Als grundlegende Tugend für das menschliche Zusammenleben gilt in der chinesischen Kultur die Kindespietät bzw. Ehrfurcht gegenüber den Eltern (xiao). Diese Kind-Elternbeziehung präfiguriert alle sozialen und politischen Beziehungen. Klassisch ist diese Tugend in Xiaojing, einem anonymen konfuzianischen Text aus der späteren Han-Dynastie, vorgestellt. Von Richard Wilhelm (1873-1930), ehemals Chinamissionar und Schwiegersohn Christoph Blumhardts, stammt die folgende Übersetzung, die sein Sohn Hellmut 1940 in Beijing veröffentlicht hatte. In Martin Luthers Auslegung zum vierten Gebot aus seinem Großen Katechismus finden sich ähnliche Mahnungen zur Kindespietät.
Hiau Ging. Das Buch der Ehrfurcht (Xiaojing)
ERSTES KAPITEL
Dschung Ni weilte in Muße. Dseng Dsi saß neben ihm. Der Meister sprach: „Die alten Könige besaßen höchste Geisteskraft und kannten den wichtigsten Weg, um die Welt in Ordnung zu bringen, daß das Volk in Frieden lebte und zwischen Herren und Knechten kein Groll war. Kennst du sie wohl?“ – Dseng Dsi stand von seinem Platze auf und sprach: „Ich bin nicht klug genug, um sie zu kennen.“ – Der Meister sprach: „Ehrfurcht ist die Wurzel der Tugend und das, woraus die Erziehung erwächst. Setz’ dich wieder! Ich will mit dir reden. Den Leib mit Haut und Haaren haben wir von Vater und Mutter empfangen. Ihn nicht zu verderben oder zu beschädigen wagen: das ist der Ehrfurcht Anfang. Sein Wesen festigen und auf dem rechten Wege wandeln, seinen Namen bekannt machen bei der Nachwelt, um Vater und Mutter zu Ehren zu bringen: das ist der Ehrfurcht Schluß. Der Ehrfurcht Anfang ist, den Eltern zu dienen, sie zeigt sich weiterhin im Dienst des Fürsten, und sie vollendet sich darin, daß man sein Wesen festigt.“
ZWEITES KAPITEL
Der Meister sprach: „Wenn der Herrscher seine Eltern liebt, so wird unter den Menschen niemand es wagen, die seinigen zu hassen. Wenn er seine Eltern ehrt, so wird unter den Menschen niemand es wagen, die seinigen zu mißachten. Dadurch, daß er seinen Eltern dient mit der höchsten Liebe und Achtung, wird es geschehen, daß der bildende Einfluß seines Geistes sich erstreckt auf alle Untertanen und Gesetz wird auf der ganzen Welt. Das sind die Grundzüge der Ehrfurcht des Himmelssohns.“
DRITTES KAPITEL
„Wenn die Fürsten an erster Stelle weilen ohne hochmütig zu sein, so bringt ihre hohe Stellung ihnen keine Gefahr. Wenn sie Maß halten und sparsam sind, so haben sie Fülle ohne Überfluß. Hohe Stellung ohne Gefahr: dadurch können sie dauernd ihre Ehre wahren. Fülle ohne Überfluß: dadurch können sie dauernd ihren Reichtum wahren. Wenn Ehre und Reichtum sie nie verlassen, so können sie ihren Thron schützen und ihrem Volk den Frieden erhalten. Das sind die Grundzüge der Ehrfurcht der Landesfürsten.“
VIERTES KAPITEL
„Die Adligen sollen sich hüten, in ihrer Kleidung von der durch die Könige der Vorzeit festgesetzten Tracht abzuweichen; sie sollen sich hüten, in ihren Worten von den durch die Könige der Vorzeit festgesetzten Regeln abzuweichen; sie sollen sich hüten, in ihren Taten von dem tugendhaften Wandel der Könige der Vorzeit abzuweichen. Wenn sie in ihren Worten sich streng an die festgesetzten Regeln halten, wenn sie in ihren Taten sich streng auf dem rechten Weg halten, so können sie in Wort und Tat alles gesuchte Wesen vermeiden. Dann mögen ihre Worte die Welt erfüllen, und der Mund bleibt fehlerfrei; dann mögen ihre Taten die Welt erfüllen, und es erhebt sich kein Groll noch Haß. Wenn sie in diesen drei Stücken vollkommen sind, so können sie die Heiligtümer ihrer Ahnen bewahren. Das sind die Grundzüge der Ehrfurcht, des Adels.“
