Von Hans-Joachim Kraus
Julius Schniewind, geboren am 28. Mai 1883 in Elberfeld. Theologiestudium in Bonn, Halle, Berlin und Marburg, 1910 Dr. theol. in Halle, im Ersten Weltkrieg Feldprediger, 1921 ao. Professor in Halle, 1927 o. Professor in Greifswald, 1929-35 o. Professor in Königsberg, abgesetzt und nach Kiel strafversetzt, 1936-48 o. Professor in Halle. Gestorben am 7. September 1948 in Halle.
Hauptschriften: EUANGELION. Ursprung und erste Gestalt des Begriffs Evangelium (1927/31); Das Evangelium nach Matthäus (1950); Das Evangelium nach Markus (1950); Nachgelassene Reden und Aufsätze, hrsg. E. Kähler (1952); Zur Erneuerung des Christenstandes, hrsg. H. J. Kraus/O. Michel (1966).
Wenige Wochen vor seinem Tode bemerkte Julius Schniewind im Gespräch, es komme ihm mehr und mehr zum Bewußtsein, daß er mit der Erforschung des Neuen Testaments noch einmal ganz von vorne anfangen müsse, doch sei und bleibe es seine Aufgabe und sein Ziel, die Studierenden in eine Begegnung mit dem über Leben und Tod entscheidenden Kerygma des Evangeliums hineinzuführen. Was war geschehen? Nach 1945 konnte Schniewind in den letzten Jahren seines Lebens in Diskussionen und Korrespondenzen mit Fachkollegen beobachten, wie sich ein gewaltiger Umbruch in der neutestamentlichen Wissenschaft anbahnte; er erkannte die ersten Anzeichen einer sehr differenzierten Traditionskritik, einer ruhelosen hermeneutischen Fragestellung und einer zunehmenden Verfeinerung der Methoden. Allen diesen Problemen wollte er sich stellen, sie von Grund auf durchdenken und im wissenschaftlichen Dialog aufnehmen. Er wollte neu anfangen — so wie seine ganze Lebensarbeit ein stets neu anhebendes Fragen und Forschen war. Doch dazu ist er nicht mehr gekommen. Sein Hinweis aber auf die Begegnung mit dem Kerygma ist uns ein Schlüssel zum Verständnis des theologischen Lehrens und der bleibenden Bedeutung Julius Schniewinds.
Wer ihm begegnete, ihn in Vorlesungen, Vorträgen oder Predigten hörte, wird ihn nicht vergessen können. Ein großer, hagerer Mann mit hochgerecktem Kopf, zunächst ruhig und gemessen in seinen Bewegungen, dann mehr und mehr von der Sache, die er lehrte, ergriffen. Er war ein Mensch der Rede, des mächtigen, vollgehaltigen Wortes, das an die Herzen und Gewissen drang. Nur wenig hat er geschrieben. Was er mitteilte, gab er in persönlicher Begegnung, die ausstrahlte, die den Hörer packte und unwiderstehlich anzog. Ein unerhörter Ernst und eine oft bestürzende Schroffheit gingen von ihm aus. Doch je näher man ihm kam, um so stärker erlebte man seine Güte und Milde, seine aufopfernde Hilfsbereitschaft und Fürsorge, die sich jedes einzelnen annahm und der nichts entging. Vom Grunde seines Herzens her war dieser theologische Lehrer ein Seelsorger, ein väterlicher Freund seiner Studenten. Und alles, was er lehrte oder tat, stand unter diesem Vorzeichen. Schniewind sah sich selbst in einer besonderen Traditionskette der Universität Halle und erinnerte immerzu an August Tholuck und seinen in tiefer Liebe verehrten Lehrer Martin Kähler. Als ihm im Jahre 1925 die Würde eines D. theol. der Theologischen Fakultät der Universität Halle verliehen wurde, sagte er in seiner Ansprache am Schluß: „Freund der Studenten zu sein, haben unsere Lehrer uns gelehrt. Freunde des jüngeren Kollegen sind sie alle gewesen, die Lebenden und die Entschlafenen … Das freudige Disputieren, als bestünde kein Altersunterschied, der freundliche Rat, hinter dem das Anteilnehmen des Herzens stand, das Persönliche im Theologischen, so war und so ist es hallische Tradition …“
