Hans Ehrenberg. Summe eines Lebens 1883-1932
Von Günter Brakelmann
Überblickt man die fast fünfzig Jahre des Hans Ehrenberg von 1883 bis zum Vorabend der NS-Zeit, so ist es eine Lebensgeschichte außergewöhnlicher geistiger Intensität und eines unüblichen politischen Engagements in krisenhafter Zeit. Ein junger Mann, der eine unbeschwerte Kindheit und eine von Humanismus und Idealismus geprägte Schulzeit gehabt hat, kommt mit der Wirklichkeit des Industriezeitalters im Studium der Nationalökonomie und der Sozialwissenschaften in Berührung. Seine erste Doktorarbeit bringt ihn in empirischen Kontakt mit der industriellen Arbeitswelt im Ruhrgebiet. Es entwickelt sich ein Interesse an sozialen Fragen und Sozialpolitik. Ein Interesse, das ihn durch das ganze Leben hindurch begleiten sollte.
Wie viele junge Menschen aus bürgerlicher Herkunft öffnet sich ihm das Wesen von Politik in der Begegnung mit dem protestantischen und sozialliberalen Pfarrer a.D., Reichstagsabgeordneten und Publizisten Friedrich Naumann. Die Verschränkung von Innen- und Außenpolitik wird ihm als Problem durch ihn bewußt. Aber noch dominiert das philosophische Interesse, das ihn zum zweiten Studium der Philosophie bringt. Auch dieses schließt er mit einer Doktorarbeit ab, der unmittelbar die Habilitation folgt. 1910 ist er mit 27 Jahren ein doppelt promovierter Privatdozent. Kant und Hegel, Aufklärung und Idealismus sind die philosophischen Berge, die es zu erklettern gilt. Aber auch durch Nietzsche muß ein philosophischer Jungakademiker hindurch.
In die Zeit des äußerst systematisch betriebenen Philosophiestudiums fallt 1909 sein Entschluß zur Konversion zum protestantischen Christentum. Der Umorientierungsprozeß von der systematischen Philosophie über die Religionsphilosophie hin zur Theologie beginnt mit der Lehrtätigkeit in Heidelberg. Die Abwendung vom deutschen Idealismus zu einem „neuen Denken“ wird immer konsequenter vollzogen. Ein christlich fundierter Existentialismus gewinnt die ersten Konturen. Entscheidend für diese Entwicklungsprozesse ist, daß sie nicht im Stile eines einsamen Denkers ihre Inhalte gewinnen, sondern immer in lebendigen, konfliktträchtigen Begegnungen mit etwa gleichaltrigen Freunden. In der Studienzeit ist es die Nähe zu Franz Rosenzweig, die dominiert. Das Thema Christentum-Judentum wird in einer konkreten biographisch-existentiellen Begegnung zweier Verwandter, die gleichzeitig Freunde sind, durchlebt und durchlitten. Die philosophische Kombattantenschaft zwischen beiden, die Hinwendung zu einem dialogisch gewonnenen und strukturierten Existenzverständnis, hat immer bestanden. Schwieriger ist die Verständigung zwischen beiden in der Zeit, als der eine auf dem Wege zur bewußt christlichen Theologie und Kirchlichkeit war, und der andere immer bewußter das Judentum entdeckte und seine Form des jüdischen Glaubens ausformte. Jahrelang bleibt es eine Parallelität, bis der Durchbruch zum wirklichen Dialog gelingt.
Vorher aber ist ein Krieg, der die noch vorhandenen Reste des traditionellen Lebensgefühls und der politischen Ordnung zerstört. Das Kriegs- und Fronterlebnis macht die Söhne des deutschen Bildungsbürgertums endgültig zu Dissidenten der „deutschen Bildungsreligion“ und läßt sie ihre existentielle und sprachliche Heimat in der Tradition jüdischer und christlicher Offenbarungsrealität finden. Am Ende des Krieges sind ihre Hauptwerke „Die Heimkehr des Ketzers“ und der „Stern der Erlösung“ geschrieben.
In der Entstehungs- und Entwicklungsphase dieser beiden Bekenntnisschriften überwinden beide gemeinsam die Entfremdungsphase der Vorkriegszeit. Sie entdecken und realisieren die reife Form der kreativen Begegnung: die Unterschiede zwischen dem Juden und dem Christen stehenzulassen und gegenseitig zu akzeptieren als Voraussetzung, unverkrampft den interreligiösen Dialog zu führen. In versöhnter Unterschiedlichkeit zu leben und zu arbeiten – das war das Geschenk der letzten gemeinsamen Jahre.
