Hans Joachim Iwands Lexikonartikel „Kultur, christliche“, die er 1954 für die erste Auflage des Evangelischen Soziallexikons geschrieben hat, ist immer noch bedenkenswert:
Christliche Kultur
Von Hans Joachim Iwand
1. Das Problem einer christlichen Kultur ist insofern ein echtes Problem, als es nicht nur ein theoretisches, sondern ein eminent praktisches Problem ist. Es muß immer neu gelöst werden, und von dem Gelingen dieser Lösung hängt unendlich viel ab. Es hat Epochen gegeben, die das Christentum ganz aufgehen ließen in seiner Auswirkung auf die Kultur, die also Christentum und Humanität gleichsetzen. Es hat andere, vor allem immer wieder von den Sekten vertretene Auffassungen gegeben, die das Christentum als streng außerweltlich verstehen und keine Verbindung zwischen kulturellem und christlichem Leben wahr haben möchten. Diese beiden Pole muß man im Auge haben, wenn man über den Begriff einer christlichen Kultur nachdenkt. Es gibt das Verhältnis einer völligen Auflösung des Christentums in die moralischen und sozialen Werte unseres zeitlichen Daseins, es gibt aber auch eine solche Distanzierung des christlichen Glaubens von aller innerweltlichen, staatlichen, sozialen, wissenschaftlichen und künstlerischen Lebensbewegung, daß diese gänzlich ihren eigenen Gesetzen überlassen erscheint. Diese Tatsache, daß wirtschaftliche und politische Vorgänge in kein echtes Verhältnis zum christl. Glauben gesetzt wurden, zeitigte schließt das furchtbare Verhängnis des NS, welcher von den Christen aus dieser ihrer indifferenten Haltung gegenüber der Kultur anfänglich bejaht und unterstützt wurde. Er ist das eindeutige Urteil, wohin wir kommen, wenn wir die Verantwortung des Christen für die kulturellen Vorgänge in der -»Welt vernachlässigen oder sie prinzipiell leugnen. Die sogenannte Lehre von den „Zwei Reichen“, die sich zu einer völligen Scheidung des irdischen und des himmlischen Reiches entwickelte, ist weithin der theologische Ausdruck dieser bewußten Un-Verantwortlichkeit geworden.
2. Andererseits ist das Christentum nicht primär ein Ereignis innerhalb der Kulturgeschichte der Menschheit. Diese hat ihre eigenen Wurzeln und ist für das Abendland mehr auf Griechenland und Rom ange-[747]wiesen, soweit es sich um Wissenschaft, Kunst und Recht handelt, als auf die Heilige Schrift. Auch darf die Erscheinung Jesu Christi auf Erden nicht so angesehen werden, als ob mit ihm eine bessere und höhere Moral unter uns Einzug gehalten hätte und er nichts anderes gebracht hätte als eben dies. Der Liberalismus des ausgehenden 19. und des beginnenden 20. Jahrhunderts hat ihn weithin so verstanden. Dieses kulturprotestantische Mißverständnis ist in den großen Kriegen und Revolutionen zerbrochen und untergegangen. Es hat ein Vakuum von Zweifel und Skepsis hinterlassen. Beide Versuche, das Verhältnis von Christentum und Kultur neu zu realisieren, der innerweltliche wie der eschatologische, der Versuch der Synthese (Verschmelzung) wie der Diastase (Trennung), haben ihre tiefe Krise erlebt. Beide haben sich theoretisch und praktisch als unhaltbar erwiesen.
3. Die Gegenwart ist dadurch gekennzeichnet, daß sie — und zwar in allen ihren geistigen und ethischen Bemühungen — den leidenschaftlichen Versuch macht, eine Neubestimmung des Verhältnisses von Christentum und Kultur zu erlangen. Wesentlich für diesen Versuch ist: a) daß sich in ihm Theorie und Praxis immer berühren, also die abstrakte Form christl. Existenz aufhört. Diese Form ist der theoretische Oberbau einer weithin unchristlichen Kultur, wie die Ideologien und Praktiken moderner Staaten und ihrer vor allem im Kriege offenbar werdenden Grundsatzlosigkeit beweisen. Aber dasselbe trifft man auch innerhalb der Wissenschaft, der Forschung und der Technik an. In der Begegnung zwischen Christentum und Kultur wird sich die Echtheit beider erweisen müssen; b) daß das Christentum nicht ein ihm traditionell vertrautes und liebgewordenes Bild von Kultur seiner Epoche aufzwingen darf, sondern sehen muß, daß es gerade Gerichte Gottes über leer und schal gewordene Kultur gibt; c) daß die Kultur sich gefragt sein lassen muß, wie weit die in ihr als der modernen Weltkultur liegende Gottlosigkeit ein mehr als theoretischer Faktor ist. Die Stellung zu Gott und seinem Wort ist kein indifferentes Problem für die Kultur. Es ist ein Wahn, anzunehmen, der kulturelle Raum sei Gott gegenüber „neutral“; d) von daher gewinnt die Frage nach dem echten Zeugnis der Kirche inmitten des kulturellen Lebens entscheidendes Gewicht, weil sich die Kultur in ihrem letzten Sinngehalt nicht aus sich heraus verstehen kann.
