Hans Ehrenbergs judenchristliche Predigt über Lukas 10,25-37 (Barmherziger Samariter) von 1933: „Wer seiner Liebe irgend eine Grenze setzt, bleibt ohne Nächsten und liebt überhaupt nicht wirklich.“

Hans Ehrenbergs Predigt über den barmherzigen Samariter (Lk 10,25-37) verdient besondere Beachtung. Schließlich hatte er sie als jüdischstämmiger Pfarrer 1933 in Bochum wider nationalsozialistischer Anfeindungen gehalten:

Predigt über Lukas 10,25-37 (Barmherziger Samariter)

Von Hans Ehrenberg

Vor zwei Jahren hörte ich in einem Nordseebad eine Predigt über den barmherzigen Sama­riter, in deren Verlauf Jesus zu einem »unvollkom­menen Sozialpolitiker« gestempelt wurde: Jesus predige nur die Linderung eines schon eingetretenen Unglücks, aber nicht die Verhü­tung eines noch nicht eingetretenen, wie dieses im heutigen Deutschland geübt werde.

Haben wir Jesus gegen diese sonderbare Herabsetzung zu ver­teidigen? Keineswegs, und um so weniger, als solche Verteidigung uns bereits abgenommen ist von einem sehr unheimlichen Advokaten, dem Teufel, der immer dafür Sorge getragen hat und weiter dafür Sorge tragen wird – leider –, daß neue Nöte oder Krankheiten, die »er« erfindet, an die Stelle solcher treten, die der Mensch durch seine beharrliche und bewunderungswürdige Fürsorge beseitigt hat.

Aber – geht es dem Herrn überhaupt um diese Frage? Geht es Jesus wirklich darum, den Um­fang von Menschenleid und Menschheitsnot einzuschränken? Oder ist sein Anliegen doch ein anderes, als er mit der Geschichte vom barmherzigen Samariter antwortet auf des Phari­säers Frage: wer ist mein Nächster?

Wahrlich, Jesu Anliegen ist ein völlig anderes. Wie konnte denn der Pharisäer sonst meinen, Jesus durch sein Fragen: wer ist mein Nächster, in Verlegenheit zu bringen? Wie konnte der Pharisäer beab­sichtigen, durch diese Frage – gerade durch sie – sich vor Jesus – gerade vor Jesus – rechtfertigen zu können? Rechtfertigen worin? In der Frage der Seligkeit.

Nimmt es einen nicht immer von neuem wunder, daß die Frage der Nächstenliebe ohne Jesus nicht beantwortet werden kann? Wozu brau­chen wir den Heiland gerade bei dieser Frage, die so menschlich klingt?

Nicht wahr, liebe Gemeinde, dazu haben wir nicht Jesus nötig, daß wir von besseren und schlechteren, liebloseren und liebevolleren Menschen erfahren. Denn der Herr predigt nicht für »gute« und nicht wider »böse« Menschen.

Ist also Jesu Anliegen ein so ganz anderes, dann erkennen wir es allein an dem Gegensatz zwischen dem Samariter und den beiden, die an dem zu Tode Verletzten vorüber gingen. Doppelte Feindschaft bestand zwischen dem Samariter und dem Juden: völkische und kirch­liche. Zwiefach waren die Samariter vom Juden verachtet, als Mischvolk und als unrechte Kirche. Bluts- und Kirchengemeinschaft dagegen verband Priester sowohl wie Levit mit dem unter die Mörder Gefallenen. Niemand dürfte wohl mehr Grund gehabt haben, an dem Juden vorüberzugehen als gerade der Samariter. Und mehr Anstands­verpflichtung sich ihm zu wid­men als der Priester und der Levit dürfte auch so leicht niemand gehabt haben!