FÜNFTES KAPITEL
„Die Ritter sollen mit derselben Liebe, mit der sie ihrem Vater dienen, auch ihrer Mutter dienen, mit derselben Achtung, mit der sie ihrem Vater dienen, auch ihrem Fürsten dienen: so hat die Mutter Teil an ihrer Liebe, der Fürst hat Teil an ihrer Achtung. Wem aber beides vereint zukommt, das ist der Vater. Wer in Ehrfurcht dem Fürsten dient, ist treu; wer mit Achtung den Älteren dient, ist gehorsam. Wer Treue und Gehorsam nicht beiseite setzt im Dienste seiner Oberen, der kann Verdienst und Stellung wahren und seinen Vorfahren dauernd Opfer bringen. Das sind die Grundzüge der Ehrfurcht der Ritter.“
SECHSTES KAPITEL
„Sich nach dem Lauf des Himmels richten, um seinen Anteil zu sichern an der Erde Gütern, fleißig sich rühren und sparsam ausgeben, um Vater und Mutter ernähren zu können, das sind die Grundzüge der Ehrfurcht des Mannes aus dem Volke. So hat vom Himmelssohne an bis zu dem Mann aus dem Volke die Ehrfurcht nicht Ende noch Anfang, und einen Menschen, der sich beklagen könnte, daß sie zu schwer für ihn sei, hat es niemals gegeben.“
SIEBENTES KAPITEL
Dseng Dsi sprach: „Wahrlich, etwas überwältigend Großes ist, es um die Ehrfurcht!“ Der Meister sprach: „Wenn der Mensch, seinen Wandel auf Ehrfurcht gründet, so stellt er sich damit dem Himmel zur Seite mit seinen ewigen Gesetzen und der Erde mit ihrem selbstlosen Spenden. Des Himmels und der Erde ewigen Gesetzen ahmt der Mensch auf diese Weise nach. Wer des Himmels Leuchten nachahmt und der Erde Güter verwendet, um die Welt in Gang zu halten, dessen Erziehung braucht nicht der Einschüchterung und erreicht doch Vollendung, dessen Walten braucht nicht der Strenge und erreicht doch Ordnung. Die Könige der Vorzeit hatten erkannt, daß durch Erziehung das Volk sich wandeln lasse; darum gingen sie ihm voran mit umfassender Liebe, und im Volk ließ keiner seine Eltern mehr im Stich; sie hielten ihm vor Augen Tugend und Pflicht, und das Volk machte sich auf, sie zu üben; sie gingen ihm voran mit Achtung und Demut, und das Volk blieb fern vom Streit; sie leiteten es durch Sitten und Musik, und das Volk war im Frieden; sie taten ihm kund, was sie liebten und verabscheuten, und das Volk erkannte seine Schranken.“
ACHTES KAPITEL
Der Meister sprach: „Die weisen Könige der Vorzeit, die durch Ehrfurcht die Welt ordneten, wagten auch nicht eines kleinen Staates Untertanen zu vernachläßigen, geschweige denn die Herzöge, Fürsten, Grafen, Freiherrn und Barone: so erreichten sie die freudige Teilnahme aller Staaten am Dienste ihrer königlichen Ahnen. Die Landesfürsten wagten nicht einmal Witwer und Witwen zu mißhandeln, geschweige denn das Volk der Ritter; so erreichten sie die freudige Teilnahme des ganzen Volks am Dienste ihrer fürstlichen Vorfahren. Die Hausherrn wagten nicht einmal, sich gehen zu lassen gegen Knecht und Magd, geschweige denn gegen Frau und Kind; so erreichten sie ihrer Leute Teilnahme am Dienste ihrer Eltern. Da; es sich also verhielt, so konnten die Eltern ihr Leben in Ruhe verbringen, und ihre Geister der Opfer genießen. Dadurch kam die Welt zum Frieden. Unheil und Schaden entstanden nicht; Übel und Verwirrung erhoben sich nicht. Darum regierten die weisen Könige also durch Ehrfurcht die Welt.“
NEUNTES KAPITEL
Dseng Dsi sprach: „Darf ich fragen, ob den geistigen Wirkungen der heiligen Männer außer der Ehrfurcht nichts andres zugrunde lag?“
