Drei Wochen nach Kriegsende 1945 schloss Paul Schempp sein Manuskript „Der Weg der Kirche“ ab. Es ist die radikalste Kritik am kirchlichen Versagen im Nationalsozialismus. Richard Gölz (1887-1975) bereitete diesen Text für eine Drucklegung bei H. Laupp in Tübingen vor, was jedoch die württembergische Kirchenleitung seinerzeit zu verhindern wusste.
Der Weg der Kirche
Von Paul Schempp
Hat uns Gott, und nicht ein Schicksal, nicht die vom Nationalsozialismus vergeblich gelenkte Vorsehung, nein Gottes gerechter Zorn und dann gewiß auch die heimsuchende Gnade des Christus, dem alle Gewalt gegeben ist im Himmel und auf Erden, in dieses furchtbare Elend geführt, dann muß die Kirche um ihre eigene Schuld Bescheid wissen oder sie wird jetzt voll Zuversicht nach allen Hilfen und allen Möglichkeiten des Wiederaufbaus greifen und wieder Fleisch für ihren Arm halten, wieder sich auf Assur und Ägypten stützen, wieder vom steigenden Kurs der Religion sich bestimmen lassen und eine allgemeine Wiederverkirchlichung und Verchristlichung des Volkslebens zum Motiv ihres Handelns machen.
Wo kommen wir her? Erstens von einer so gründlichen Auflösung der christlichen Verkündigung in anarchische Sekten- und Pfarrersfrömmigkeit und von einer so gründlichen Verwechslung der kirchlichen Aufgaben mit menschlichen Idealen, daß die Kirchen Deutschlands zuerst einmal hemmungslos auf den Nationalsozialismus hereingefallen sind. Wer das bestreiten will – und jeder will es heute für seine eigene Person bestreiten –, der kann leicht durch eine Unzahl amtlicher und offizieller Äußerungen aus dem Jahr 1933, durch Wort und Schrift der Kirche, der Pietisten, der Liberalen, der »Positiven«, der Vertreter der inneren Mission, der theologischen Blätter, kurz der gesamten sich zum Vertreter des Christentums berufen fühlenden Öffentlichkeit einwandfrei widerlegt werden. Alles, was hinsichtlich der Christenheit der neuen Bewegung stutzig machte, schrieb man einem programmwidrig radikalen Flügel der Partei zu, den abzuschneiden oder mindestens zu beschneiden gerade als Aufgabe der Kirche und der » kirchlich Gesinnten« innerhalb und außerhalb der Partei betrachtet wurde. Eine Ernüchterung begann erst, als die »Deutschen Christen« laut das Alte Testament lästerten und tumultuarisch die Führung der Kirchen beanspruchten. Und nun begann der Kirchenstreit.
Wo kommen wir her? Zweitens von einem Erwachen eines Teils der Kirche zur Erkenntnis ihres Wesens und ihrer Aufgabe. Freilich muß sogleich gesagt werden, daß dieses Erwachen in der »Bekennenden Kirche« in erster Linie den Gewaltmethoden der Deutschen Christen und des sich mit diesen verbündenden Staates zu verdanken und erst in zweiter Linie von der Rückkehr zur Schrift als dem göttlichen Zeugnis und zur reformatorischen Lehre als der noch nicht widerlegten gültigen Auslegung dieser Schrift veranlaßt war. Dieser Kirchenkampf erwirkte eine deutliche Aufspaltung des Volkes:
a) bewußte Abkehr von den Kirchen entweder mit der Entrüstung des schon immer Neutralen gegen Zänkerei, Dogmenstreit und Machtkampf angeblicher Jünger des ach so toleranten Herrn Jesus oder mit der nicht neuen, aber immerhin diesmal neuartigen dummdreisten Anmaßung und Erfindung einer art- und volksgemäßen eigenen Religion, die dann später ihre kurze Geschichte wesentlich mit Einigungsversuchen, Spaltungen, Neugründungen und privaten Phantasieprodukten füllte, um schließlich in der alles verschlingenden Hochflut der nationalsozialistischen »Weltanschauung« mitzusprudeln;
b) die Bewegung der Deutschen Christen, getragen von Hochschullehrern, Pfarrern und »religiös interessierten« Gebildeten, die im Ernst in der Verschmelzung von Nationalsozialismus und Christentum den göttlichen Auftrag an die Gegenwart zu erkennen meinten und unter dem Halb- und Randchristentum der Volkskirche eine schöne Ernte hielten, soweit sie ihre kirchliche Legitimation durch recht- oder unrechtmäßige Bischöfe und Konsistorien besaßen, die ja besonders in Norddeutschland in diktatorischer Neuordnung und in teils lieblicher, teils gehässiger Propaganda ebenso rührig wie von der Sache der Kirche unberührt waren;
c) die im wesentlichen aus dem Pfarrernotbund, den Niemöller geführt hatte, zur Gestaltung kommende »Bekennende Kirche«. Sie hat in der Synode von Barmen eindeutig Christus als ihren alleinigen Herrn, aber auch als den Herrn aller Herren bekannt und hat in der Synode von Dahlem den klaren Trennungsstrich gegen die Irrlehre und Irrlehrer der Deutschen Christen gezogen.