Genau umgekehrt als zu erwarten, spielt sich der Vorgang ab. In dieser nicht erwarteten, über­raschenden Umkehrung liegt für Jesus das Anliegen seiner Erzählung. Es gibt keinen Näch­sten und kein Näch­stenlieben dort, wo nur vorhandene Ordnungen, Bindungen, Verpflich­tungen bestehen. Kein Nächster ist uns »gegeben«, ehe Gott ihn uns in den Weg stellt. Die naturhaften Gegebenheiten enthalten viele Aufgaben und Pflichten, aber zum Nächsten kom­men wir in ihnen nicht.

Sollten Priester und Levit ihren großen Aufgaben nicht mit wahrem Feuereifer nachgegangen sein? Was unterscheidet den Samariter von ihnen? Nur das Eine, daß er noch nicht »besetzt« war; die Tür zu seinem Herzen war noch nicht verschlossen und konnte überraschend geöffnet werden. Niemals weiß ich von mir aus, wer mein Nächster ist. Nur Gott weiß es, und Gott gibt ihn mir. Der Nächste kommt über uns wie Gott über uns kommt – unangemeldet wie der Dieb in der Nacht.

Da sagt man aus Verärgerung: mit diesem Menschen will ich nichts mehr zu tun haben, und siehe, es vergeht keine lange Zeit, da steht gerade dieser Mensch in schwerer Not vor mir und ist ohne, ja wider meinen Willen mein Nächster geworden. In der schönsten und glücklichsten Liebe muß die Stunde kommen, wo sich die Liebenden – Mann und Weib, Eltern und Kinder, Freund und Freund – als Fremde gegenüberstehen, vorher werden sie sich niemals echte Nächste sein. Der Nächste steht immer jenseits eines Grabens, und ich stehe diesseits, und ich muß hinüber. So war es bei dem Samariter und dem im Graben liegenden Juden: sinnbildlich ist stets ein Graben dort gewesen, wo Menschen sich zu Nächsten wurden, wo Menschen sich wirklich Liebe gaben. Der Samariter vergaß, als er die Not vor Augen hatte, wer da lag; er sah in dem blutenden Mitmenschen keinen Feind, keinen Fremden, nur einen Bruder.

Das ist die menschliche Liebe, die der göttlichen Liebe artgemäß ist. Denn Gottes Liebe kommt zu den Menschen ohne jedes Verdienst des Menschen. Der Sohn Gottes geht zu den Menschen, dient ihnen und rettet sie, ohne von ihnen die geringste Leistung zu verlangen. Der Vater im Gleichnis erblickt den verlorenen Sohn, als derselbe »noch ferne von dannen war«. Die Liebe Gottes macht aus Feinden Freunde, überwindet, versöhnt, bringt zusammen, bricht den Zaun ab sowohl zwischen Gott und Mensch wie zwischen Mensch und Mensch. Gottes­liebe ist nicht himmlischer als wahre Nächstenliebe, und Nächstenliebe ist nicht erdgebunde­ner als Gottesliebe; sie sind artverwandt.

Das Anliegen Jesu heißt also:

Auch der Nächste wird dir geschenkt. Du »hast« ihn nicht, er ist nicht vorhanden in dem Be­sitztum deiner Lebensaufgabe und deines Lebensplanes. Er kommt über dich ebenso unvor­bereitet wie über den Mann aus Samarien. Wirst du dann ebenso handeln wie der Samariter? Darum sagt Jesus zu dir: tue desgleichen! das heißt: öffne dich der Gnade, sei niemals mit deinem Herzen ganz besetzt, sei immer frei für einen neuen Nächsten, habe ein weites Herz und einen offenen Sinn! laß Gott in dich eindringen, wenn er dir – einen Menschen schenken will!