Der Meister sprach: „Unter den Wesen der Welt im Himmel und auf Erden ist der Mensch das edelste. Im Wandel des Menschen gibt es nichts größeres als die Ehrfurcht; die Ehrfurcht zeigt sich nie größer als bei der Verehrung des Vaters; die Verehrung des Vaters zeigt sich nie größer, als wenn man ihn dem Himmel zur Seite setzt. Und der Herzog von Dschou war der Mann, der das zuerst tat. Vor alters opferte der Herzog von Dschou auf dem Feldaltar dem Hou Dsi und setzte ihn dadurch dem Himmel zur Seite; er huldigte mit Opfern dem König Wen in der Halle des Lichts und setzte ihn so dem höchsten Herrn gleich: darumkamen alle im ganzen Reich und walteten ihres Amts. bei seinen Opfern. – Da zeigt sich doch wohl, daß die geistigen Wirkungen der heiligen Männer auf nichts anderem beruhten als auf der Ehrfurcht! Nun ist die- Anhänglichkeit zu den Eltern etwas, das im frühesten Kindesalter ganz von selbst entsteht, und durch die Pflege der Eltern bildet sich im Lauf der Zeit ganz von selbst das Gefühl einer tiefen Verehrung für sie heran. Die heiligen Männer benützten diese natürlichen Gefühle der Verehrung und Anhänglichkeit, um das Volk zu erziehen zu Achtung und Liebe. Die heiligen Männer bedurften bei dieser Erziehungsarbeit nicht der Einschüchterung und erreichten doch Vollendung, ihr Walten bedurfte nicht der Strenge und erreichte doch Ordnung, denn sie benützten die natürlichen Grundlagen des Familiensinns.
Das in der Natur begründete Verhältnis zwischen Vater und Sohn wird in seiner Übertragung auf Fürst und Diener zur Pflicht. Die Eltern gaben dem Sohn das Leben und damit das größte Gut, das überliefert werden kann. Der Vater tritt dem Sohne als Herr entgegen und macht so auf ihn den tiefsten Eindruck der Würde. Wer daher nicht seine Eltern liebt und wollte andre Menschen lieben, der heißt ein Verächter der Tugend; wer nicht seine Eltern achtet und wollte andre Menschen achten, der heißt ein Verächter der Sitte. Wenn ein Fürst auf diese Weise selber dem entgegenhandelt, wozu er sein Volk anleiten sollte, so hat das Volk an ihm kein Vorbild. Das führt nicht zum Guten, sondern führt alles zum Verderb der Tugend. Selbst wenn einer auf diesem Weg sein Ziel erreichen würde: der Edle schätzt das nicht. Nicht also handelt der Edle. Bei seinen Worten überlegt er sich, ob sie wert sind, geredet zu werden; bei seinen Taten überlegt er sich, ob sie geeignet sind, Freude zu bereiten. Seine Tugend und Pflichttreue ist würdig der Ehre; sein Handeln und Beginnen ist würdig der Nachahmung; seine Mienen und sein Benehmen sind würdig der Betrachtung; sein Tun und Lassen ist würdig, als Maßstab zu dienen: so naht er sich seinem Volk. Das ist der Grund, daß sein Volk ihr fürchtet und liebt, ihm folgt und ihm gleich wird. So kann er seiner Tugend Erziehungserfolge vollenden und seines Waltens Gebote durchführen.“
ZEHNTES KAPITEL
Der Meister sprach: „Ein ehrfurchtsvoller Sohn dient den Eltern also: Wenn er in ihrer Umgebung weilt, zeigt er Achtung; bei der Sorge für ihre Nahrung zeigt er Freude; wenn sie krank sind, zeigt er Besorgnis; bei ihrer Bestattung zeigt er Trauer; wenn er ihnen die Ahnenopfer darbringt, zeigt er Verehrung. Nur wer in diesen fünf Dingen vollkommen ist, der versteht es, den Eltern wahrhaft zu dienen. Wer wahrhaft den Eltern dienen will, der hält sich als Vorgesetzter frei von Hochmut, als Untergebener hält er sich frei von Umtrieben, und in Widerwärtigkeiten hält er sich frei von Streit. Denn ein Vorgesetzter, der hochmütig ist, zieht sich den Untergang zu; ein Untergebener, der Umtriebe macht, zieht sich Bestrafung zu, und einer, der in Widerwärtigkeiten streitsüchtig ist, zieht sich tätliche Angriffe zu. Wer sich von diesen drei Dingen nicht fern hält, der mag zur Ernährung der Eltern täglich Schlachtopfer darbringen, und dennoch ist. er nicht ehrfurchtsvoll.“