So viel Menschlichkeit, Halbheit, Angst und Dummheit auf diesen Synoden auch sichtbar geworden ist, Gottes Wort war doch wieder auf dem Plan und zur Richtschnur der Kirche geworden, und damit entstand durch Erweckung vom Tode auch im ganzen Reich wieder Kirche, tapfere Gemeinden, die ohne Hilfe des Staates, ohne staatsgesetzliche Ordnung, ohne Anerkennung ihres Existenzrechtes das Wort hörten, der Irrlehre begegneten und erfuhren, daß die Freiheit Christi stärker ist als die Macht der Welt. Der beschränkte Reichsbischof Müller verschwand, der gewalttätige und raffinierte Herr Jäger scheiterte, der Staat gab den Versuch der gewaltsamen Gleichschaltung auf und verhandelte. Aber schon war auch der Verrat am Werk. Er kam nicht von Mitläufern, die ihrer politischen Opposition mit dem christlichen Bekenntnis Bahn machen wollten, sondern er kam von den »intakten Landeskirchen«, d. h. von den Landeskirchen, die durch die Bekennende Kirche ihre bisherige Ordnung und Führung gerettet oder wiedererhalten hatten.
Wo kommen wir her? Drittens von der Sabotage und dem Zusammenbruch der Bekennenden Kirche. Die Geschichte dieses Niederbruchs ist verworren genug; sie ist aber jedenfalls gekennzeichnet durch wachsende Ausschaltung der Gemeinden, diplomatische Doppelspiele, theologische Unwissenheit, kirchlichen Egoismus, fortlaufendes Zurückweichen vor dem nationalsozialistischen Absolutheitsanspruch und durch den Kampf um Rechte und Ordnung, ehe überhaupt nach der Vollmacht durch die Legitimation von Schrift und Bekenntnis gefragt wurde. Die intakten Landeskirchen verhandelten, sie verhandelten mit den Deutschen Christen, mit dem Staat, untereinander, mit den bekennenden Kirchen der »zerstörten Gebiete«, und sie wollten immer beides sein, »Körperschaften des öffentlichen Rechtes« im Nazistaat und Bekenntniskirchen, und in allen Entscheidungsfragen siegte die Sorge um das Körperschaftsrecht, um die Anerkennung durch den Staat. Der zahmere Teil der Deutschen Christen wurde legitimiert, bekenntniswidrige Verkündigung und Sakramentsverwaltung geduldet und anerkannt, die Barmer Botschaft von »lutherischen« Theologen kritisiert, den Gemeinden unterschlagen und praktisch außer Kraft gesetzt. Ergebnisse aller Verhandlungen waren Kompromisse, die fortzeugend neue Kompromisse gebärten.
Vor den Gemeinden war man so orthodox und fromm und christusgläubig – und vorsichtig wie möglich, vor dem Staat so ergeben und vaterländisch und entgegenkommend wie möglich. Ergebnis war: Ablehnung der Lehrzucht, Distanzierung von denen, die verfolgt wurden, wobei natürlich die Fürbitte und das Asylrecht als genügende Zeichen des Bekennertums hochangeschlagen wurden, die praktische Durchführung des Arierparagraphen, die Vermeidung des offenen Nein gegen den Weltanschauungsunterricht, ja eine lutherische Landeskirche erklärte sogar die nationalsozialistische Weltanschauung – nicht religiös, aber politisch! – als verbindlich für den Christen, weiter die wachsende Flucht aus aller Beurteilung des öffentlichen Lebens aus Angst vor der »Politik«, so daß die Gemeinden über die praktischen Folgen der 10 Gebote, über ihre Verantwortung vor dem Staatsleben nur fromme Phrasen statt Entscheidungen zu hören bekamen. Selbsterhaltung – natürlich um Raum für das Evangelium zu haben – war das Ziel, die Richtschnur aller Entscheidungen.
