn mehr, nach Zeit zu fragen; denn ihr Maß, die Drehung der Erde, gilt hier nicht. Wenn noch Zeit ist, so ist sie völlig anderer Art. Wie sollen wir unser Lebensalter bestimmen? Wir wissen auch nicht, wo wir sind.[1] Denn wir wissen nicht, wo die Erde kreist. Sie ist weitergewandert um die Sonne. Und die Sonne schwingt sich um die Mitte ihres Systems und zugleich in einem Zyklus von mehr als zweihundert Millionen Jahren um die Mitte der Milchstraße, und die Milchstraße eilt mit 300 sec/km durch den Raum.
Wie sollten wir diese mit rasender Schnelle durch den Raum schießenden Spiralen errechnen? Auch läßt sich nicht sagen, ob wir sinken, steigen oder gleiten. Und doch bleiben wir gefangen in einer äußeren Spirale der Milchstraße, deren Radius 50000 Lichtjahre beträgt. Weit kommen wir nicht, selbst wenn wir uns mit Lichtgeschwindigkeit bewegen könnten.
Unsere Lebensfrist, wie wir sie auch beziffern mögen, ertrinkt im All. Das nächste System, den Andromeda-Nebel, gewahren wir, wie er vor 720000 Jahren war; so lange ist sein Licht zu uns auf dem Wege. Wo er heute steht, wissen wir nicht. Unsere Fernrohre blicken um vielleicht 500 Millionen Jahre zurück. Könnte in dieser Ferne das Bild unseres Systems aufgefangen werden, so stammte es, auf die Erdgeschichte bezogen, aus der Triasperiode, da die Saurier die Erde beherrschten. Fernste Prähistorie ist dort Gegenwart – wenn es eben einen Sinn hätte oder zulässig wäre, was wir ›Zeit‹ nennen, in ein anderes System zu übertragen. Die 1000 Millionen Milchstraßen, deren jede wohl wenigstens 100000 Millionen Sonnen vereint – ausgestreut in ungeheuren Abständen in einem Universum von 7000 oder 8000 Millionen Lichtjahren Durchmesser, dessen Alter 6 bis 8 Milliarden Jahre nach unserer Rechnung nicht überschreiten kann: das ist die Wirklichkeit, in der wir treiben.
Nichts scheint absurder, als den Menschen in irgendeine Beziehung zu ihr zu setzen. Sie ist eine ungeheuerliche Überforderung, nicht allein des menschlichen Geistes und der Vorstellungskraft, sondern der Existenz. Sie steigert sich von Augenblick zu Augenblick. Denn je weiter die Milchstraßen von uns entfernt sind, um so rascher scheinen sie zu fliehen; das Licht fliegt ihnen voraus, der Raum expandiert mit Lichtgeschwindigkeit.
Wenn der Feuerschein unserer Versuche in Nevada oder im Pazifik die uns noch sichtbaren Fernen erreicht, so ist, nach allem Ermessen, das Feuer der Geschichte auf Erden ausgebrannt; von den heute gebietenden Mächten ist dann nicht mehr der Schatten eines Namens; die Signale unserer Tragödie irren weiter, wenn Schauplatz und Spieler längst nicht mehr sind. Nach 200 Milliarden Jahren kehrt im gegenwärtigen, schwerlich endgültigen Bild der unendlich-endlichen Welt ein Lichtstrahl an seinen Ausgangspunkt zurück. Wen werden nach dieser Zeit unsere Flammenzeichen suchen und antreffen? Vor unseren Augen wird unser geschichtliches Dasein aufgezehrt von den Dimensionen, denen wir nicht gewachsen sind. (Wenden wir uns an den Mikrokosmos, so sind wir kaum weniger ratlos.) Die Dimensionen drohen uns zu vernichten. Das ist keineswegs allein im materiellen, räumlich-zeitlichen Sinne gemeint.
