Einen immer noch lesenswerten Beitrag in Sachen interkultureller Vergleich hatte mein soziologischer Lehrer Joachim Matthes (1930-2009) 1991 über das „Gesicht wahren“ veröffentlicht:
„Das Gesicht wahren“: eine kulturelle Regel im interkulturellen Vergleich
Von Joachim Matthes
Europäer, die den Fernen Osten ausgiebig bereist haben, heben immer wieder hervor, dass Asiaten ein besonders ausgeprägtes und sensibles Verhältnis zu dem haben, was man die „Wahrung des Gesichts“ nennt. In eine Situation hineinzugeraten, in der man Anstand, Würde und Glaubhaftigkeit verliert, scheine für sie weitaus mehr noch als für einen Europäer eine unangenehme, ja fast unerträgliche Erfahrung zu sein, die sie daher möglichst zu vermeiden trachten. So erkläre sich wohl auch der ausgeprägte Sinn der Asiaten für das, was sich in europäischer Wahrnehmung als „Höflichkeit“ im Umgang untereinander (und auch mit Fremden) darstellt, – ihre Neigung, Konflikten aus dem Wege zu gehen.
Europäische Missionare und Kaufleute, Diplomaten, Wissenschaftler und neuerlich auch Touristen wissen über Vorgänge des Gesicht-Wahrens in Gesellschaften des Fernen Ostens in vielerlei Alltagsgeschichten zu berichten.[1]
Da sind vielfältige Geschichten vom Umgang mit fernöstlichen Geschäftspartnern, die entgegen allen europäischen Erwartungen mit vertraglichen Vereinbarungen und Festlegungen eher locker umgehen, – etwa wochenlang nichts von sich hören lassen, wenn eine eingegangene Verpflichtung zu einem bestimmten Zeitpunkt fällig wird, und sich erst viel später wieder melden – freundlich lächelnd und ohne ein Wort der Erklärung für das lange Schweigen, ja mit erkennbaren Zeichen des (in europäischer Wahrnehmung) „Beleidigt-Seins“, wenn sie auf ihren Verzug hingewiesen werden.
Da ist die Geschichte von dem fernöstlichen Staatsmann, der eine Einladung zu einem offiziellen Besuch in einem europäischen Land ohne nähere Erklärung übergeht, und der erst dann wieder von sich hören lässt, wenn ihm ein anderer Zeitpunkt für den Besuch vorgeschlagen oder ihm die Wahl des Zeitpunktes freigestellt wird.
Oder die Geschichte von der fernöstlichen Verkäuferin in einem kleinen Laden in einem entlegenen Ort, die sich beim Auftauchen des Fremden unter Verbeugungen ins Hinterzimmer zurückzieht und nicht wieder auftaucht, bis der Fremde den Laden unverrichteter Dinge wieder verlassen hat.
Oder die Geschichte von dem Studenten an einer fernöstlichen Universität, dem der westliche Gastprofessor die Nutzung weiterer Quellen für die Anfertigung seiner Magisterarbeit angeraten hat, und der zum vorgeschlagenen Gespräch darüber nicht erscheint und auch später nichts mehr von sich hören lässt.
1. Irritationen in der interkulturellen Begegnung
Was sich in all solchen Geschichten ausdrückt, ist die Irritation des Europäers über ein Verhalten von (fernöstlichen) Asiaten, das von hoher Empfindsamkeit dafür geprägt zu sein scheint, im Umgang mit anderen – hier: mit dem Fremden – den von diesen gehegten Erwartungen nicht gerecht werden zu können, zu versagen, eben: das Gesicht zu verlieren. In der Alltagserfahrung des Europäers, dem die Regel vom „Gesicht-Wahren“ aus der eigenen Kultur nicht unbekannt ist, werden solche Irritationen schnell und bereitwillig in gleichsam volkscharakterologische Zuschreibungen umgesetzt: Asiaten sind anders als wir, und daher ist es schwer (für uns), mit ihnen umzugehen. Ihnen fehle, so heißt es dann, das Selbstbewusstsein, eigene Mängel oder Fehler, aber eben auch eigene Urteile und Orientierungen im Umgang mit anderen offen zu vertreten; ihre Furcht vorm Versagen oder vor der Widerlegung sei übermächtig, so dass sie sich der Probe darauf eher entziehen. Und da an solchem Entziehen nicht abzulesen ist, wie sich der asiatische Partner in seinem Inneren verhält zu dem, was er da der Probe entzieht, verbleibt der europäische Partner im Ungewissen über den anderen – was er, der Europäer, nach seinen eigenen Standards, schwer verstehen und ertragen kann.
Denn seine Standards sind auf Berechenbarkeit des Verhaltens angelegt und darauf, „die Karten offen auf den Tisch zu legen“; zu diesen „Karten“ gehört auch, dass man sein eigenes „Gesicht“ zeigt – und akzeptiert, dass auch der andere dies tut. Eine „Oberfläche“ des Verhaltens des anderen, die keine unmittelbaren Rückschlüsse auf das zulässt, was sich „unter“ ihr abspielt, erzeugt beim Europäer Unsicherheit, Widerstand, ja Aggression. So paart sich denn auch schnell die durchaus positive Einstellung des Europäers zur anscheinend ständig gleichbleibenden fernöstlichen Freundlichkeit und Höflichkeit mit dem weniger positiven Urteil über die Scheu und Undurchschaubarkeit von Asiaten, ja auch mit dem negativen Urteil, Asiaten neigten zur Heuchelei.