4. Daraus ergibt sich zweierlei. Einmal, die Kultur wird eminent dadurch bestimmt sein, ob Gott, seine Wirklichkeit, sein Gericht und seine Gnade innerhalb ihrer „Werte“ eine überlegene, nicht in diesen Werten untergeordnete, sondern freie und vorgeordnete Rolle spielt. Gott ist kein Wert. Er vermag alle kulturellen, auch religiöse Werte zu richten. Kein kultureller Wert kann der Menschheit den Verlust Gottes aufwiegen. Zweitens: Die christliche Kirche, ihre Lebensäußerungen und Betätigungen, muß darauf achten, daß sie immer die Einheit Gottes mit Jesus Christus bezeugt. Beides ist nur zugleich da oder gar nicht. Hier liegt die theologische Wendung, die sich gegenüber früher vollzogen hat. Früher war man der Meinung, daß Gotteserkenntnis und Christuserkenntnis zwei Stufen seien; die Gotteserkenntnis verlegte man in das kulturelle, moralische, allgemeine Denken, die Christuserkenntnis ins Persönliche. Es zeigt sich heute, daß die scheinbar humanistische Kultur antichristlich wird und daß furchtbare Auflösungen und Zerstörungen menschlicher Werte und sozialer Normen in ihrem Namen geschehen, daß umgekehrt die Kirche demgegenüber ohnmächtig ist, die nicht bei ihrem eigensten anhebt, bei der Offenbarung Gottes in Jesus Christus. Im Unterschied zum 19. Jahrhundert ist der Kirche das Thema der Offenbarung neu gestellt, der Kultur und allen kulturellen Wissenschaften aber das Thema des praktischen Atheismus. Wenn diese vom praktischen Atheismus tief bedrohte Welt die Botschaft von der Erscheinung Gottes in Jesus Christus vernimmt, dann tritt die Zeit unter den Anspruch der Ewigkeit, und die Kultur, auf [748] die wir warten, könnte der Ausdruck dafür werden, daß unsere Epoche diesen Anspruch neu gehört hat, daß er ihr durch das Zeugnis der Kirche rettend nahegebracht wurde.
Lit.: F. Schleiermacher, Monologe. Kritische Ausgabe von F. M. Schiele (1902). — F. Novalis, Die Christenheit oder Europa. Briefe und Werke, Bd. 3 (1943). — K. Holl, Die Kulturbedeutung der Reformation, Ges. Aufsätze, Bd. 1 (1923). — E. Troeltsch, Die Absolutheit des Christentums und die Religionsgeschichte (1912)2. — J. Burkhardt, Weltgeschichtliche Betrachtungen. Hrsg. von R. Marx (1935). — F. Overbeck, Christentum u. Kultur — K. Barth, Christentum und Kultur, in: Ders., Die Theologie und die Kirche (1928). — Ders., Die protestantische Theologie im 19. Jahrhundert (1947). — K. Löwith, Von Hegel zu Nietzsche (1950)2. — H. v. Soden, Christentum und Kultur in der geschichtlichen Entwicklung ihrer Beziehungen, in: Urchristentum und Geschichte I, 56ff. (1956). — G. Schnürer, Katholische Kirche und Kultur im 18. Jahrhundert (1941). — W. Elert, Morphologie des Luthertums II (1954)2. — G. van der Leeuw, Die Bilanz des Christentums (1947). — Rich. Niebuhr, Christ and Culture (New York 1951).
Friedrich Karrenberg (Hrsg.), Evangelisches Soziallexikon, Stuttgart: Kreuz-Verlag, 41963, Sp. 746-748.
…“die Kultur auf die wir warten“ist wohl die,die sich aus der christlichen Lehre idealerweise entwickeln könnte:Zunächst Naturschutz und Sozialgesetze,achtsamer liebevoller Umgang miteinander und daraus erwachsend ein gutes Jenseits ohne viele Wiederholungen des Lebens auf der Erde??