ELFTES KAPITEL
Der Meister sprach: „Dreitausend verschiedene Straftaten gibt es; aber der Verbrechen größtes ist es, keine Ehrfurcht zu haben. Wer Gewalt übt dem Fürsten gegenüber, zerstört damit die Grundlagen des Staates; wer die Heiligen nicht gelten läßt, zerstört damit die Grundlagen der Moral; wer die Ehrfurcht den Eltern gegenüber zunichte macht, zerstört damit die Grundlagen der Familie. Und das ist der Weg zur allgemeinen Anarchie.“
ZWÖLFTES KAPITEL
Der Meister sprach: „Das beste Mittel, um das Volk zu Liebe und Zuneigung zu erziehen, ist die Ehrfurcht. Das beste Mittel, um das Volk zu Sitte und Gehorsam zu erziehen, ist die Brüderlichkeit. Das beste Mittel, um die Lebensgewohnheiten zum Guten zu wenden, ist die Musik. Das beste Mittel, um dem Fürsten Sicherheit und dem Volke Ordnung zu verschaffen, ist die Sitte. Was der Sitte zugrunde liegt, ist weiter nichts als gegenseitige Achtung. Wenn daher einem Vater Achtung widerfährt, so freuen sich darüber seine Söhne, wenn einem älteren Bruder Achtung widerfährt, so freuen sich darüber seine jüngeren Geschwister; wenn einem Fürsten Achtung widerfährt, so freuen sich darüber seine Untertanen; wenn also einem Manne Achtung widerfährt, so freuen sich darüber Tausende und Zehntausende. Die, denen Achtung zu erweisen ist, sind wenige, und viele sind es, die sich darüber freuen. Das ist der Sinn des Ausdrucks: „Der wichtigste Weg.“
DREIZEHNTES KAPITEL
Der Meister sprach: „Ein Fürst, der seine Untertanen zur Ehrfurcht erzieht, braucht nicht in jedes Haus zu gehen und sie täglich zu sehen. Indem er zur Ehrfurcht erzieht, ehrt er alle Väter auf Erden; indem er zur Brüderlichkeit erzieht, ehrt er alle älteren Brüder auf Erden; indem er zur Untertanentreue erzieht, ehrt er alle Fürsten auf Erden.
Im Buch der Lieder heißt es: Ein heiterer und gütiger Fürst ist der Vater seines Volks. Wer nicht die höchste Geisteskraft besitzt, kann nicht so großartig das Volk zum Gehorsam bringen.“
VIERZEHNTES KAPITEL
Der Meister sprach: „Die Gesinnung der Ehrfurcht, die der Edle im Dienst der Eltern zeigt, kann auf den Fürsten übertragen werden und wird dann zur Treue; die brüderliche Gesinnung, mit der er seinem älteren Bruder dient, kann auf die Vorgesetzten übertragen werden und wird dann zum Gehorsam; die Leitung, die er im Hause ausübt, kann als Ordnung auf das Staatsleben übertragen werden. Darum: wer im engsten Kreise dieser Tugenden Vollendung erreicht, dessen Name wird dauern unter den künftigen Geschlechtern.“
FÜNFZEHNTES KAPITEL
Dseng Dsi sprach: „Darüber, wie man Liebe haben soll und Achtung zeigen, den Eltern Ruhe geben und sich einen guten Namen machen, habe ich nun Unterweisung empfangen. Darf ich fragen, ob das Ehrfurcht heißt, wenn der Sohn sich nach des Vaters Willen richtet?“
Der Meister sprach: „Was sind das für Worte! Was sind das für Worte! Wenn vor alters der Himmelssohn sieben Diener hatte, die ihm entgegenzutreten wagten, so verlor er den Erdkreis nicht, auch wenn er selbst den Weg der Wahrheit nicht besaß. Wenn ein Fürst fünf Diener hatte, die ihm entgegenzutreten wagten, so verlor er sein Land nicht, auch wenn er selbst den Weg der Wahrheit nicht besaß. Wenn ein Adliger drei Diener hatte, die ihm entgegenzutreten wagten, so verlor er seinen Hausbesitz nicht, auch wenn er selbst den Weg der Wahrheit nicht besaß. Wenn ein Ritter einen Freund hatte, der ihm entgegenzutreten wagte, so wich der gute Name nicht von ihm. Wenn ein Vater einen Sohn hatte, der ihm entgegenzutreten wagte, so geriet er nicht in Ungerechtigkeiten. Darum: in Fällen von Ungerechtigkeit darf der Sohn nicht anders handeln als seinem Vater entgegentreten, der Diener nicht anders handeln, als seinem Fürsten entgegentreten. In Fällen von Ungerechtigkeit also muß man Widerspruch erheben. Da sich nach des Vaters Willen richten wollen, würde keineswegs die wahre Ehrfurcht sein!“