Schniewind folgte seinem Lehrer Martin Kähler, wenn er immer wieder zum Ausdruck brachte, daß Theologie ihrem Wesen nach Theologie des Wortes Gottes sei. Dieses Wort aber ist nicht der Spielball wissenschaftlicher Eristik, es ist das Wort der höchsten Majestät und Autorität, die Himmel und Erde umfängt. Davon künden das Alte und das Neue Testament in unauflöslichem Zusammenhang. Von einem unvergleichlichen Geschehen geht dieses Wort aus. „Ich glaube an den Gott, der zu uns Menschen kommt. Ich glaube an den Gott, der mit den Menschen redet und mit uns Menschen handelt — und der selbst Mensch ward.“ Das ist Schniewinds Credo, erklärt durch die Sätze: „Die Schrift ist ja nicht ein Buch wie andere Bücher, vielleicht ein wunderbares Buch, sondern sie ist die Tat Gottes, ist die Geschichte Gottes mit den Menschen auf den Einen hin; aber diese Geschichte ist nicht vergangen, sondern im geschriebenen, geprägten Wort ist sie beständig Gegenwart. Hier ist ein Fragen, Rufen, Warten, Leben, Wandeln: Gott selbst hat es geweckt, und Gott selbst antwortet.“ In diesen Erklärungen erkennt man einen Grundzug der Theologie Schniewinds: Die Geschichte Gottes mit den Menschen im Alten und im Neuen Testament ist eine unaufhebbare und unaufgebbare Einheit. Darum kann man „die Evangelien nicht lesen, ohne auf Schritt und Tritt nach dem Alten Testament zu fragen, in das Alte Testament hineinzufragen“. Dieser gesamtbiblische Aspekt ist kennzeichnend für die Interpretationsweise Schniewinds im Neuen Testament, insbesondere in den beiden Kommentaren zum Matthäus- und Markus-Evangelium. Doch nicht eine Geschichtstheologie ist hier im Spiele und sucht das Ganze zu durchschauen und zu umgreifen. Es galt für ihn, das je neue Wort, die Botschaft zu hören und aufzunehmen, den kerygmatischen Zusammenhängen zu folgen. Angesichts vielfältiger Zersplitterungstendenzen in der Bibelforschung arbeitete Schniewind beharrlich und konsequent an der Frage nach der Einheit der biblischen Botschaft. — Man sieht heute ein wenig geringschätzig auf die „Konkordanz-Methode“ und die systematische Erfassungsintention Schniewinds hinab. Aber es fragt sich doch, ob seine Forschungen und Lehren nicht zum mindesten ein sehr wesentlicher und dringlicher Appell sind, in aller traditionskritischen Zerfaserung des Neuen Testaments nach der Einheit der biblischen Botschaft und nach dem inneren Zusammenhang im Nuancenreichtum zu forschen. Insbesondere enthält die fortgesetzte Bezugnahme Schniewinds auf das Alte Testament eine ernste Frage an die das Evangelium isolierenden Tendenzen der neutestamentlichen Wissenschaft.
Bemerkenswert ist wohl auch, daß Schniewind jenem vagen Kerygma-Verständnis, das auch heute noch weithin bestimmend ist, entgegentrat. Er kannte diese eigenartige Phänomenologie der Erfassung kerygmatischer Intentionen des Neuen Testaments nicht. Gewissenhaft arbeitete er, beginnend in seiner Dissertation „Die Begriffe Wort und Evangelium bei Paulus“ (1910) bis hin zu dem zweibändigen (unvollendeten) Werk „EUANGELION“ und den späteren Veröffentlichungen, an den neutestamentlichen Grundbegriffen. Und stets war jede Einzelstudie auf das Ganze des Geschehens, von dem das Neue Testament kündet, bezogen. Einige Thesen deuten an, worum es geht: „Das Wort Christi ist die Kraft der zukünftigen Welt, ewiges Gericht und ewiges Heil sind darin beschlossen.“ „Das Wort ist Freudenbotschaft für die Armen, ist Gottes Friedenswort. Es ist zugleich das Gericht. Der Weltenrichter richtet durch das Wort; er spricht durchs Wort gerecht.“ „Gottes Wort ist Gottes Tat. So er spricht, so geschieht’s. So spricht der Herr. Gott sendet Jesus als den Einen Boten. Sein Reden, Tun und Leiden ist Fleischwerdung des Wortes. Im Wort seiner Boten redet der Erhöhte selber.“ „Die Gemeinde lebt allein vom Wort. Es ist das Wort des Lebens, der neuen Geburt. Es gilt, das Wort festzuhalten, im Wort zu bleiben, das Wort zu bewahren.“ In dieses Wortgeschehen wußte Schniewind sich selbst und alle, die ihm zuhörten, einbezogen. Bezeichnend ist der Passus eines Briefes, in dem es heißt: „Am Wort erfolgt die ewige Entscheidung. Wer von meinen Hörern dem Wort wirklich begegnet, das kann ich als Redender gar nicht wissen; genug, daß ich dem Wort begegnet bin und begegne und also unter der ewigen Entscheidung stehe, von der Paulus in I. Kor. 9,23.27 so erschütternd redet …“