Neigendes, steigendes Leben,
Riesenhaft fühle ichs weben,
Welches das meine verdrängt.
Hebbel hat in diesen Versen das Drängen und Geschehen in den Räumen als Leben empfunden, wie es die Denker von Milet aufgefaßt haben – aber als feindliches; wenn die Wissenschaft von einem pulsierenden, sich nach dem Massengehalte ausdehnenden oder wieder zusammenziehenden Raum spricht, oder, den antiken Philosophen wieder begegnend, vom ›Leben‹ eines Sternes, so ist sie dieser Auffassung nah. Aber das ist doch eine fragwürdige Vermenschlichung. Wer, der sich den kosmischen Perspektiven wirklich stellt, sollte sich nicht bedroht, vernichtet fühlen! Pascal, der den Schauder der um uns aufgebrochenen Räume als moderner Mensch empfand, behauptete sich in der Selbstgewißheit des Geistes.
Der Mensch erhebt sich im Antlitz der Abgründe und Welteninseln, indem er denkend das ›All zusammenfaßt‹. Er bleibt Herrscher, denn er ist übergeordneten Ursprungs. Aber er lebt nicht im Geiste allein, nicht einmal wesentlich. Die Erosion unserer Existenz währt fort. Welche Erkenntnis ist sicher, ist nicht Übergang? Sicherlich gehören die Entdeckungen und die Weitsicht unseres Jahrhunderts zu den großen Leistungen der Menschheit (wahrscheinlich sind sie die entscheidenden unserer Epoche). Aber wer will die grundlegenden Einsichten von den nicht haltbaren abgrenzen? Und ist die Methode unserer Forschung unangreifbar? Wir wissen auch heute nichts vom Bau des Atoms, sondern nur von seinem Verhalten gegenüber unseren Versuchen. Ebenso gewiß wie die Wissenschaft auf einer schmalen oder breiteren Kontinuität fortarbeitet (gewissermaßen auf der Keimbahn gegenüber der Produktion der Körper, dem Soma): so gewiß ist es auch, daß die Weltbilder in einem tiefen Zusammenhang mit ihrer geschichtlichen Epoche stehen und daß die Menschheit am Grunde eines jeden ihr eigenes Gesicht erblickt. Forschung und geschichtlicher Ablauf, Machtkämpfe und Technisierung steigern sich gegenseitig und müssen mit dem Wirtschaftlichen als ein Ganzes gesehen werden. Alle Forschung, auch der Abschuß scheinbar harmloser Satelliten, stürzt in das Kraftfeld der Macht. Die Waffe ist Magnet; ein jeder Gedanke, eine jede Entdeckung fällt ihr anheim; jedes Experiment wird in die Beziehung zu ihr transportiert. Das ist das Gefälle der Welt. Für die ungeheuren Gefahren, die der Geist heraufruft, entschädigen sich die Mächte und Mächtigen, indem sie ihn nutzbar machen und in Ketten an den Staatswagen schließen. Die Relativitätstheorie in ihrem unheimlichen, ungewollten Zusammenhang mit der modernen Form der Macht (allein schon durch die Gleichung zwischen Energie und Masse) ist gewiß in demselben Grade von historischer Bedeutung wie das Weltbild Newtons in seiner tiefen Beziehung zur Philosophie Kants, zu der das achtzehnte und neunzehnte Jahrhundert bestimmenden Auffassung von Staat und Mensch. Vielleicht haben Einstein und andere führende Physiker unserer Zeit mehr von der Situation der Menschheit gesagt als Künstler und Philosophen. Die Frage an den Weltraum ist geschichtsbestimmend geworden, wie sie es vielleicht noch niemals gewesen ist. Forscher und Forschung sind unsere Sprecher, und zwar aus ihrer geschichtlichen Existenz; das ist ihr Ruhm und ihr Fluch. Alle Entdeckungen konnten allein im Kraftfeld der Geschichte gemacht werden; sie fallen mit der ganzen Wirkkraft der Genialität in dieses Kraftfeld zurück. Von den unendlichen Räumen geht, da der Mensch ihnen schutzlos gegenübersteht, Geschichte aus – aber sie selber scheinen der Geschichte nicht erreichbar zu sein. Anteillos geben sie deren Zeichen weiter ins Nirgendwo.