Der Staat, der nichts von seinen totalen Forderungen auf Leib und Seele aller Untertanen nachließ, konnte nun leicht versichern, daß er Religion und Bekenntnis nicht antaste, denn was mit offener Gewalt nicht gelang, gelang um so sicherer mit langsamer Erdrosselung aller Rede- und Handlungsfreiheit der Kirchen. Freilich waren die Kirchen noch Widerstandsnester, deren völlige Ausrottung bis in die Zeit nach dem Kriege aufgespart werden sollte, aber gefährlich waren sie nicht mehr. Die vorsichtigen schriftlichen und geheimgehaltenen Proteste brauchten nicht mehr ernst genommen zu werden. Die christliche Presse lebte von der Angst vor der Zensur, die theologischen Schulen der Bekennenden Kirche wurden geschlossen, die theologischen Fakultäten kapitulierten freiwillig vor dem Zeitgeist, die Anstalten der Inneren Mission fielen bis auf wenige dem wahnsinnigen Aufforstungsplan Rosenbergs und Himmlers zum Opfer, das Alte Testament wurde im Religionsunterricht zurückgestellt, weithin ganz ausgeschaltet, ja schließlich konnten Führer der Bekenntniskirche durch zusammengeworbene Vertrauenskundgebungen zu Autoritäten erwachsen, gegen die ein Widerspruch an sich schon unchristlich war, und konnten sich der Staatsführung anbiedern durch Betonung ihrer politischen Zuverlässigkeit. Es führt eine Linie von den Zöllnerschen Ausschüssen, dem Lutherischen Rat, der Eidesleistung der Pfarrer, den Kundgebungen zu den Kriegsereignissen bis hin zu der Tatsache, daß der Landesbischof Wurm seine Geistlichen dem Verbrechen des Volkssturms zur Verfügung zu stellen bereit war, sicher auch aus Angst, die Ehre der Geistlichen würde damit angetastet, da sie als wehrunwürdig erscheinen könnten. Himmlers Ablehnung der Geistlichen, als unzuverlässiger Elemente, ist es zu danken, daß nicht auch die Pfarrer an den letzten Zerstörungen des Landes durch Teilnahme am Widerstand des Volkssturms mitschuldig wurden. Gerade das bißchen Protest, das von Zeit zu Zeit gewagt wurde, am schärfsten bezeichnenderweise da, wo es um die Freiheit der kirchlichen Finanzverwaltung ging, gerade das beweist, daß die Kirchen um Wesen, Ziel und Taten der Nazidiktatur sehr wohl Bescheid wußten.
Die Bekennende Kirche ist durch die Schuld der Landeskirchenführer zur stummen Kirche geworden. Die alte religiöse Sitte repräsentieren, am laufenden Band Trost-, Hochzeits- und Gedächtnisreden halten, taufen und Bibelsprüche in die Häuser tragen, daneben Millionen von Nachweisen arischer Abstammung schreiben, die tausendfachen Verwaltungsgesetze gewissenhaft ausführen, das war die Aufgabe der Geistlichen, und es gab schließlich keinen Schrifttext, der nicht um seine Klarheit und Gefährlichkeit gebracht werden mußte, um nicht Unannehmlichkeiten zu riskieren, d. h., meist merkten schon die Prediger gar nicht mehr das offene Nein ihres Textes zum Totalitätsanspruch des »Dritten Reichs«. Das Bekenntnis war nur zu sehr gerettet, so unangetastet, daß die Kirchen darüber das Bekennen vor den Leuten vergaßen, daß man das Wesen des Bekenntnisses als Scheidewand, als Losung, als Schwert gegen Irrtum und Verführung und als Zeugnis gegen die falschen Brüder außer acht ließ, daß man das Volk, mit dem so innig verbunden zu sein man ständig beteuerte, ungewarnt in dieses Verderben gehen ließ.