Hans Ehrenberg verbindet seine Entwicklung zum Theologen mit der Entwicklung zum politischen Publizisten im Krieg und zum politischen Engagement für Demokratie und Sozialismus. Diesen bewußten Überschritt in die Politik haben die Freunde nicht vollzogen. Hans Ehrenberg erkennt für sich die Aufgabe, Christentum und Sozialismus, Kirche und Arbeiterschaft in eine neue Zuordnung zu bringen. Der theoretische Dialog ergänzt sich bei ihm durch praktisch-politische Kombattantenschaft, um gemeinsam eine menschenwürdigere Gesellschaft zu erreichen.
Sein Berufswechsel von der Universität mit ihrem sterilen Betrieb und ihrer Reformfeindlichkeit, gepaart mit antirepublikanischen Tendenzen, in ein Gemeindepfarramt eines industriellen Ballungsgebietes dürfte die radikalste Entscheidung seines Lebens gewesen sein.
Es ist erstaunlich, mit welcher Intensität er sein neues Pfarramt ausgeübt hat. Er nimmt die Normalität dieses Amtes mit Predigt, Unterricht und Seelsorge voll an. Er spielt nicht die Rolle eines ewig unzufriedenen Intellektuellen, den es in die Niederungen eines kleinkreisigen Lebens verschlagen hat. Sein Wissen hat er der Gemeinde und der Kirche vermittelt, wo es gefragt war. Er pflegt auch nicht die schweifende Religiosität eines besonderen homo religiosus, sondern verortet sich selbst und seine Gemeinde immer mehr in der Tradition eines biblisch bestimmten und reformatorisch verstandenen Christentums. Gerade diese Konzentration macht ihn fähig, sich mit aktuellen Problemen aus Politik und Ökonomie zu befassen, ohne sich an sie zu verlieren. Seine Offenheit zur Arbeiterschaft und Sozialdemokratie hat er sich immer erhalten, auch wenn ihn sein parteipolitisches Engagement in den Christlich-sozialen Volksdienst (CSVD) geführt hat. Das hängt einerseits mit der Enttäuschung über die Politik der Sozialdemokratie zusammen, zum andern aber ist es Ausdruck seiner Theologie des Politischen, die einen dritten neuen Weg zwischen den beiden Extremen des Bolschewismus und des Faschismus sucht. In der Mobilisierung der Christen als Christen in weltlicher Verantwortung – verankert in Schrift, Bekenntnis und konkreter Gemeinde – sieht er in der Endphase der Republik die einzige inhaltliche und strategische Alternative zum Abfall in totalitäre Weltanschauungs- und Ordnungssysteme.
Der Lutheraner Ehrenberg hat immer zugleich ökumenisch gedacht. Wie er das jüdisch-christliche Verhältnis nur als offene Dialogbeziehung verstehen kann, so auch das Verhältnis zwischen dem Protestantismus, Katholizismus und der Kirche des Ostens. Hier wird ihm auch die Denk- und Praxisfigur der versöhnten Vielfalt in dem einen Leib Jesu Christi der Maßstab zum Verstehen der anderen und zur Einladung der Reform des Eigenen. Die Una-Sancta-Bewegung ist ihm eine Verpflichtung ebenso wie die „Begegnung mit dem Osten“.
Als „Christ aus Israel“ wird Ehrenberg mit dem zeitgenössischen Antisemitismus in seiner religiösen wie rassischen Variante konfrontiert. Es ist ihm von Anfang an klar, daß es hier nicht mehr nur um eine gepflegte intellektuell-argumentative Streitkultur mit den Völkischen, Rassenantisemiten und Nationalsozialisten geht, sondern am Ende um Tod und Leben. Über den Vitalismus und Fanatismus dieser Bewegungen hat er sich keine Illusionen gemacht. Spätestens seit den Hattinger Ereignissen hatte er hautnah erlebt, was in der Zukunft auf ihn zukommen konnte. Er hat sich in Reden und Schriften gewehrt, die „Krankheit des Antisemitismus“ nicht zum unkontrollierbaren Pestherd werden zu lassen.
Seine größte Enttäuschung aber ist das durchschnittliche Schweigen seiner Kirche und ihrer Führungsschicht zum politischen Antisemitismus und zum völkischen Nationalismus. Aber im ganzen sind die Jahre der Republik, die ein freies Publizieren und Diskutieren zuließ, noch zu ertragen und nie ganz ohne Hoffnung. 1933 beginnt die wirkliche Leidensgeschichte des Hans Ehrenbergs, die ihren Höhepunkt 1938-1939 im Konzentrationslager Oranienburg (Sachsenhausen) haben sollte. Die Jahre ab 1933 überbieten alles an Dramatik, was zuvor geschehen war.
Quelle: Günter Brakelmann, Hans Ehrenberg. Ein judenchristliches Schicksal in Deutschland, Bd. 1: Leben, Denken und Wirken 1883-1932, Waltrop 1997, S. 335-338.