Nun hat Einstein nachdrücklich ein religiöses, ja mystisches Element seiner Wissenschaft postuliert; sie ist die erkennende Verehrung ›höherer Denkkraft‹; in einem 1930 veröffentlichten Aufsatz zitierte er zustimmend die Meinung eines Zeitgenossen, daß in unserer im allgemeinen materialistisch eingestellten Zeit die ernsthaften Forscher die einzig tief religiösen Menschen seien. Lenin empfand ihn und seine Lehre denn auch als gegnerisch; schon bald nachdem er zur Macht gekommen war, forderte er seine Propagandisten auf, die Wirkung Einsteins zu überwachen. Einstein kann nicht glauben, daß ›Gott Würfel spielt‹. Gott ist die regierende Denkkraft, das allumfassende Weltgesetz, nicht mach dem Bilde des Menschen gedachte Aber ›wer von der kausalen Gesetzmäßigkeit allen Geschehens durchdrungen ist, für den ist die Idee eines Wesens, welches in den Gang des Weltgeschehens eingreift, ganz unmöglich‹.[2] Und, zehn Jahre später, noch schärfer: ›Die wesentlichste Ursache unserer heutigen Konflikte zwischen der Religion und der Naturwissenschaft liegt in dem Begriff eines persönlichen Gottes.‹[3] Weder ein menschlicher noch ein göttlicher Wille kann ›als unabhängige Ursache von Naturereignissen anerkannt werden‹. Das Naturgesetz ist kein Würfelspiel. Gott ist nicht Person. Wie sollte es der Mensch sein! Es ist verständlich, daß Einstein mit Ehrfurcht und Liebe von buddhistischen Schriften und von Schopenhauer spricht.
Diese Sätze wurden nicht aufgegriffen, um gegen sie zu polemisieren; ganz im Gegenteil, sie bekennen überzeugend eine kosmische Religion, echte Frömmigkeit. Wir machen uns, vielleicht gerade als Christen, nicht genügend klar, welche Dimensionen der moderne Forscher aushalten muß; – unter welchem Druck der Räume er lebt; der Abstand zwischen dem wissenschaftlichen Weltbild und dem Lebensbewußtsein der Menschen und Völker konnte zur Zeit des Kopernikus und Cusanus kaum größer sein als heute; die Ergebnisse der Forschung sind nur auf unzulängliche Weise zum Daseinsinhalt geworden. Sie werden im täglichen Leben nicht realisiert. Wir schützen uns ab: um so besser können wir in der Tragödie irdischer Verhängnisse spielen. – Vertreter der jüngeren Generation haben, im Gegensatz zu Einstein, im Zuge der Atomforschung die Unbestimmbarkeit mikrokosmischen Geschehens, einen Anschein der Freiheit anerkannt: es hat keinen Sinn, nach Kausalität zu fragen, wenn es unmöglich ist, einen gewissen Tatbestand zu erforschen, ohne ihn zu verändern; denn das Kausalitätsgesetz sagt Künftiges voraus auf Grund vollständiger Kenntnis der Gegebenheiten und der auf sie geschehenden Einwirkung. Allerdings hat Niels Bohr, der Meister dieser Forschung, es offengelassen, ob man den von ihm geprägten Begriff der Komplementarität auf Freiheit und Notwendigkeit anwenden mag oder nicht: das heißt, ob dasselbe Phänomen unter einer bestimmten Fragestellung in der Perspektive der Freiheit, unter einer andern in der Perspektive der Notwendigkeit erscheint, so wie das Licht bei wechselnden Experimenten als Korpuskel oder Welle angesehen werden muß. Freiheit und Notwendigkeit könnten also als Erscheinungen desselben nicht bestimmbaren Phänomens angesehen werden (wie es in der griechischen Tragödie geschieht). Die Person wäre möglich – aber in welchen Räumen!