SECHZEHNTES KAPITEL
Der Meister sprach: „Indem die weisen Könige der Vorzeit ihrem Vater mit Ehrfurcht dienten, erhielten sie Erleuchtung darüber, wie man dem Himmel dienen müsse. Indem sie ihrer Mutter mit Ehrfurcht dienten, erhielten sie Erkenntnis darüber, wie man der Erde dienen müsse. Indem sie Eintracht schufen zwischen Alter und Jugend, erreichten sie es, daß Hoch und Nieder in Ordnung kam. Indem Himmel und Erde in der rechten Erleuchtung und Erkenntnis ihres Wesens bedient wurden, entfalteten ihre Geister Klarheit und Segen. Und selbst der Himmelssohn hat jemand, der für ihn verehrungswert ist: nämlich seine väterlichen Verwandten; er hat jemand, dem er sich unterordnen kann: nämlich seine älteren Vettern. Im Ahnentempel zeigt er die größte Ehrfurcht, um zu beweisen, daß er seine Eltern nicht vergißt; er heiligt sich selbst und achtet auf seinen Wandel, damit er nicht Schande bringt auf seine Vorfahren. Wenn er im Ahnentempel die größte Ehrfurcht zeigt, so offenbaren sich Manen und Götter; höchste Ehrfurcht und Brüderlichkeit dringen hinauf bis in den lichten Himmel, und ihr Schein erfüllt die ganze Welt.“
SIEBZEHNTES KAPITEL
Der Meister sprach: „Der Edle dient dem Fürsten also: In seiner Gegenwart denkt er auf äußerste Gewissenhaftigkeit, und in seiner Abwesenheit denkt er darauf, seine Unzulänglichkeiten auszugleichen. Gehorsam führt er seine guten Gedanken aus, und sein Nichtgutes bessert er und hält es auf. So ermöglicht sich eine dauernde Zuneigung zwischen Vorgesetzten und Untergebenen.“
ACHTZEHNTES KAPITEL
Der Meister sprach: „Der ehrfürchtige Sohn verfährt bei der Trauer um die Eltern also: Beim Weinen schreit er sich nicht heiser; bei den Trauergebräuchen sieht er nicht auf die äußere Form; seine Worte setzt er nicht in zierliche Sätze; in schönen Kleidern fühlt er sich nicht wohl; hört er Musik, so wird er nicht fröhlich; gutes Essen schmeckt ihm nicht. Also sind die Gefühle der Trauer und des Kummers.
Nach drei Tagen ißt man wieder, denn man soll das Volk lehren, nicht um der Toten willen den Lebenden zu schaden; die zehrende Trauer soll nicht zur Vernichtung des Lebens führen. Also ist die Ordnung der berufenen Heiligen. – Die Trauerzeit soll drei Jahre nicht überschreiten; man zeige dem Volk, daß sie ein Ende hat. Man mache für die Entschlafenen einen Sarg und einen Sarkophag, kleide sie an, hülle sie in Tücher und lege sie hinein. Man stelle die Opfergeräte und Opfergefäße der Ordnung nach auf, und traure klagend um sie. Die Frauen sollen sich an die Brust schlagen, und die Männer sollen schleppend gehen; unter Weinen und Schluchzen zeige sich die Trauer beim Geleite. Man frage das Orakel nach Vorbedeutungen für ihren Begräbnisplatz und bringe sie dementsprechend zur Ruhe. Man baue Ahnentempel für sie und bringe ihnen die Ahnenopfer dar. Frühling und Herbst opfere man ihnen; zu seiner Zeit gedenke man ihrer. – Im Leben den Eltern dienen mit Liebe und Achtung, nach dem Tod ihnen dienen mit Trauer und Klage: so werden die Grundlagen des lebenden Volkes gefestigt, die Pflicht zwischen Lebenden und Toten erfüllt, und der Dienst des ehrfurchtsvollen Sohnes seinen Eltern gegenüber vollendet.“
Übersetzt von Richard Wilhelm.
Quelle: Hiau Ging. Das Buch der Ehrfurcht, Beijing: Verlag der Pekinger Pappelinsel, 1940.