Hat man die Lüge vom aufgezwungenen Krieg nicht gemerkt oder nicht merken wollen? Wo war dann der heilige Geist der Wahrheit und der Erkenntnis? Hat man den Mißbrauch des Namens Gottes bei den laufenden Massenvereidigungen nicht erkannt? Wie schlau hat man den Antisemitismus mindestens zur Hälfte biblisch gerechtfertigt und die bleibende Erwählung Israels und die jüdische Herkunft des Christus verschwiegen. Was hat die Kirche tatsächlich gegen die maßlose Selbsterhöhung des Volkes, gegen die Lehre vom Selbstvertrauen, von der die angeblichen Nazi-Tugenden belohnenden Gnade der Vorsehung, von den erfundenen geschichtlichen Aufgaben der germanischen Herrenrasse gesagt und gelehrt? Wo bekam der, der Christ sein wollte, eine klare Antwort auf die Fragen der Wahlfälschung, der Verpflichtung und Begrenzung des Eides für den Soldaten und Beamten, der Sterilisierung der Erbkranken, der Tötung von Kindern und Greisen und Unheilbaren, der Gründung des Rechts auf ein dem Volk angedichtetes gesundes Rechtsempfinden usw.? Wenn man schon schwieg zu den groben Sünden, zu Rechtsbruch, Schmarotzertum, Bereicherung, Huren und Prassen der Großen, so hatte doch die Kirche das Gesetz Gottes auszulegen und dem Sünder die Gnade zu verkündigen vor denen, die noch hörten.
Allgemein, unverbindlich, ohne den Schaden Israels aufzudecken, ohne die verführenden und verlockenden Mächte mit Namen zu nennen, hat man wohl viel von Sünde, Buße, Gnade, Erlösung, Freiheit, Reich Gottes, Auferstehung und Ewigkeit geredet, aber wie man nach dem letzten Weltkrieg auf die Veräußerlichung verfallen ist und zu allem etwas zu sagen zu müssen vorgab, zu Krieg und Pazifismus, zu Wirtschaft und Arbeiterfrage, zu Alkoholgenuß und Freidenkertum, zu Materialismus und Sozialismus, zur Anthroposophie und zu den Sekten, zu Ehe und Todesstrafe, zu Versailles und Kriegsschuldlüge und die Vereine und Geld- und Menschensammlungen zu zahllosen guten Zwecken nur so ins Kraut schossen, daß die Geistlichen vor lauter innerer und äußerer Mission, Gustav-Adolf-Feiern, Jugendwerk, Frauenwerk, Arbeitervereinen, christlicher Presse, Vorträgen, Volksdienst bis zu evangelischen Lebensversicherungen keine Zeit mehr hatten, nach den Maßstäben von Predigt und Sakramentsverwaltung zu fragen und die Gemeinden mehr amüsiert als unter Verheißung, Gesetz und Freiheit Christi zum Lobe Gottes versammelt wurden, so ist man jetzt auf einmal der Verinnerlichung verfallen und hat die Christen seelisch über Bosheit und Leiden der Welt hinweggetröstet, sie aber im Fleisch ruhig mitmarschieren lassen und heißen in der verschworenen Volksgemeinschaft, in der ja alles so unwidersprochen richtig, gesund, gut, ehrenhaft, sozial, gerecht und gottwohlgefällig zuging und geordnet war.
Man konnte so schön zweigleisig fahren: hier Bekennende Kirche, in der so überzeugungstreu – freilich auch mit falschen Tönen – Evangelium verkündet wurde für das arme unterdrückte, leidende Christenhäuflein (wie wenig haben sie als Christen gelitten!), und da die verfaßte Rechtskirche, wo mit ängstlichen Rufen nach »Rechtsgrundlagen« – freilich gelegentlich auch fast mutig – um Duldung und konservative Behandlung der auch dem Staate ach so wichtig sein sollenden kirchlichen Belange gekämpft wurde (wie wenig blieb übrig von den unaufgebbaren Gütern). Wie autoritätslos, nein wie lächerlich ist das Christentum der bekennenden Kirchen geworden, ehrlich und gut gemeinte Frömmigkeit in Privatregie, meckernde Mitläufer, verdatterte Spießbürger und Geistliche, die Bekenntnis und vaterländisches Pathos geschickt zu verbinden wußten, um Gott und der Welt gerecht zu werden.