2. Der „fernöstliche Charakter“
Sind Erfahrungen solcher Art im Umgang mit Asiaten erst einmal zu einer volkscharakterologischen Zuschreibung verdichtet, – ist der „fernöstliche Charakter“ erst einmal so in Merkmale gefasst und fixiert, lässt sich über die möglichen Ursachen für sein Entstehen trefflich spekulieren. Autoritäre Familien- und Erziehungsstrukturen, feudale Organisation des Wirtschaftens, konfuzianischer Rigorismus, mangelhaft ausgeprägter Individualismus – das sind Erklärungsmuster, die im westlichen Denkhorizont bereit stehen, um sich das Andere am fernöstlichen Asiaten begreiflich zu machen. Die kulturelle Identität der anderen, ihre Herkunftsgeschichte und ihre sozialstrukturellen Bedingungen werden so identifiziert und erklärt in ihrer Abweichung von den eigenen.
Und dieser Vorgang ist wechselseitig. Denn im gleichen Handlungszusammenhang, in dem der Europäer seine Definition des fernöstlichen Asiaten vollzieht, trifft der seine Definition des Europäers: Direktheit im Zugriff auf Sachen wie Menschen, Effizienz, Durchsetzungsvermögen, freilich auch: Aufdringlichkeit, Selbstbehauptung im Umgang mit anderen, Unfähigkeit zur „Rücksichtnahme“ auf sich und andere – und auch, etwa, zum Warten.
Verstanden werden so fixierte „Charaktermerkmale“ des Europäers leicht als Erzeugnisse einer libertinistischen, am individuellen Wohlstand und Erfolg orientierten, verwandtschaftsfeindlichen und im Hier und Jetzt aufgehenden Kultur.
Fasst man solche wechselseitigen Typisierungen kultureller Identität im Blick auf die Regel des „Gesicht-Wahrens“ zusammen, ergibt sich etwa folgende Aussage über sie: für die fernöstliche Wahrnehmung bewahrt der Europäer sein Gesicht, indem er es zeigt und behauptet; für den Europäer bewahrt der Asiate sein Gesicht, indem er es versteckt. Und jeder kann vom anderen sagen, warum er so verfährt: die jeweiligen Gesellschaftsstrukturen und kulturellen Überlieferungen bedingen es so.
3. Merkmal oder Regel?
Was solchen Deutungen ihr Gerüst verleiht, ist die Annahme, Kulturen seien Entitäten, – Gebilde mit eigentümlichen Merkmalen, die sie von anderen unterscheiden. Entsprechend unterscheiden sich dann, Variationen eingeschlossen, die jeweiligen Angehörigen von Kulturen voneinander. Diese Annahme ist nicht nur dem alltäglichen Denken auf beiden Seiten geläufig. Sie hat sich auch, in vielerlei begrifflicher Fassung, im wissenschaftlichen Denken breitgemacht. Aussagen, die, und wenn auch noch so versteckt, auf dieser Annahme gründen, haben jedoch ihre Tücken.
Eine einfache Überlegung macht dies, bezogen auf das hier diskutierte Beispiel des „Gesicht-Wahrens“, deutlich. Begreift man die geschilderten unterschiedlichen Ausdrucksformen des „Gesicht-Wahrens“ als Merkmale, die den betrachteten Kulturen und ihren Angehörigen anhaften, zu eigen sind (aus welchen Gründen auch immer), führt kaum ein Weg über ihre konfrontative Wahrnehmung hinaus: weder in der alltäglichen Begegnung und Erfahrungsbildung noch in der wissenschaftlichen. Man könnte etwa Vertreter beider hier involvierten Kulturen zu einer gemeinsamen Überlegung über ihr Verhalten zusammenführen. Sie würden sich dabei wahrscheinlich darauf verständigen können, dass es so etwas wie eine transkulturelle Praxis des „Gesicht-Wahrens“ gibt. Für beide aber trüge eine solche Verständigung nicht viel aus für ihr faktisches Verhalten. Beide würden weiterhin je ihrem Verständnis dieses Verhaltens folgen, – damit in je ihrer eigenen Kultur gut zurechtkommen und in der je anderen weiterhin unweigerlich auflaufen. Übernähme der eine das andere Verständnis dieser Praxis, wenn er sich in der anderen Kultur bewegt, käme er in dieser möglicherweise besser zurecht, – liefe aber Gefahr, aus seiner eigenen kulturellen Identität herauszufallen und handlungsunfähig zu sein, wenn er in seine Kultur zurückkehrt. Internalisierte einer beide Verständnisweisen dieser Praxis und wendete sie an, wie sie jeweils passen, würde er entweder zum reinen Instrumentalisten – oder irre (oder beides).
