Die folgenden Thesen, die Paul Schempp im August 1936 verfasst hatte, fügte er seinem Brief an Richard Widmann vom 30. Oktober 1936 bei:
Thesen über »Glaube und Liebe« (Über die Zusammenarbeit mit deutsch-christlichen Irrlehrern)
1. Glaube ist nicht etwa fanatisches Festhalten eines weltanschaulichen oder auch theologischen Axioms, sondern Glaube an Christus als an meinen Herrn und Erlöser auf Grund seines Wortes und Sakramentes, in dem er sich aller Welt, also auch mir, als alleinigen Herrn und Erlöser anbietet.
2. Glaube involviert also die totale Freiheit von aller Welt, von der sichtbaren und der unsichtbaren, von Fleisch und Blut, vom Ich und von »Gut, Ehr, Kind und Weib«, sonst ist Christus weder als alleiniger Herr, der auch das Leben »um seinetwillen« – im Dienst seiner Herrschaft! – fordern kann, noch als alleiniger Erlöser, der von allem befreit, weil nur Er selber unentbehrlich ist, und in dem uns alles geschenkt ist, weil Er die Offenbarung der Liebe Gottes ist, in Wirklichkeit geglaubt.
3. Glaube ist Sieg über die Welt, so daß deren Macht (durch Lockung und Drohung) gebrochen ist, aber ohne daß der Glaube die Welt nun flieht, sondern er herrscht über sie in der Freiheit des Dienstes.
4. Liebe, die nicht aus dem Glauben kommt, ist unchristlich, denn sie liebt nicht um des Herrn willen, sie ist nicht selbstlos und haßt nicht das Arge.
5. Glaube, aus dem nicht die vorbehaltlose, uneingeschränkte Liebe fließt, ist tot, ist »starres Vertreten von Glaubenssätzen«.
6. Glaube kommt aus der Predigt – wo nicht Gottes Wort gepredigt wird, wird der Glaube verhindert und damit der Nächste um die Seligkeit gebracht, verführt.
7. Kirche ist erkennbar an Gottes Wort und Sakrament, nicht an den Personen, die auch Heuchler sein können, und nicht an den guten Werken, die auch Heuchler tun können – man kann auch ohne Liebe alle seine Habe den Armen geben!
8. Neben Gottes Wort und Sakrament andere Merkmale der Kirche aufzurichten oder unangefochten zu dulden (z.B. Zugehörigkeit zu einer bestimmten Rasse oder einem bestimmten Volk, Vertrauen zu bestimmten Personen, Anschluß an herrschende Ideologien, Zwangsherrschaft menschlicher Gesetze in der Kirche) ist Empörung gegen Christus und zugleich höchste Lieblosigkeit – und wo es angeblich aus Liebe zu Menschen geschieht, ist es eine teuflische, seelenmörderische Liebe.
9. Kirche, die nicht in stetem Kampf gegen Irrlehre und Ärgernis in ihren eigenen Gliedern steht, ist nicht Kirche Jesu Christi und heuchelt das Vaterunser (Primat der ersten drei Bitten!).
10. Dieser Kampf geschieht durch Gebet, Fürbitte, Schrifterklärung, Vermahnung, Protest bis zum öffentlichen Bekenntnis gültiger Schrifterkenntnisse. Selber darf sich niemand von der Kirche trennen, und wäre sie noch so korrupt, sonst ist er liebloser Sektierer, der die andern ihrem Verderben überläßt und darüber selber verdirbt. Von sich aus darf niemand dem andern die kirchliche Gemeinschaft kündigen, auch wo er aufs heftigste gegen falsche Lehre und falsches Tun beim andern protestieren muß, sonst macht er sich zum Herrn in der Kirche und wird so selber verwerflich. Aber wo die Gegensätze offen und unvereinbar ans Licht treten, da hat die Kirche zu entscheiden, – nach Prüfung an der Schrift und an den bisher gültigen Bekenntnissen –, auf welcher Seite ihr Glaube steht (und zwar sowohl als Einzelgemeinde wie als Landeskirche oder mit andern Kirchen zusammen).
11. Um der Liebe willen müssen solche Bekenntnisse der Kirche – dem Nichtglaubenden können sie und müssen sie wohl als »starre Glaubenssätze« erscheinen, aber es sind lebendige Glaubenssätze, die unter Einsatz von Leib und Leben nach Sinn und Buchstaben in der Kirche in Kraft zu setzen sind – die Grenzen der kirchlichen Gemeinschaft bestimmen!
12. Ein Bekenntnis, das nicht Kirchenzucht nach sich zieht, ist leeres Geschwätz und Stänkerei. Vorbehaltlich der Freiheit und Verborgenheit des göttlichen Willens – in der Kirche ist aber der geoffenbarte Wille Gottes zu predigen! – kann der Satz in der Kirche nicht zugelassen werden: man kann auch selig werden, ohne an den dreieinigen Gott zu glauben. Ebensowenig kann in der Kirche der Satz gepredigt werden: Liebe, die den Nicht-Volksgenossen ausschließt, ist auch schon christliche Liebe.
13. Der Glaube kann die Liebe gar nicht begrenzen, sondern entgrenzt sie. Versagung der kirchlichen Gemeinschaft ist nicht Versagung und Einschränkung der Bruderliebe. Wo einer im Herzen die Alleinherrschaft Christi ablehnt, kann die Kirche nicht feststellen; darum sind und bleiben immer Heuchler in der Kirche und in ihren Ämtern bis zur Offenbarung der wahren Kirche durch die Wiederkunft Christi. Aber wo diese Alleinherrschaft mit Worten und Lehren angetastet und begrenzt wird, das kann die Kirche feststellen, und sie soll und darf um der Liebe willen den »Bruder« nicht bei seinem Irrtum lassen und muß ihm, um ihn vor der Sünde des Selbstbetrugs und der Verführung zu bewahren, da wo er von seinem Irrtum nicht lassen will, das kirchliche Amt nehmen. Verbreitet er trotzdem seine Irrtümer weiter als Wahrheit in der Kirche, so hat ihn die Kirche zu meiden und nicht zu hören.
14. Es heißt Christus verleugnen und die Kirche, die ihm gehört, zerstören, wenn man einen Irrlehrer einstweilen im Amt läßt in der Hoffnung, er werde vielleicht doch noch einmal ein Zeuge Jesu Christi werden.
15. Der Theologe ist als Wächter der Ankläger, wo Irrlehre auftritt – aber jedes Gemeindeglied hat das gleiche Recht zur Anklage! –; zu richten und zu entscheiden hat aber nicht der Einzelne, sondern die Gemeinde und die Kirche.
16. Beides, die Gewißheit des Glaubens und die Liebe, erfordert Kirchenzucht, Prüfung der Geister und Scheidung der Geister (1. Johannesbrief!).
17. Im Glauben sind Kirche und Welt scharf getrennt; in der Liebe sind Kirche und Welt ganz verbunden.
18. Der Glaube soll die Liebe vor der Ansteckung des Bösen bewahren und in der Freiheit Christi erhalten; die Liebe soll den Glauben vor Selbstsicherheit und Überhebung bewahren, weil der Glaube sich eben darin als Glaube an Christus zu beweisen hat, daß der Glaubende den »irrenden« Bruder um Christi willen liebt, auch und gerade damit, daß er ihn angreift und züchtigt.
Iptingen, den 8. August 1936
Paul Schempp
Quelle: Paul Schempp, Briefe, ausgewählt und herausgegeben von Ernst Bizer, Tübingen: J.C.B. Mohr, 1966, S. 35-37.