Die Bekennende Kirche hat gesehen, daß Gottes Volk in diesen Jahren sichtbarer als zuvor in heidnischer Gefangenschaft war, sie hat gesehen, daß diesem Volk die Befleckung vor der Welt tagtäglich in jedem Stand, in jedem Beruf, jedem Alter, in Wort und Schrift, in Unterweisung und Befehlen, in jeder Staatseinrichtung, schlechthin auf Schritt und Tritt des täglichen Lebens drohte, sie wußte, daß die Gewissen litten, daß die christliche Freiheit, den Juden ein Jude zu sein, verboten war, sie wußte, daß das deutsche Volk den jüdischen Erwählungsglauben frevelhaft an sich gerissen hatte, sie wußte, daß der Rassedünkel und Rasseschwindel zum staatlich geforderten Weihrauch vor fremden Götzen geworden war, sie wußte, daß der Weg dieses Volkes der Weg des Verderbens, das Fallen in den ewigen Zorn Gottes bedeutete, sie wußte um ihre Pflicht, die Buße allen Völkern zu gebieten im Angesicht des nahenden Endgerichtes durch Christus, sie wußte, daß auch zahllose Kanzeln von Irrlehre troffen, sie wußte, daß das Heil allein, ganz allein von dem Juden Jesus Christus kommt, sie wußte, daß sie und nur sie, wenn anders sie glaubte, Kirche zu sein, zum Werkzeug und Mund Gottes berufen war für das arme verführte Volk, sie mußte um ihre Aufgabe und Verantwortung wissen, sie hatte das prophetische Amt als Wächter (»So spricht Gott der Herr, sie hörenʼs oder lassenʼs … Wenn ich dem Gottlosen sage: Du mußt des Todes sterben, und du warnst ihn nicht und sagst es ihm nicht, damit sich der Gottlose vor seinem gottlosen Wesen hüte, auf daß er lebendig bleibe: so wird der Gottlose um seiner Sünde willen sterben; aber sein Blut will ich von deiner Hand fordern.« Hesekiel 3), sie hatte das priesterliche Amt, das die Versöhnung mit Gott predigt und so und nur so als Künderin der großen Barmherzigkeit den Bruder als Bruder gewinnt, sie wußte, daß christliche Liebe nicht Vaterlands- und Verwandten- und Sippenliebe ist, sie wußte, daß Barmherzigkeit das Erbarmen mit der gemeinsamen wahren Todesnot des Menschen vor Gott ist, daß ihr alles gegeben ist, es sei Kephas oder die Welt, Leben oder Tod, das Gegenwärtige und das Zukünftige und alles darum von ihr gefordert ist, das Kämpfen bis aufs Blut wider die Sünde, der Einsatz von Gut und Leben, das Lassen des Lebens für die Brüder: aber wie kläglich sah die Wirklichkeit aus. Man tat so, als ob mindestens der Großteil des Volkes nach Glaube und Leben christlich sei und – o Wunder! – dabei unangefochten bleiben könnte beim Wort des Lebens. Man tat so, als ob die Geschichte Israels von der List Jakobs bis zur Macht des Kaiphas kein Spiegelbild der christlichen Kirche aller Zeiten sei, man tat so, als ob die Führung der Kirchen und alle Geistlichen selbstverständlich gute Christen, echte Wahrheitszeugen, Heilige und Priester und Könige nach der Schrift seien, man tat so, als dürfe die Kirche nach den Zeitumständen mit Schlangenklugheit regiert werden und die persönliche Frömmigkeit und gute Meinung verbürge dann schon auch das Ohne-Falsch-Sein. Man glaubte geistlich zu regieren, wenn man abwechselnd fromme Botschaften und weltliche Gesetze hinausgab und endete bei einer Diktatur der frommen, vertrauenswürdigen Personen, die schlimmer ist als die Diktatur deutsch-christlicher Umnachtung.