4. Kulturen als Regelsysteme
Der Denkfehler, auf dem dieses Dilemma beruht, liegt in der erwähnten Annahme, Kulturen seien Entitäten mit eigentümlichen Merkmalen, – und Menschen seien nichts als Träger solcher Kulturmerkmale. Ein probater Weg, diesen Denkfehler zu vermeiden und damit auch zu weiterführenden Einsichten zu gelangen, besteht darin, das, was als kulturelles Merkmal jeweils erscheint, nicht als solches, sondern als eine Regel zu begreifen, die im zwischenmenschlichen Verkehr ausgebildet, weitergegeben und eingeübt wird und das Verhalten im zwischenmenschlichen Verkehr anleitet, – und dies in unterschiedlichen Überlieferungen und Kontexten in unterschiedlicher Weise. An die Stelle der abstrakten, subsumtiven Annahme, es gäbe eine allgemein-menschliche Praxis des „Gesicht-Wahrens“, die in unterschiedlichen Kulturen unterschiedliche Ausprägungen erfahre, die diesen Kulturen und ihren Angehörigen dann als substantielles Merkmal anhafteten, würde die Annahme treten, wonach sich in unterscheidbaren kulturellen Überlieferungen und Kontexten unterschiedliche verhaltensleitende Regeln ausbilden, die sich auf vergleichbare Sachverhalte beziehen und daher auch unter einem Stichwort (wie hier dem des „Gesicht-Wahrens“) ins Verhältnis zueinander gesetzt werden können. Doch sind ihre Inhalte unter dieser Annahme nicht Ausprägungen eines als „allgemein“ gedachten Merkmals zwischenmenschlichen Verkehrs, sondern Ergebnisse langwährender kultureller und interkultureller Entwicklungen, die in je spezifische Kontexte eingebettet sind und erst, nachdem es sie gibt, unter einem transkulturell motivierten Erkenntnisinteresse vergleichend betrachtet werden.
Entsprechend wären „Kulturen“ nicht als Entitäten, sondern als unterschiedlich komponierte Regelsysteme aufzufassen, deren Elemente in der wechselseitigen Begegnung in der Unterschiedlichkeit ihrer Anlage ins Bewusstsein treten. Wir haben es dann bei Sachverhalten wie dem hier thematisierten zu tun mit eingeübten Anleitungen des Verhaltens, die sich unter bestimmten menschlichen Gruppierungen unter bestimmten Umständen ausbilden, überliefert werden, sich im Zuge solcher Überlieferung auch verändern – und vor allem dann sich verändern, wenn sie neuen Gegebenheiten nicht mehr voll gerecht werden. Zu solchen neuen Gegebenheiten würde auch und gerade gehören, dem Verkehr mit anderen ausgesetzt zu sein, die ihrerseits aus der Überlieferung andersartiger Verhaltensregeln leben.
5. Die Regel des „Gesicht-Wahrens“ im interkulturellen Vergleich
Versuchen wir nun, in diesem Verständnis von kultureller Regel zu rekonstruieren, was „Gesicht-Wahren“ in den hier herangezogenen kulturellen Kontexten heißt. Manches bisher Gesagte wird bei diesem Versuch wieder auftauchen, aber nun in einem anderen Licht.
Ausgangspunkt unserer Überlegungen ist, dass wir unter der Chiffre vom „Gesicht-Wahren“ im Blick auf die beiden involvierten Kulturen zwei unterschiedliche handlungsleitende Regeln ausmachen können. Ihr Unterschied liegt in zweierlei: erstens in ihrem jeweiligen gesellschaftlichen Stellenwert und in ihrer Erstreckung und Reichweite, – und zweitens in ihrem jeweiligen Konstruktionsprinzip.
Im europäischen Kontext ist die Regel des „Gesicht-Wahrens“ vom Individuum her angelegt. Ihre gesellschaftliche Reichweite und Erstreckung findet darin ihren Entfaltungsraum wie ihre Begrenzung. Sie bezieht sich auf den einzelnen und sein Handeln; genauer: auf Situationen, in denen der einzelne handelt. In ihnen hat er sein „Gesicht“ zu bewähren und zu bewahren; „verliert“ er es in der einen, mag er es in manchen anderen zugleich „behalten“. Politikerschicksale aus jüngster deutscher Vergangenheit bieten dafür reichhaltiges Anschauungsmaterial. Wie der einzelne den „Gesichtsverlust“ in einem Handlungskontext im Gesamtspektrum seiner Handlungsbezüge verarbeitet, ist selber kein gesellschaftlich relevanter Tatbestand und bleibt ihm als persönliche Aufgabe überlassen. Kulturell wird diese Parzellierung des „Gesichtsverlusts“ als Moment von gesellschaftlicher „Freiheit“ verstanden, – ethisch als Bedingung der Möglichkeit für die Chance zur Umkehr. In dieser Erstreckung entbehrt die Regel des „Gesicht-Wahrens“ im europäischen Kontext durchgreifender gesellschaftlicher Gestaltungskraft.