Doch in diese Wort-Theologie Schniewinds, die er, der Charismatiker unter den Theologen, mit überwindender Vollmacht lehrte, war ein hartes Und unerbittliches kritisches Forschen und Fragen eingeschlossen. Bei ihm lernte man es, „daß man die Strenge der Kausalitäten bis zum letzten verfolgt; daß jede gefundene Antwort schon in sich eine neue Frage ist“. Bei ihm geschah es, „daß man das platonische Staunen immer neu lernte und also niemals aus dem Entdecken herauskam“. Dieses kritische Forschen und eindringliche Fragen konnte er folgendermaßen beschreiben: „Alles geschichtliche Forschen bedeutet Gespräch mit einem Vergangenen, ähnlich dem Gespräch mit einem lebendigen Menschen, und die Uninteressiertheit der historischen Arbeit kann nur bedeuten, daß wir den anderen erst einmal ruhig anhören, ihn erst einmal ausreden, ihn in seiner Eigenart gelten lassen. Aber das Anhören wird in sich selbst ein Fragen und das Fragen ein Gespräch, und die historische Arbeit ist nicht am Ziel, ehe sie nicht dem geschichtlichen Gegenüber die jeweils letzte erreichbare Frage stellt: ‚Wer bist du eigentlich?‘ Wir nennen diese Frage die Wahrheits-, die Geltungsfrage, und immer dann, wenn diese letzte Frage leidenschaftlich gestellt wurde, gewinnt die historische Erkenntnis ihre schönsten Ergebnisse.“ So befragte Schniewind unablässig eine letztlich vielleicht belanglose Aufhäufung historischen Wissens. Er drang auf die Wahrheitsfrage und konnte dann sagen: „Die Frage, was eigentlich geschieht bei uns Menschen und in der Welt da draußen, war und ist mit wissenschaftlicher Methode nicht zu beantworten. Hier meldet sich das Problem unserer Existenz.“ Aber das Existentielle war für Schniewind kein subtiler Gegenstand einer Existenzphilosophie oder -theologie, sondern Vollzug, Wahrheit unter dem Wort. Leidenschaftlich widerstand Schniewind einer Trennung oder einem Gegensatz von Lehre und Leben: „Lehre ist nicht Sekundäres, das hinter der Unmittelbarkeit des Zeugnisses zurücktreten sollte. Wenn über hundert Mal von Jesus gesagt wird, daß er ‚lehrt‘, daß er ‚Lehrer‘ heißt; wenn nach Röm. 6,17 die Lehre wie eine Herrin ist, der die Christen übergeben wurden, der sie sich im Gehorsam unterwarfen und dadurch von der Sklavenherrschaft der Herrin Sünde befreit wurden; wenn in den Johannes-Schriften der Kampf zwischen der Lehre des erhöhten Christus und der libertinistischen Lehre durchkämpft wird, so reicht unser Gegensatz ‚Leben und Lehre‘ nicht aus. Es geht beim Gegensatz von ‚Leben und Lehre‘ faktisch um zwei Lehren, eine Lehre Christi, die ewiges Leben ist, und eine ‚Lehre der Dämonen‘, die ewiger Tod bedeutet.“
Diese innige Zusammengehörigkeit von Leben und Lehre, von Schniewind unablässig betont, prägt ein neues Gesamtverständnis von Theologie. Sie ist Charisma, das Leben erfüllende und durchdringende Gabe. Von diesem Charisma ist auch jedes Laienchristentum getragen. Alles Forschen und Lehren, alles Wissen und Erkennen, stand für den vollmächtigen Interpreten des Neuen Testaments unter dem Vorzeichen: „Was hast du, was du nicht empfangen hast?“ (I. Kor. 4,7). Die Gnosis, das selbstmächtige Erkennen, „bläht auf“ (I. Kor. 8,1). Zu den Armen aber kommt das Evangelium. Gnade und Charisma sind in den Schwachen mächtig (II. Kor. 12,9). Zeit seines Lebens hat Schniewind auf diese Grundvoraussetzungen allen theologischen Arbeitens und Denkens, Forschens und Lehrens hingewiesen. Hier liegt für ihn der Herzpunkt aller Existentialität. Darum konnte er heftig und schroff dem aus der Gnosis erwachsenen Umgang mit dem Kerygma und seiner „existentiellen Beziehung“ widersprechen. Er durchschaute das erregte Reden von „Existenz“, unter dem das Leben selbst sich der Botschaft entzog. In einem seiner Aufsätze schrieb Schniewind: „Es gibt in der neueren Theologie und Philosophie ein Reden vom ‚Wagnis‘, von der ‚Entsicherung‘, dessen Ergebnis doch nur eine neue securitas ist. Man kann sehr stolz darauf sein, alle Sicherungen zu zerschlagen.“ Martin Luther folgend, wird die securitas (Sicherheit) verbannt, wie auch immer sie sich darstellen und behaupten mag.
