Der Verkündigungscharakter der theologischen Wissenschaft. Thesen
Von Julius Schniewind
I. Theologie als Lehre
1. Jesus ist in seinem Erdenleben Lehrer. Aber in dieser Lehre als dem Evangelium erscheint die königliche Vollmacht des Menschensohns von Dan. 7, die Gegenwart der zukünftigen Gottesherrschaft.
2. In der Armut Jesu des Lehrers bekundet sich die Kondeszendenz Gottes. Die Gegenwart Gottes, in Jesus erschienen, wird nur von den „Armen“ aufgenommen. Diesen Charakter des Skandalon trägt auch die Lehre des erhöhten Christus (2. Joh. 9; Rom. 6, 17; Eph. 4, 21), der als der Erhöhte der Gekreuzigte bleibt.
3. Daher ist alle christliche Lehre in sich antithetisch (Kampf gegen Nomisten wie Antinomisten schon im Neuen Testament), ist theologia crucis im Gegensatz zur theologie gloriae des Juden wie des Heiden.
II. Theologie als Charisma
1. Die „Lehre“ ist Entfaltung des Logos Gottes zur Faßlichkeit und Behältlichkeit, zum Verstehn und Wissen. Sie bleibt in aller Entfaltung „Kreuzes-Logos“ und steht unter der Regel von 1. Kor. 8, 1-3; sie ist Entfaltung des Logos Gottes zum jeweils Notwendigen und Aufbauenden des Kerygma.
2. Entsprechend ist das Charisma der Theologie innerhalb der ecclesia perpetuo mansura zu bestimmen; die Theologie entfaltet das Eine Kerygma für die jeweilige geneá.
3. Die Armut der Theologie liegt darin, daß ihr keine securitas gegeben ist für biblische Formeln, Wörter, Wahrheiten, Tatsachen: certitudo, nicht securitas.
4. Die Gefahr der Theologie ist durch 1. Kor. 8, 1 ff. bezeichnet. Die Gefahr wird aber nicht durch Flucht vor der Theologie beseitigt. Die Flucht „aus der Lehre zum Leben“, die Flucht ins Ineffabile oder in die Orthodoxie ist immer nur Flucht vor dem Kreuzes-Logos selber.
III. Theologie als Wissenschaft
1. Die christliche Lehre als Entfaltung des Kreuzes-Logos vollzieht sich durch fortgesetztes geordnetes Fragen. Dies eben ist der Begriff der Wissenschaft. (Der Begriff einer „voraussetzungslosen“ Wissenschaft ist nicht zu halten; jede Thesis neuer Voraussetzungen aber ist letztlich theologisch gedacht, worüber von I, 3 her zu urteilen wäre.)
2. Aus dem Verkündigungscharakter der christlichen Lehre ergibt sich die wissenschaftliche Arbeit der Theologie.
A. Alle Fragen der Arbeit am Neuen Testament spiegeln die Kondeszendenz Gottes in ihrer Einmaligkeit: das Problem der Sprache, der Interpretation, der Jeweiligkeit (Gelegenheitsschriften!), des Skandalon.
B. Zum Alten Testament: 1. Das Alte Testament als Bibel Jesu; die Einmaligkeit der Wege Gottes im Alten Testament; 3. die Christusbezogenheit des Alten Testaments; 4. das Alte Testament als „Schrift“. Überall ergibt die Frage der christlichen Lehre den Auftrag zum wissenschaftlichen Fragen.
C. Nur aus der Verkündigung des dritten Glaubensartikels ergibt sich die Aufgabe, Kirchengeschichte zu treiben: es gilt die Stimme der perpetuo mansura zu vernehmen; dem dient auch die Fähigkeit der „historischen Kunst“.
D. Die Systematik als die eigentliche Theologie gibt die Botschaft der Apostel in ein jeweiliges Geschlecht der perpetuo mansura; (II, 1 und 2) mit seinen jeweiligen Antithesen (I, 3).
Von da aus wäre (E) Aufgabe der Praktischen Theologie, das Lehren zu lehren. Die wissenschaftliche Bemühung in all ihrer Armut wäre auch hier wieder ein Ausdruck für den Verkündigungscharakter der Theologie.
Quell: Theologische Literaturzeitung 72, 1947, Sp. 167-168.