Wenden wir den Blick nun auf das innere Konstruktionsprinzip dieser Regel im europäischen Kontext! Sie schreibt dem Einzelnen die Verantwortlichkeit dafür zu, sein eigenes „Gesicht“ gegenüber anderen im Umgang mit ihnen zu wahren. Damit wird sowohl die Gewissheit des Einzelnen über sich selbst als auch die Zuverlässigkeit und Berechenbarkeit jedes Einzelnen für alle anderen, mit denen er umgeht, gewährleistet. Der Einzelne mag immer fehlen und versagen: er hat dafür einzustehen, und es ist dieses offen wahrnehmbare „Einstehen“, an dem sich die „Wahrung des Gesichts“ vollzieht. Der Vorgang des „Einstehens“ (ein Muster wohl vor allem reformatorischer Herkunft) hat eine Schwelle. Vor dieser Schwelle gilt, dass das, was am gezeigten Verhalten gefährdet erscheint, so lange wie irgend möglich behauptet wird. Lässt sich dies nicht durchhalten, – wird die Schwelle der Probe aufs gezeigte Verhalten überschritten, gibt es zwei Möglichkeiten, den dann unvermeidlich erscheinenden „Gesichtsverlust“ in eine „Dennoch-Wahrung des Gesichts“ zu verwandeln: durch tätige Reue und Buße – oder durch Wechsel des Bezugsmilieus. Mit anderen Worten: im europäischen Kontext hat es der Einzelne mit seinem Gesicht zu tun, und er hat mit ihm zu tun unter dem Gebot (und der Möglichkeit), noch im „Gesichtsverlust“ sein Gesicht zu wahren. Erst auf dieser Grundlage wird dann das „Gesichtwahren“ auch zu einem Moment in der zwischenmenschlichen Handlungsstrategie. Da der Einzelne mit seinem Gesicht zu tun hat, kann der andere sein Handeln ihm gegenüber darauf einrichten: ihm die Chance lassen, sein Gesicht zu wahren (und dafür etwas fordern), – oder ihn gezielt in den Gesichtsverlust treiben.
Im fernöstlichen Kontext hat die Regel des „Gesichtwahrens“ eine weitaus größere Reichweite und Erstreckung, und sie ist anders, gleichsam gegenläufig konstruiert. Sie ist nicht am Einzelnen orientiert, sondern an übergreifenden sozialen Einheiten und bezieht sich erst von ihnen aus auf den Einzelnen. Sie hat vorab strukturbildende Kraft; sie sichert soziale Zusammenhänge. Nicht so sehr mit seinem Gesicht hat der Einzelne zu tun, sondern mit dem Gesicht der sozialen Kreise, denen er angehört. Die Grenze der Bedeutung von „Gesicht-Wahren“ und „Gesicht-Verlieren“ verläuft nicht am Einzelnen und seinem jeweiligen Handlungskontext, sondern entlang der Grenzen seiner sozialen Kreise.
Das hat zwei wichtige Implikationen. Nicht der jeweils einzelne Handlungskontext zählt für das Wahren oder Verlieren des Gesichts, sondern die Gesamtheit aller Handlungskontexte im jeweiligen sozialen Kreis. Innerhalb dieser Kreise kann man „sein Gesicht nur als Ganzes bewahren oder verlieren“.[2] Und: Jenseits der Grenzen der jeweiligen sozialen Kreise verliert die Regel des „Gesicht-Wahrens“ ihr Gewicht; dort leben andere, mit denen kein primärer Verpflichtungszusammenhang besteht und denen gegenüber daher auch kein Gesicht zu wahren oder zu verlieren ist. „Gesichtverletzendes“ Handeln gegenüber einem Angehörigen des eigenen Vertrautheitskreises wird nur und erst dann möglich und anerkannt, wenn ihm ein Ausschluss des Betreffenden aus dem Vertrautheitskreis vorangeht. So sind denn wohl auch die dem chinesischen Rechtswesen eigenen Zeremonien der Degradation eines Beklagten zu verstehen, die der Inquisition und Verurteilung vorausgehen, und die in westlicher Perspektive als „Vorab-Verurteilung“ erscheinen.
Dieser Reichweite der Regel des „Gesicht-Wahrens“ entspricht ihre innere Konstruktion. Sie ist so angelegt, dass der einzelne alles zu tun hat, um den „Gesichtsverlust“ des anderen zu vermeiden. Mit der Wechselseitigkeit dieser Regel wird die Sorge um den eigenen Gesichtsverlust in die Verantwortung des anderen gelegt. Das „Wahren“ des eigenen Gesichts beruht auf dem Muster des „Gesichtgebens“ durch den anderen. In europäischen Kategorien ausgedrückt, könnte man daher sagen: „Das gesellschaftliche Leben der Chinesen (etwa) spielt sich zum großen Teil auf der Grundlage des Vertrauens ab“ (so Hsien Chin Hu 1944, 1966), – wenn man dabei bewusst hält, dass es nicht um individuelle Vertrauensleistung geht, und dass es sich um das Vertrauen innerhalb sozialer Kreise handelt.