Das ist der Weg der Kirche evangelischer Konfession bis zum heutigen Zusammenbruch Deutschlands, aber man müßte freilich weiter ausholen und die Geschichte der Landeskirchen, die Geschichte der Theologie, der Gesangbücher und Liturgien, die Geschichte ihrer Verfassungen und ihrer »Väter« schreiben, nicht wie die weltlichen und geistlichen Geschichtsschreiber mit der Falschmünzerei der Helden- und Ruhmesgeschichten zur Empfehlung vor der Welt, sondern so nüchtern und anbetend vor Gottes Wundern trotz der Verstocktheit und immer neuen Verirrung der Besten, wie die Heilige Schrift Geschichte schreibt. Man würde da im 17. Jahrhundert die große Kurve des Abfalls entdecken und mit Schrecken und Entsetzen all das finden, was die Reformatoren Antichristentum hießen, nicht bei Kaiser und Türken, sondern bei Päpsten, Mönchen, Bischöfen und Theologen. Dann wird man fragen: Ist es eigentlich ein Wunder, daß Deutschland den Dämonen so unversehens zum Opfer gefallen ist? Man wird fragen: War nicht der Nationalsozialismus ein gnädiges Gericht Gottes über die abtrünnigen Kirchen? Man wird fragen: Ist der Ausgang des Krieges nicht zuallererst eine Frage an die Kirchen, ob sie zur Buße bereit sind? Daß Jesus Christus gleichsam am untersten Ende der Menschheit, bei offenkundigen, des Todes schuldigen Verbrechern gestorben ist, das Gericht Gottes als Unschuldiger auf sich genommen hat, ohne sich zu rechtfertigen, sondern nur seinen göttlichen Beruf bestätigend als Christus der Herr, das leugnet die Kirche nicht und das versucht auch die Nichtkirche kaum zu bezweifeln. Daß damit aber auch der Kirche ein für allemal ihr Platz angewiesen ist, das scheint sie vergessen zu haben und das erst macht das Maß ihrer Verirrung voll: Die Bekennende Kirche ist jetzt auf dem Weg der Selbstrechtfertigung!
Es ist wahr, das Wort Gottes müßte ja lügen, die Verheißung wäre ja zweifelhaft, wenn nicht auch in diesen Jahren ER selbst seine Kirche erhalten hätte, wenn nicht inmitten der Irrlehre auch sein Wort geredet hätte, inmitten der Zerstreuung ER die Seinen erleuchtet, gesammelt, geheiligt und beim rechten Glauben erhalten hätte, wenn nicht deshalb auch immer wieder echte Barmherzigkeit und echter Widerspruch aufgebrochen und zu Wort und Tat gekommen wären, so wie auch gottlob echte Wahrheitszeugen gelitten haben und ermordet worden sind, von Christus seines Leidens gewürdigt. Aber das war und ist zu allen Zeiten das Werk des Herrn, sein Wort und sein Geist waren da auf dem Plan, und wer sich rühmt, der rühme sich des Herrn. Selten genug sind diese Wunder des Herrn offenbar geworden, und die Kirche hat mehr getan, sie zu verheimlichen, als sie zu verkündigen und sie zu preisen, wie Luther den Märtyrertod evangelischer Zeugen in jubelndem Siegeslied gepriesen hat zu Gottes Lob. Und jetzt, nachdem das große Irrenhaus Deutschland von außen aufgebrochen ist, hat die Kirche wieder »Redefreiheit«, als ob sie je etwas anderes zu bezeugen hätte als Gottes Wort und als ob sie nicht selber oft und fromm genug bezeugt hätte, daß Gottes Wort ungebunden sei, eine Redefreiheit, deren sie sich trotz Christi striktem Befehl: »Ihr sollt meine Zeugen sein!« berauben ließ. Aber mehr noch, die Kirchen sind jetzt geehrt von den Besatzungsmächten, umjubelt von viel Volk, umschmeichelt von Ängstlichen, die um ihr Brot bangen, sie haben im Chaos der Auflösung der Obrigkeiten stellvertretend aus Not manche politische Arbeit zu leisten, die Aufgaben der praktischen Hilfe sind riesengroß.
Wie wird die »Bekennende Kirche« jetzt reden und was wird sie tun? Die ersten Kundgebungen sind erfolgt, und zwar von Seite des Landesbischofs der evangelischen Landeskirche Württembergs, angeblich einer Kirche lutherischen Glaubens.[1] Daß der Ort seiner Rede (oder darf man sagen seiner Predigt?) das Theater war, war nicht seine Schuld, aber daß die Kundgebung zum Theater wurde, das ist seine Schuld, denn wo hat die christliche Kirche den Auftrag, sich zu distanzieren von der Schuld der Welt, sich selber zu rechtfertigen und zu empfehlen? Wo wäre das je in der Weltgeschichte unangebrachter, verräterischer, unbarmherziger als gerade heute unter diesem Gericht Gottes? Hat man in der Kirche heute nichts Besseres zu tun, als sich in empfehlende Erinnerung bei den Besatzungsmächten zu bringen als gesunder Restbestand des deutschen Volkes, hat man nichts Besseres zu tun, als gerade das zu sagen, wonach dem ganzen Volk die Ohren jucken, nämlich die Schuld abzuschwächen und genau das zu tun, was heute jeder Volksgenosse von selber tut, nämlich sich möglichst reinzuwaschen von der gemeinsamen Schuld? Mag das, was der Bischof aus seinen Briefen an die großen Verbrecher vorgelesen hat, noch so richtig und tapfer gewesen sein, mag noch so wahr sein, daß zwar – das gab der Bischof ja so nebenbei auch zu – zuviel geschwiegen worden sei, daß aber er und andere doch so und so oft allerhand riskiert hätten, ist das jetzt Gottes Wort an die Gemeinden, sich auf dem Schutthaufen Deutschlands Lorbeeren und Märtyrerkronen, und dazu noch zum Teil fremde, aufzusetzen?