Priester und Levit aber? Sie hatten wohl »wichtigeres« zu tun und werden sich damit ent­schuldigt haben, falls das traurige Bild des blutenden Mannes sie zur Reue gemahnt haben sollte. Sie als Phari­säer, Fromme und Gestrenge, »hatten« ja das, was »zu tun« geboten ist; es war für sie eigentlich nicht nötig, für ihr Seligwerden sich neue Anweisungen geben zu las­sen; sie waren in keiner heiligen Unruhe, sondern hielten sich stets gerechtfertigt wie eben der Pharisäer, der gerade, um sich zu rechtfertigen, die überlegen klingende Frage stellte: wer ist denn mein Nächster?

Und darum widerspricht die Welt, widersprechen Könige und Propheten in der Welt dem, was wirklich der Nächste ist. Sie wollen zwar lieben, aber nach einem festgelegten Plane, oder nach einer bestehenden Ordnung. Etwa nach Stand oder Rasse, etwa nach Gesinnung oder Religion. Wer seiner Liebe irgend eine Grenze setzt, bleibt ohne Nächsten und liebt überhaupt nicht wirklich. Es widersteht der Welt, daß ihre erhabenen Ordnungen, Volkstum, Staat, Familie nicht endgültig bestimmen, wer unser Nächster ist. Die Welt sagt: das Hemd ist mir näher als der Rock. Aber die Gnade handelt so, als ob diese Wahrheit gar nicht da wäre. Kein Band des Blutes, keine Gesinnungsgemeinschaft bringt uns schon den Nächsten; das sagt dir dein Heiland. Und wie so oft sagt er dir auch beim barmherzigen Samariter ein Wort, das für dich ärgerlich klingt, das dir in bezug auf deine mit höchstem Ernst angefaßten Lebensauf­ga­ben auch gar nicht verständlich sein kann.

Wie, Gott liebe in uns seinen Feind? Wie, wir liebten nur dann wirklich, wenn ein Feind unser Nächster geworden sei? Ist es nicht richtiger, Jesu Worte vom Nichtwiderstehen dem Übel, von der Fein­desliebe, vom Segnen derer, die uns fluchen, alle diese Worte heute allein von der Volksgemeinschaft auszusagen und nur als für Volksge­nossen geltend zu erklären? Das ist allen Ernstes versucht worden. Dann aber raubt man der Liebe Jesu nicht nur die Weite der Liebe, sondern der Liebe ist der Nächste genommen. Ist sie dann noch – Liebe? Überall, wo man in der Welt auf Grund ihrer vorhandenen Ordnungen Liebe suchen geht, macht man die erschütternde Erfahrung, daß man dort Liebe ohne Nächsten, keine wahre und echte, keine volle und selige Liebe findet. Es sei denn, der große Samariter Christus hat aus seinem Reiche auch in die Weltordnungen von Volkstum und Familie jene Liebe eingeführt, die Sünde, Zorn und Not tilgt und überwindet!

Jesus ist auf dieser ganzen weiten Welt der Einzige, der uns Men­schen sagen kann, wer unser Nächster ist.

Und wenn die Gemeinde dies sein befremdliches Wort angenommen hat, dann dürfen wir aus seiner Erzählung von der Barmherzigkeit auch alles Erbauende und Erquickende aufnehmen. Dann dürfen wir uns erzählen lassen, welche Mühe sich der Samariter gab mit seinem zu sei­nem Bruder gewordenem Feinde, dürfen hören, wie er ihn speist und tränkt, auf sein Tier setzt und mit ihm durch die heiße Wüste Juda zieht, wie er ihn einem Gastwirt zur Pflege übergibt, diesem Geld hinterläßt, damit er genesen kann, und verspricht, auf dem Rückweg nach ihm zu schauen. Der Samariter hat sich nicht durch eine kleine Hilfe von der Liebeswerbung losge­kauft, die ihn durch die Not eines Nächsten gerufen hat – wie wir so oft tun; er hat gründliche Arbeit getan. Und zuletzt hat er seiner eigenen Liebe noch einen missionari­schen Wert ver­liehen, als er dem Gastwirt auferlegte, wenn nötig, einen Vorschuß zu geben, den er ihm bei seiner Rückreise zurück­erstatten wird; denn damit forderte er von dem, für den sein Tun ge­mäß der rechten Ordnung der Welt Beruf und Geschäft ist, von dem Wirte, zwar kein eigenes Opfer, aber ein Vertrauen zu seiner, des Samariters, Opfersinn und Nächstenliebe, auf daß, wie der Herr in der Bergpredigt sagt, die Welt unsere Werke schaue und um ihrer willen Gott im Himmel preise. Der Wirt stellt also die Welt dar in der Erzählung vom Samariter, die Welt, die durch die wahre Liebe aufgeweckt werden soll, um für den Ruf Gottes vorbereitet zu wer­den: den Juden liebt der Samariter, den Gastwirt missioniert er durch sein Lieben.