6. Vertrauen durch „gesichtgebendes“ Handeln
Dem Europäer, der einen gewissen Zugang zu einem solchen Vertrautheitskreis erlangt hat, wird die Eigenart dieser Konstruktion der Regel des „Gesicht-Wahrens“ dann schlagartig klar, wenn er erfährt, wie sich sein asiatischer Handlungspartner in sich zurückzieht, wie „sein Gesicht erstarrt“, wenn er sich durch eine Verhaltensweise des Europäers verletzt fühlt. Sein „Vertrauen“ in das „gesichtgebende“ Handeln des Partners wird enttäuscht, und da dieses Vertrauen Vorrang hat vor der Behauptung des eigenen Gesichts gegenüber dem „gesichtbedrohenden“ Handeln des anderen, bleiben ihm nur Scham und Rückzug. Die eingangs beschriebene fernöstliche Verkäuferin in einem kleinen Laden in einem entlegenen Ort zieht sich zurück vor dem ihr mit dem Auftauchen des Fremden zugemuteten Gesichtsverlust, der darin liegt, dass der Fremde doch wissen sollte, dass sie sich nicht mit ihm verständigen kann. Der eingangs beschriebene Student, der auf das Angebot seines europäischen Gastprofessors nicht eingeht, zieht sich zurück angesichts des ihm zugemuteten Gesichtsverlusts, der darin liegt, dass ihm mit diesem Angebot gerade der Mangel seiner bisherigen Arbeit entgegengehalten wird. In beiden Fällen könnte das Scheitern der Interaktion wohl dadurch vermieden werden, dass sich der Europäer jeweils eines beiden Interaktionspartnern vertrauten Dritten zur Übermittlung seiner „message“ bediente. Der fernöstliche Staatsmann vertraut – vergeblich – auf das Wissen der einladenden Regierung darum, dass die Festlegung von Reiseterminen für ihn der astrologischen Beratung unterliegt. Und er weiß selber zugleich darum, dass solche Beratung in der europäischen Wahrnehmung als, gelinde gesagt, überholt erscheint – vertraut dennoch aber darauf, dass sie für ihn respektiert wird. Der fernöstliche Geschäftsmann schließlich sieht ohnehin einen Vertragsabschluß eher als Anbahnung eines Vertrautheitsverhältnisses denn als einen Zug-um-Zug-Vorgang, und er mag im konkreten Einzelfall zudem darauf vertrauen, dass ihm nicht vorgehalten wird, wenn ihm eine vereinbarte Leistung zu einem bestimmten Zeitpunkt nicht möglich ist, er sie jedoch getreulich erbringt, sobald ihm dies möglich ist.
7. Zwei Beispiele: Mündliche Prüfung und Umfrageforschung
An zwei Handlungssituationen sei noch einmal verdeutlicht, was uns der vergleichende Blick auf die Regel des „Gesicht-Wahrens“ im europäischen und fernöstlichen Kontext lehren kann. Beide Fälle entstammen dem Handlungsraum des Sozialwissenschaftlers, sind aber sicherlich auf andere Handlungsräume übertragbar.
Ein erstes Beispiel. Unser westliches Bildungssystem kennt die mündliche Prüfung als eine zentrale Einrichtung zur Überprüfung gelungenen Wissenserwerbs. Sie ist als Handlungssituation darauf angelegt, den einzelnen Prüfling zur Selbstbehauptung zu veranlassen, indem er systematisch mit der Möglichkeit des Scheiterns konfrontiert wird. Er hat, in unserem Kulturverständnis, seine Probe bestanden, wenn er der schärfstmöglichen Herausforderung zu widerstehen vermag.
In der fernöstlichen Wahrnehmung erscheint diese Handlungssituation als systematisch darauf angelegt, „Gesichtsverlust“ herbeizuführen, und zwar für beide Seiten, für den Prüfling wie den Prüfer. Wie kann der Prüfling, ins Vertrauen darauf eingeübt, dass ihm in der Interaktion „Gesicht gegeben“ wird, diese Herausforderung verarbeiten? Wie kann der Prüfer, ins gleiche Vertrauen eingeübt, sein Handeln in der Prüfung darauf ausrichten, den anderen zielstrebig in die Möglichkeit des Scheiterns zu führen? Wie können Prüfer und Prüfling, in ihrem wechselseitig „gesichtgebenden“ Verhältnis von Lehrer und Schüler, gemeinsam einer so konstruierten Handlungssituation standhalten?
Die Erfahrung scheint zu zeigen, dass beide eine solche Handlungssituation als unerträglich erfahren, – bis an die Grenze physischer Symptomatik heran. Wo es unausweichlich ist, sich ihr auszusetzen, entstehen verschiedene Lösungsmöglichkeiten für den elementaren Konflikt, den sie erzeugt. Eine wäre, in der äußeren Handlungsform der Prüfung das vertraute Verhältnis zueinander dennoch zur Geltung zu bringen: zum Beispiel durch Vorabsprachen oder durch eher helfendes denn herausforderndes Fragen des Prüfers. Dem westlichen Beobachter erscheint dies als Verkehrung des in diese Handlungssituation „Prüfung“ investierten Sinns. Eine andere wäre, das Prüfer-Prüflings-Verhältnis von dem des Lehrers zu seinem Schüler abzukoppeln, – einen Fremden zum Prüfer zu bestellen, der zum Prüfling im Status einer non-person steht, – ein Status, der nicht durch eine immer schon wechselseitig „gesichtgebende“ Beziehung vordefiniert ist. Eine weitere Lösung wäre, das Prüfungs-Prinzip der Anlage aufs Scheitern beizubehalten, jedoch seine „gesichtsraubende“ Wirkung dadurch zu neutralisieren, dass man das Prüfungsverfahren anonymisiert und auf die face-to-face-Relation der mündlichen Prüfung verzichtet. Fernöstliche Universitäten entscheiden sich offenbar überwiegend für die letztere Lösung, – mit dem Ergebnis, dass Prüfungen auch in geistes- und humanwissenschaftlichen Fächern auf das leicht anonymisierte Prinzip des multiple choice festgelegt werden, was wiederum dem westlichen Humanwissenschaftler, der den Diskurs so schätzt, als ein Greuel erscheint.