Weiß man gar nichts mehr von der Bergpredigt, von dem Gott, der in das Verborgene sieht und öffentlich – aber ER, nicht wir – vergilt? Wäre es denn nicht auch die Wahrheit gewesen, wenn Jesus vor Kaiphas und Pilatus seine Wunder aufgezählt, seine Unberührtheit von allem politischen Machtstreben dargetan und sich so gerechtfertigt hätte? Wie viel mehr hat die Kirche angesichts der Riesengröße ihrer Schuld in solch entscheidender Stunde von ihren Verdiensten zu schweigen. Aber sie hat so geredet, als ob sie nicht Kirche Jesu Christi, sondern Anwalt Deutschlands und zugleich Anwalt der christlichen Religion wäre. Und sie hat so fortgefahren zu reden, indem allen Gemeinden eine Botschaft des Bischofs vorzulesen war, die wiederum zuerst die betonte Selbstrechtfertigung setzte und daneben ein bißchen Bußfertigkeit, ein gutes Stück Anklage gegen die nichtchristlichen Weltanschauungen, z. B. den Materialismus (als ob sich das Nazitum nicht selber als höchsten Idealismus verstanden hätte!), gegen die wachsende Entkirchlichung, und dann die allgemeine Mahnung: Zurück zu Christus, zurück zum Bruder! Man darf wohl fragen, was da das »Zurück« bedeuten soll. Verstehen wird ja die Masse der Zustimmenden es nicht anders als: Zurück in die Haltung der Vergangenheit, wo man noch etwas mehr an Christus glaubte, kirchliche Sitte noch gültiger war und man angeblich den Bruder mehr liebte als in diesen bösen Jahren. War das Bekenntnis zu Christus oder war es vielleicht Bekenntnis zu einer nicht existierenden Volkskirche und zu den christlichen Restwerten der schwarz-weiß-roten Zeit?
Herr Asmussen in Gmünd fühlte sich ebenfalls berufen, als Vertreter der Bekennenden Kirche aufzutreten und den alliierten Militärbehörden die Wahrheit zu sagen, nicht ohne seine Freundschaft mit den berühmten Männern Niemöller und Wurm besonders hervorzuheben. Alle Deutschen mitschuldig? Halt, die Wahrheit ist: viele haben nicht geschwiegen, viele kamen ins Gefängnis und Konzentrationslager, viele Prominente haben gegen Unrecht protestiert und viele haben den verfolgten Juden geholfen, und ein lutherischer Bischof hat sogar in Dachau bessere Verpflegung durchgesetzt. Hei, was werden da die Siegermächte an ihre Brust schlagen, daß ihnen die Christlichkeit der Bekennenden Kirche so wenig bekannt war! Was wird das deutsche Volk jetzt stolz sein auf seine Bekennende Kirche! Hat der Wahrheitsfanatiker Asmussen es vielleicht nicht gewußt, daß, als eine Christin, die sich bis über ihre Kraft für die Verbergung und Versorgung von Nichtariern einsetzte und in ihrer herzzerreißenden Not zum Oberkirchenrat kam um Hilfe, dort von der Hochburg der Bekennenden Kirche die Antwort bekam: das sei jetzt eben das Schicksal der Juden und Gottes Gericht, die Kirche könne da nicht helfen. Ob Herr Asmussen wohl der Roten Armee auch so protzig die Wahrheit von dem vergessenen Hundertstelprozent Aufrechter gesagt hätte oder ob er da den Kommunisten den Vortritt gelassen hätte, die ja mit einem beträchtlich größeren Kontingent von Märtyrern ihrer Überzeugung und von überzeugungstreuen Antinazis aufwarten können als die Christen?