Hast du nun erkannt, liebe Gemeinde, daß der Herr mit seiner Erzählung dich gerade fortbrin­gen will, von dem Rühmen der guten Werke, von dem falschen Evangelium derer, die nur das »tue desglei­chen!« vernehmen und dann mit hochmütig geschwellter Brust vom »Tatchristen­tum« schwärmen, fortbringen will, um dich vor den Thron der Gnade, der Gnade allein, zu führen? Die Kirche hat es erkannt, indem sie als Episteltext zum barmherzigen Samariter ein Pauluswort setzt wider den Gesetzesglauben an die guten Werke.

Und wenn du es erkannt hast, Gemeinde Jesu, dann wirst du auch bemerken, daß der Herr selber uns noch eine fast unsichtbare Hilfe gegeben hat, sein eigentliches Anliegen ganz zu verstehen: Der Herr fragt nicht am Schluß, wer von den dreien, Priester, Levit und Samariter, hat einen Nächsten erhalten?, sondern es heißt: »Welcher dünkt dich, der unter diesen dreien der Nächste sei gewesen dem, der unter die Mörder gefallen war?« Wie wir Nächste werden, das ist Jesu Anliegen. Er will uns nicht über unsere Pflichten aufklären, sondern uns das Herz öffnen für den Gnadenweg im Verhältnis von Mensch zu Mensch. Er erlöst uns zur Liebe, daß wir Nächste werden! Denn er weiß: arm sind, die sich von niemandem für geliebt halten, ärmer noch, die niemanden lieben zu können meinen!

Das Lamm, das die Vergebung ist für die, welche das sehen und hören, was selbst Könige und Propheten nicht gehört haben und doch zu hören wünschten, das Lamm schenkt seinen Brü­dern und Schwe­stern nichts als Brüder und Schwestern.

Nun ist dies Evangelium für uns die herrlichste Verheißung geworden, voll Zusage, voll Pro­phetie. Der Herr verspricht seiner Kirche einen Strom von Liebeswundem. Er verspricht, daß der Mensch, den der lebendige Gott findet, auch den lebendigen Menschen findet, das heißt den Menschen, dem er zum Leben verhilft, und der ihn sein eigenes Leben finden hilft. Der große und ewige Samariter Christus verheißt den immerwährenden Samariterdienst seiner Jünger, und was er versprochen hat, ward Wahrheit und wird Wahrheit Tag für Tag. Ja, selig sind, welche solches sehen und hören. Nicht die Beamten Gottes, sondern die Kinder Gottes wissen, was sie »zu tun haben«, obschon sie es niemals voraus wissen, und sie fragen nicht, wie sie das ewige Leben gewinnen können, denn sie sind im Reiche Gottes, aber nie allein, sondern immer zu zweien und wieder zu zweien, du, mein Bruder, du, meine Schwester, und zugleich dein Nächster oder deine Nächste, und mit euch beiden der Herr, der euer beider Herr und Nächster ist.

Quelle: Bekenntnispredigten, hrsg. v. Julius Sammethreuther, Heft 20, München: Chr. Kaiser, o.J. [1934/35], S. 27-33.

Hier Ehrenbergs Predigt als pdf.

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