Ein zweites Beispiel. Die westliche Sozialforschung ist weithin Umfrageforschung, – gleich ob sie mit standardisierten Fragebögen arbeitet oder mit eher offenen Interviews. Sie kann sich mit dieser vorherrschenden Methodik darauf verlassen, dass sich in unserer Kultur allgemein ein Muster des Frage-Antwort-Verhaltens durchgesetzt hat, das der Erwartung folgt, man habe auf keine Frage eine Antwort schuldig zu bleiben, (auch dies ein reformatorisches Erbe, das sich in unsere kulturellen Verkehrsformen tief eingelassen hat). Wer darin eingeübt ist, das ureigene Denken und Tun nach außen – vor Gott und den Menschen – behaupten und verantworten zu sollen, empfindet eine auf das Wechselspiel von Frage und Antwort eingerichtete Handlungssituation als gleichsam „natürlich“, – auch wenn er sich im Einzelfall gegen die Inhalte solchen Wechselspiels wehren mag, und auch wenn der Fragende dem Befragten ein Fremder ist, der ihm nur in dieser einen Handlungssituation begegnet.
Im fernöstlichen Kontext ist das isolierte, abstrahierte Handlungsmuster von direkter Frage und Antwort als ein alltägliches nicht geläufig. Die direkte Frage schließt als Handlungsform, ähnlich wie in der zuvor erörterten Prüfungssituation, den „Gesichtsverlust“ sozusagen strukturell ein. Der Fragende muß das von ihm erwartete „Gesichtgeben“ vernachlässigen, und der Befragte sieht eben darin sein Vertrauen in den anderen gebrochen. Ist der Fragende ein Fremder, zumal ein Europäer, schwächt sich zwar die Bindungswirkung wechselseitiger Verpflichtung auf das „Gesicht-Wahren“ ab. Jedoch hütet sich der fernöstliche Befragte auch dann, dem fremden Fragenden in seinen Antworten etwas zur Kenntnis zu bringen, was ihm, dem Fremden, möglicherweise unvertraut oder unverständlich wäre, denn dies würde dem fragenden Fremden einen „Gesichtsverlust“ zumuten. Und so wird geantwortet nach der Vorstellung, die der Befragte davon hat, was der Fragende schon weiß oder gern hören möchte – was dem europäischen Fragenden, wenn er es denn überhaupt merkt, sein Konzept verdirbt und ihn im Grenzfall zu der Typisierung führt, der fernöstliche Asiate sei ein hintergründiger, undurchschaubarer, unzuverlässiger Interview-Partner.
Aber auch schon die Anmutung, sich einem Interview ohne vorgängige Verständigung zu stellen, wie es der quasi-experimentelle Charakter des Interviews methodisch erfordert, erscheint im asiatischen Kontext als befremdlich. Muss man sich nicht erst einmal kennenlernen, Vertrauen zueinander gewinnen, bevor man in einen stringenteren Gedankenaustausch tritt? Muss nicht auch der Fragende seinen Beitrag zum Gedankenaustausch leisten, indem er etwas preisgibt von seinen Ideen und Meinungen zum Thema? Wie kann der eine nur fragen wollen, der andere nur antworten sollen – in einer doch gemeinsam geteilten Handlungssituation, die auf der Reziprozität des „Gesichtgebens“ beruhen sollte? Das sind Fragen und Erwartungen, die dem methodischen Konzept des Interviews zuwiderlaufen, und an deren Bewältigung der westliche Sozialforscher schier verzweifelt. In der Regel wird er, um vor seinen eigenen Standards nicht zu scheitern, gute Miene zum – für ihn – bösen Spiel machen. Er wird, nolens volens, seine informellen Vorgespräche führen mit seinem fernöstlichen Interviewpartner über das, was er später im „eigentlichen“ Interview, zu fragen beabsichtigt – und wird dann in seinem Ergebnisbericht diese Vorgespräche verschweigen, denn sie würden ihm zu Hause als Fehlerquelle für den Ertrag des Interviews vorgehalten werden.