Und doch ist hier auch eine christliche Hoffnung. Im Mikrokosmos wie in dem von Einstein gesichteten begrenzt-unbegrenzbaren Makrokosmos sind gewisse religiöse Möglichkeiten aufgegangen. Wo die unübertretbare Grenze ist – jenseits der Lichtgeschwindigkeit –, ist nicht erfahrbar; der Raum fließt in sich selbst zurück; wo Künftiges nicht determiniert ist, gar nicht determiniert werden kann, findet der Glaube vielleicht einen Standort. Und es ist vielleicht die größte geschichtliche Tat Pius XII. gewesen – und eine große der Seelsorge daß er sich in seiner Ansprache über das moderne astronomische Weltbild zu den unvorstellbaren Dimensionen des Raumes und der Zeit, zu der unfaßbaren Vielheit der Welten bekannte. Der Nachfolger Urbans VIII., unter dessen Pontifikat Galilei verurteilt wurde; der es verbot, dem einst von ihm bewunderten Mann ein Grabmal zu setzen: der Nachfolger Urbans beugte sich, hundert Jahre nachdem die Schriften Galileis aus dem Index gestrichen worden waren, vor einem das bisherige christliche Geschichtsbewußtsein sprengenden Weltbild. Er tat es in felsenfestem Glauben an Anfang und Ende, den Schöpfungsakt und das Ziel – das freilich eine al len bisherigen Vorstellungen und Lehren der repräsentativen Kirche entfliehende Weltbahn abschließen wird. Es erschien als religiöser Triumph, daß das All in seiner Unvorstellbarkeit nicht mehr ›alles‹ ist.
Hat die Christenheit diese Wendung mit vollzogen?
Oder wird sie es sich in diesem Kosmos schon bald zu leicht machen? Liegt nicht eine Gefahr darin, ihn verstehen zu wollen, auf unsere Vorstellung von Gott abzustimmen? – auch auf eine mächtig gesteigerte? Wer will behaupten, daß die Menschheit in einigen hundert Jahren nicht wieder an die Unendlichkeit des Raumes, der Zeit, der Materie glauben wird wie die Weisen des Ostens, die Vorsokratiker und Stoiker, der Kardinal Cusanus und der Ketzer Giordano? Galilei hatte recht gegen seine Zeit, aber doch keineswegs in dem von ihm gemeinten Sinne und unter Berufung auf im wesentlichen unhaltbare Beweisführungen; die Sonne steht nicht fest; sie führt vielfache Bewegungen aus; vom Monde gesehen steht die Erde. Ein jedes System kann als ruhende Mitte angesehen werden.