Julius Schniewand war ein Theologe der Kirche. In ihr lebte er, ihr diente er. Das Pfarramt war für ihn die Krone. Alles Forschen und Lehren war ausgerichtet auf die Verkündigung, war ein Umpflügen und Vorbereiten des Feldes, auf dem das Charisma der Prophetie, der vollmächtigen Übermittlung der Botschaft, wachsen sollte. Leidenschaftlich und lebendig war sein Anteilnehmen an der Arbeit und an dem Leben verschiedenster Gruppen und Kreise der Kirche. Der in einem reformatorisch bezogenen und geläuterten Pietismus herangewachsene und unterwiesene neutestamentliche Lehrer stand den pietistischen Gruppen sehr nahe; sie hörten auf ihn, er war für sie der vertrauenswürdige Theologe, von dem sie sich auch harte kritische Fragen stellen ließen. Die Sorgen und Nöte der Kirche bewegten den oft so einsamen und gequälten Mann, der im Kirchenkampf, zur Zeit seiner Lehrtätigkeit in Königsberg, der geistliche Vater der Bekennenden Kirche Ostpreußens war. Mit Hans Joachim Iwand und Martin Noth führte er den Kampf, bis er abgesetzt, zuerst nach Kiel strafversetzt, aber auch von dort wieder verbannt, nach Halle zurückkehrte und mit Ernst Wolf und Otto Michel in der Provinz Sachsen als theologischer Lehrer der Bekennenden Kirche wirksam war.
Nichts aber kennzeichnet den Lebenseinsatz und die aufopfernde Tätigkeit Schniewinds eindrücklicher als sein letzter, bedeutsamer Schritt. Im Jahre 1945 trat der von Hunger und Krankheit gezeichnete theologische Lehrer einen schwierigen und aufreibenden Dienst in seiner Kirche an. Neben der Professur und neben der Mitarbeit in der Studentengemeinde übernahm er das Amt eines Propstes im Bezirk Halle-Merseburg. In Konventen richtete Schniewind seine Botschaft an die Pastoren, führte zahllose Einzelgespräche, richtete die Mutlosen und Verzagten auf und war in den Zeiten der Verwirrung ein pastor pastorum von überwältigender Güte und Hingabe. Das Vermächtnis seiner Sorge um die ihm anvertrauten Prediger des Evangeliums liegt in der Abhandlung „Die geistliche Erneuerung des Pfarrerstandes“ vor. So war Schniewind in den letzten Jahren seines Lebens rastlos unterwegs. Erschöpft und krank reiste er in kalten, überfüllten und schmutzigen Zügen, übernachtete er in überheizten Wartehallen oder eiskalten Unterkünften. Als er sich einer Operation unterziehen mußte, waren seine Widerstandskräfte erlahmt. Einsam starb er am Todestag seines Lehrers Martin Kähler. Auch über sein Leben könnte man den Leitspruch Martin Kählers setzen: „Aliis in serviendo consumor“ (im Dienste für andere verzehre ich mich).
Quelle: Hans Jürgen Schultz (Hrsg.), Tendenzen der Theologie im 20. Jahrhundert. Eine Geschichte in Porträts, Stuttgart: Kreuz-Verlag 21967, S. 219-224.
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