Und schließlich: Der Einzelne als Handlungspartner im Frage-Antwort-Spiel des Interviews – das ist eine im asiatischen Kontext nicht geläufige Handlungsform. Interviews geraten im Handumdrehen zu kollektiven Gesprächen: Die Ehefrau und die Kinder, die Großeltern, Brüder, Schwestern und Schwäger sitzen dabei und lösen die nach westlichem Standard geforderte Zweierbeziehung des Interviews in einen gemeinschaftlichen Austausch von Erzählungen und Meinungen auf. Methodisch – nach westlich-wissenschaftlichem Standard – betrachtet, misslingt so fast jedes Interview, da es als Handlungssituation der Zweierkommunikation im fernöstlichen Kontext schlicht nicht durchzuhalten ist. Lässt sich dennoch diese Zweierkommunikation im Einzelfall erzwingen, wird sich der fernöstliche Befragte in ihr äußerst unwohl fühlen und aus dieser Lage heraus den Erwartungen des Fragenden nicht entsprechen, – nicht entsprechen können. Hat er eine solche Situation schon mehrfach erlebt und die Scheu vor ihr halbwegs verloren, wird er dennoch kaum ein seriöser Befragter im westlichen Verständnis werden. Er wird vielmehr dazu neigen, den Umgang mit dem fremden Fragenden zu ironisieren, – woran der europäische Fragende (wiederum: wenn er denn überhaupt bemerkt, was vor sich geht) im ihn tragenden professionellen Ernst verzweifelt.
8. Einige Folgerungen
Was unter dem sprachlichen Signum des „Gesicht-Wahrens“ in den beiden hier herangezogenen Kontexten jeweils als Interaktionsregel erscheint, lässt sich, wie wir gesehen haben, unter den beiden Gesichtspunkten der Erstreckung und der inneren Konstruktion voneinander unterscheiden. Auf der Grundlage solcher Unterscheidung könnte und müsste die Analyse nun weiter vorangetrieben werden. Denn als Interaktionsregeln hängen sie in ihrer jeweiligen Reichweite und Erstreckung und in ihrer jeweiligen inneren Konstruktion und Anlage von einem ganzen Rahmenwerk anderer kultureller Faktoren ab: vorab von grundlegenden Annahmen über die Welt und den Menschen, – von „Wirklichkeitsdefinitionen“, die tief in die jeweiligen Lebenswelten eingelassen sind und sich in langer Überlieferungsgeschichte in vielerlei Institutionen umgesetzt haben. Wir können diesen weiteren Analyseweg hier nicht verfolgen. Um die Anforderungen, denen er zu genügen hätte, zu kennzeichnen, sei nur zweierlei angemerkt.
Zum einen: Die westliche Welt lebt aus der grundlegenden Gegenüberstellung von Individuum und Gesellschaft, in der sich die christliche Denkfigur vom unmittelbaren Glaubensverhältnis des einzelnen Christenmenschen zu seinem Gott in der nachreformatorischen Zeit säkularisiert hat. Das Lebensverständnis des westlichen Menschen ist daher vom Gedanken der Selbstverwirklichung des Einzelnen in dieser Welt geprägt. Demgegenüber leben fernöstliche Kulturen aus dem Gedanken der Einbettung des Einzelnen in ein dichtes Gewebe naturhafter und menschlicher Beziehungen, das auch im Hinblick auf die Welt der Götter nicht von unübersteigbaren Scheidungen, von Transzendenzen, durchzogen ist. In dieser Einbettung muß sich der Mensch nicht gegenüber anderen – und in seinem Verhältnis zu den Göttern – in seiner Unverwechselbarkeit ständig durchsetzen und behaupten. Es obliegt ihm vielmehr, sich seiner Einbettung würdig zu erweisen. Statt auf Selbstverwirklichung ist er auf Selbsterziehung (Hsien Chin Hu 1944, 1966) im Rahmen seiner Lebenswelt verwiesen.
Kulturanthropologisch betrachtet sind dies verschiedene Grundmuster menschlichen Weltverhältnisses, die sich je in langer Überlieferungsgeschichte und in vielfältiger Kulturbegegnung herausgebildet haben: Sie sind, salopp ausgedrückt, nicht vom Himmel gefallen, auch nicht in der Gestalt von volkscharakterologischen Wesenheiten. Die vielfältigen Institutionen und Interaktionsregeln, in denen sie sich ausprägen, haben je ihr gefestigtes Profil, und wo immer solche gefestigten Profile unterschiedlicher Art aufeinandertreffen, entstehen Probleme des Fremdverstehens und des Scheiterns von Interaktion. Und doch sind solche Profile nicht undurchlässig für wechselseitiges Verstehen, denn schließlich haben sie sich selber gerade aus dem Bemühen von Menschen entwickelt, ihren Verkehr untereinander in einem gemeinsamen Verstehenshorizont zu ermöglichen. Darin liegen die Chancen für eine wechselseitige Übersetzung von „Kulturen“, die freilich sorgsam und umsichtig wahrgenommen werden wollen.