Wachsendem Wissen breitet sich wachsendes Nichtwissen entgegen. ›Je tiefer wir den Dingen auf den Grund gehen, desto besser lernen wir ihr Verhalten kennen, aber desto weiter entfernen wir uns von ihrem Wesen‹ (Hildesheimer). Wir beobachten und beschreiben. Wir erkennen nicht. Und das Christentum, das wir doch in gewissem Grade zu verstehen glauben, wird um so unfaßbarer, je weiter wir uns von der Erde entfernen. Was ist unwahrscheinlicher, als daß unsere Sonne als einzige unter Trillionen ein Planetensystem beherrscht? Was wissen wir von der Geschichte unseres Planetensystems? Keine Theorie seiner Entstehung ist gesichert. (Wieviel weniger eine Kosmogonie!) Wir können die wirkenden Ursachen der Erdgeschichte nicht hinreichend durchdringen; schon unsere nächste Vergangenheit, die Eiszeit, bleibt rätselhaft – und wie sollen wir als Christen die ungeheure Tragödie der Tierwelt, den Untergang der Saurier, das mysteriöse Ende der Mammuts, die Greuel der Tiefsee, die unsagbaren Entbehrungen und Schrecken, durch die sich der Mensch in den Eiszeiten emporgekämpft und emporgelitten hat, ohne Beschwernis dem Vater der Liebe unterstellen! Wir haben keine anerkannte Theorie der Entstehung des Mondes. Und wer entsiegelt die Zeichen der schweigenden Räume? ›Mag auch der nächtliche Sternenhimmel‹, schrieb Pascual Jordan, ›unserer Kurzlebigkeit als ein Sinnbild erhabener ewiger Ruhe erscheinen – in Wahrheit ist er der Schauplatz unerhörter Geschehnisse, Schauplatz des großen Dramas der Weltschöpfung, das sich unserem staunenden Blick allmählich zu enthüllen beginnt.‹ Die Schöpfung ist das schreckliche Wort des Gottes, der größer ist als unser Herz. Christus aber ist das fleischgewordene Wort Gottes an die Geschichtswelt der Erde. Wo ist der Einklang des Schrecklichen und der Liebe? Er ist da. Aber in welcher Dimension? Auf Golgatha erzeigte er sich: Gott in Gott von Gott geopfert und sich opfernd bis zur letzten Frage.
Der Kosmos ist Wort eines außerdimensionalen Gottes. Das heißt: ein jedes Ding ›bedeutet‹, aber die Bedeutung weist ins Dunkle. ›Die Natur‹ sagte Viktor von Weizsäcker,[4] ›ist nicht Geist, aber sie hat Geist, sie zeigt ihn in der Fülle ihrer Formens Doch – sprechen wir eine einzige Silbe nach, gar als Christen ? Auf dem Gleichnis des Kosmos liegen Schatten einer Wesenheit, vor der unser Geist versagt, unser Herz erstarrt. Auch das den Kosmos zusammenfassende Denken Pascals (welche Anmaßung der Größe!) schützt nicht; es bleibt immer fragwürdig, und endlich kommt es auf das Fühlen an, auf die empfindungsmäßige Existenz. Das Wort ›Am Anfang‹ gilt nur von unserer Welt (im weitesten Sinne). Gott aber ist anfanglos – die 6 oder 8 Milliarden Jahre unseres Alls sind nur, was sie mit Bezug auf ihn bedeuten, aber nichts als Zeit. Gott als der Schaffende war unendliche ›Zeit‹ vor diesen Räumen und wird nach ihnen sein, in der Folge von Welt auf Welt, in saecula saeculorum. Wenigstens zu den ›Weltjahren‹ des Origenes sollten wir zurückfinden; wenigstens zum Nachdenken über die Frage, ob der Abfall wieder möglich ist, wenn die Zyklen der Schöpfung durchlaufen sind. Origenes verwarf diese These; aber er hielt ihre philosophische Erörterung für erlaubt.[5] Dostojewskij hat es vermocht, seinen christlichen Glauben mit der ewigen Wiederkehr zu vereinen; er spricht von ihr, unberührt von Nietzsche, mit radikaler Bestimmtheit. Christus ist die Mitte unendlichen Kreisens. Das Drama ohne Ende, nicht als materiell-geschichtliches Geschehen, aber als Aussage des Unfaßbaren: ob diese Rede der Gottheit durch die Räume weht? Alles ist einmal, aber nicht im materiellen Sinn, vielmehr im Gehalt des Geschehens immer wieder, Bild des in sich selber ruhenden kreisenden Feuers.