Zum zweiten: Wir müssen uns, wohl oder übel, vergegenwärtigen, dass sich gerade die wissenschaftliche Erforschung kultureller Differenzen in ihrem Bemühen um eine kulturvergleichende Perspektive häufig genug selbst im Wege steht. Denn sie ist selber in ihren grundlegenden Annahmen und Denkfiguren, in ihren Begriffen und Methoden zutiefst jener westlichen Kultur verpflichtet, aus der sie herausgewachsen ist. Gerade in der Verallgemeinerungsfähigkeit, die sie ausgebildet hat, liegt auch ihre besondere kulturelle Optik: die Optik der Subsumtion des Anderen unter die generalisierten Denkfiguren der eigenen Herkunftskultur. So wäre es denn etwa dem Kulturvergleich wenig dienlich, verstünde man das „Gesichtwahren“ im fernöstlichen Kontext als eine Modalität menschlicher Selbstbehauptung und Selbstverwirklichung im gesellschaftlichen Zusammenleben unter anderen sozial-strukturellen Bedingungen als denen, die wir in unserer Kultur vorfinden. Mit einem solchen Verständnis würde man die eigene kulturelle Denkfigur von der grundlegenden Opposition von Mensch und Gesellschaft zum Maß der Dinge, zum Tertium des Vergleichs erheben, das Andere allein in seiner Abweichung vom Eigenen erfassen und dann die vermeintlichen Bedingungen für seine Andersartigkeit auf Faktoren fixieren, die dem menschlichen Verhalten äußerlich sind und bleiben.
So verfährt jedoch, leider, die westliche – oder westlich angeleitete – kulturvergleichende Forschung nicht selten, und sie kann sich dies angesichts ihrer bislang kaum angezweifelten weltkulturellen Ansprüche und Dominanz auch leisten, immer noch jedenfalls. Worauf es demgegenüber ankäme, wäre, in der kulturvergleichenden Forschung die Sensibilität für andere Konzeptualisierungen von Mensch und Welt als die, die in unsere eigene Wissenschaft kulturell schon immer eingelassen sind, ständig zu schärfen und dies dann auch in die Praxis der Forschung umzusetzen. Erst dann könnte eine kulturvergleichende Forschung auch wirksame Beiträge zu einer Meisterung der Kulturbegegnung leisten, der wir heute unvergleichlich intensiver und extensiver ausgesetzt sind als früher. Die – für uns – „anderen“ sind da häufig genug weiter als wir, denn wir haben ihnen unsere Muster, in welchen Formen auch immer, längst nachdrücklich zu vermitteln gewusst, – was uns als überflüssig erscheinen lässt, uns auf die ihren einzulassen. Sie werden uns freilich auch – das gehört mit zum Bild – kaum mit Nachdruck entgegengehalten.
Wir sollten uns schließlich auch stets vor Augen halten, dass alle unausweichlichen Reflexionen auf die Möglichkeiten einer transkulturellen Ethik jenseits der Vielzahl beobachtbarer kultureller Identitäten unter diesem gleichen Gebot stehen. Sie stehen ferner unter dem Gebot, sich der kulturvergleichenden Erfahrung zu öffnen und nicht allein auf der Ebene der Prinzipienreflexion zu verharren. Die handlungsnahe Analyse zwischenmenschlicher Vorgänge, wie sie hier am Beispiel einer kulturellen Basisregel versucht wurde, liefert den Stoff, an dem sich Reflexionen auf Ethik, zumal auf transkulturelle Ethik, abzuarbeiten haben. Denn was wir unter dem Signum Ethik thematisieren, ist zuallererst tagtäglich gelebter Umgang zwischen wirklichen Menschen. Die Sensibilität dafür wird durch vorschnell universalisierende Prinzipienreflexion eher gelähmt. Auch der internationalisierte „travel-logue“ der westlichen academia hilft da nicht viel weiter. Auf ihrem behenden Zug um den Globus blickt auch sie doch immer nur in den Spiegel.
Universitas 5 (1991), S. 429-439.
[1] Im Interesse einer übersichtlichen Gedankenführung werden im folgenden „europäische“ und „fernöstliche“ Kultur einander zum Zwecke des Vergleichs gegenübergestellt. Die damit verbundenen sachlichen Vereinfachungen im Blick auf je interne kulturelle Differenzierungen werden in Kauf genommen.
[2] So Hsien Chin Hu in ihrer semantischen Analyse: „Die chinesischen Begriffe vom ‘Gesicht’“, zuerst in: American Anthropologist, Nr. 46,1944, in deutscher Übersetzung in: W. E. Mühlmann/E. W. Müller (Hg.): Kulturanthropologie. Köln, Berlin 1966.
2009 J Matthes zu Gesichtwahren im interkulturellen Vergleich,danke für den Artikel!—2020:es gibt eine Art schnurlose Kommunikation“,wenn Mensche dicht zusammenleben,die sich wie seelisches Nachtwandeln manifestieren kann.Für gleichermaßen fortentwickelte Bewußtseinsträger“ wünschte man sich eine Ethik zum lebensfreundlichen Umgang miteinander,zB Diskretion,wenn man ungewollt Zeuge von Trauminhalten eines anderen Menschen wird,nur „Guten Tag“ sagen,seine Lebensproblematik muß jeder im Tagesbewußtsein lösen…..vielleicht gibt es dazu Artikel in der (transpersonalen)Psychologie,auch bei Anselm Grün in „Dem Alltag eine Seele geben“S 79, stehen Hinweise.