Wo die beiden Worte, der Kosmos und das Wort im Fleisch, aufeinanderstoßen, ist der Schauplatz eines zerstörenden Kampfes. Wir können die Ankündigungen des Weitendes in den Evangelien, den Apostelbriefen, der Apokalypse als eine Katastrophe des Milchstraßensystems oder einer von größerem oder geringerem Radius begrenzten Gruppe der Milchstraße verstehen: auch dann bleiben die Vorgänge von unvorstellbarer Wucht, ausgehend von göttlichem Willen, nicht von Menschenwerk. Aber wir verrücken das Wort nicht, daß in Christus alles geschaffen ist; daß er das Haupt ist des Weltalls und daß in ihm alles erneuert wird: die Materie selbst. In den Abgründen des Weltalls müßten wir, statt unseres eigenen verwirrten Gesichts, das Antlitz Jesu Christi erkennen. Es geht nicht darum, daß die Wissenschaft den Glauben aufheben könnte oder müßte, nicht um den Konflikt zwischen Glauben und Wissen. Der Glaube ist Tatsache des Innern. Es geht um die Auseinandersetzung mit einer nicht ablehnbaren Wirklichkeit, mit Geschaffenem. Die wissenschaftliche Theorie von Anfang und Ende kann außer der Diskussion bleiben. Aber auch theologische und philosophische Spekulationen helfen uns nicht.
Uns bleibt nur das Gebet. Wir müssen uns in den Räumen verlieren und Christus anrufen, den Herrn der übergeschichtlichen, außergeschichtlichen Dimensionen – die Wirklichkeit über den unendlich vielen Geometrien, die wir heute für möglich halten. Es kann wohl sein, daß wir ohne Antwort bleiben. Aber in den letzten Jahrhunderten sind so gewaltige Veränderungen geschehen, daß wir uns, unser Lebensgefühl in den Arsenalen der Geschichte nicht mehr gefangengeben dürfen. Sicher wird hier über unser Dasein entschieden, aber nicht über unsere geistige Existenz. Gelingt es uns als Christen nicht, uns in den unendlichen Räumen zu beheimaten – so verfehlen wir die Ära, aber auch die Kontinuität europäischen Fragens und Denkens seit Milet, Kroton und Elea. Und das ist nur eine Frage des Betens oder Betenwollens, des Ausharrens in den tausend Augen der Finsternis.
Wie sollten wir erwarten, daß eine Generation oder einige wenige Generationen eine Antwort finden? Wir haben uns ja lange genug gewehrt gegen die Tatsache, daß die Vorhänge gefallen, die bebilderten Schleier vor den Tiefen zerrissen sind. Oder glauben wir etwa, daß es Aspekte der Welt gibt, auf die das Christentum keine Antwort hat? Das ist das einzige, das nicht geschehen dürfte. Und es ist besser, zu sterben mit einer brennenden Frage auf dem Herzen, als mit einem nicht mehr ganz ehrlichen Glauben: besser in der Agonie als in der Narkose. Die Hoffnung bleibt, daß die Menschheit einmal Christus wandeln sehen wird durch die Räume, wie ihn Petrus sah auf dem Meere. Ist es ein ›Gespenst‹, ein Widerschein der Erde? Ist es der Herr? Fast so groß wie diese Hoffnung ist die Gefahr, daß wir aufschreiend versinken in den unendlichen Räumen.
Quelle: Reinhold Schneider, Der Wahrheit Stimme will ich sein. Essays, Erzählungen, Gedichte, hrsg. v. Carsten Peter Thiede und Karl-Josef Kuschel, Frankfurt a.M.: Insel, 2003, S. 273-282.
[1] Arnold Hildesheimer: Die Welt der ungewohnten Dimensionen. Leiden 1953. Einzelheiten von Werner Heisenberg.
[2] A. Einstein: Mein Weltbild. Zürich 1933.
[3] Philipp Frank: Einstein. München 1949.
[4] Viktor von Weizsäcker: Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde. 1954.
[5] Urs von Balthasar: Origines. Geist und Feuer. Salzburg 1938.