Aber dieser tolle Unfug der Selbstrechtfertigung der Bekennenden Kirche mit Berufung auf durchaus nicht immer gutgeheißene Ausnahmen ist erst im Anlauf. Herr Wurm hat auch schon an die Weltchristenheit, an die Vertreter der Kirchen der Feindmächte beschwörende Worte gerichtet als Vertreter der Bekennenden Kirche Deutschlands. Man staune: der Mann, der einst den Reichsbischof Müller und die Deutschen Christen anerkannt hat, der erst, als die Staatsgewalt gegen ihn eingriff, zum Bekenner des reinen Glaubens wurde, der dann erneut einen Kompromiß mit den Deutschen Christen schloß, der sich dann wieder von der vorläufigen Leitung der Bekennenden Kirche distanzierte, die staatlichen Kirchenausschüsse unterstützte, bald da, bald dort mit Bündnissen und Vertrauenskundgebungen hausieren ging, bis zuletzt die deutsch-christlich geleitete Deutsche evangelische Kirche in Berlin finanziell unterstützte, ihre Disziplinargerichtsbarkeit anerkannte und sich kurz vor dem Krieg vor dem Staat offen von den Verfassern einer einwandfrei biblischen Bußliturgie »aus religiösen und vaterländischen Gründen« losgesagt hat, dann sich mit diesen wieder verbrüderte, der Mann, der die menschliche Tradition und Ordnung seiner Kirche im Konfliktsfall über die geistliche Aufgabe stellte, der freiwillig Hitler den Treueid geschworen hat, der dann vom Staat gar nicht angenommen wurde, und viele Geistliche mit Geldstrafen, Zwangsversetzungen und anderen weltlichen Druckmitteln vergewaltigt hat, der angesichts des von Hitler befohlenen Selbstmords Deutschlands im letzten halben Jahr stumm geblieben ist, obwohl er, wie er sich selbst bezeichnete, der bestgehaßte Mann in Deutschland war und den Zusammenbruch kommen sah, dieser Mann ist jetzt im Namen der Kirche, und das heißt doch wohl im Namen Jesu, der Anwalt des deutschen Volkes gegen die »Jakobiner« der Naziregierung und fordert von den Siegermächten durch Vermittlung der ausländischen Kirche Milde und Verständnis und schiebt gar die Mitschuld an der Geschichte dieser 12 Jahre den Siegern von 1918 zu, die durch den Versailler Vertrag und die Reparationen das Elend der Arbeitslosigkeit erzeugt und damit das Volk zur leichten Beute Hitlers gemacht hätten. Ist er selber etwa nicht auf die Jakobiner hereingefallen, und hat nicht seine deutschnationale Partei diesen in den Sattel verholfen? Hat er selber etwa auch Hitler gewählt, um die unerträglichen Reparationen los zu werden? Wann ging ihm dann auf, daß diese Reparationen nur ein Bruchteil dessen waren, was Hitler sofort für Wiederaufrüstung und Krieg geradezu spielend aufbrachte?
Solche Argumente wie Versailles und, Reparationen können bestechen, aber nichts beweisen. Man kann mit gleichem Recht sagen: warum habt ihr geduldet, daß Hitler den Versailler Vertrag Stück um Stück zerrissen hat? Oder mindestens muß man zugeben, daß die Feinde damals auf viele ihrer Vertragsrechte Zug um Zug freiwillig verzichtet haben, von der Aburteilung der Kriegsschuldigen bis zur Verkürzung der Besatzungszeit und der Geld- und Sachleistungen. Wenn aber gar Herr Wurm den Vorwurf zurückweist, daß zu wenig »den Jakobinern« widersprochen worden sei, indem er sagt, wer so rede, der habe keine Ahnung vom Maß der Unterdrückung, so darf man einen Bischof doch fragen: wenn Jesus die Apostel wie Schafe unter die Wölfe schickt, darf dann ein Schaf erwidern: »Du hast wohl keine Ahnung, wie gefährlich Wölfe einem Schafe sind; wer will mirʼs verargen, wenn ich nicht gehe?« Von den Hirten ist die Rede, Herr Bischof, die die Schafe im Stich gelassen haben vor lauter eigener Sorge um ihre Volkskirche. Da liegt die große Schuld, die nicht mit einem Sätzlein des Zugeständnisses abgetan ist. Aber so muß man jetzt im Namen Jesu reden wie Herr Wurm, um im In- und Ausland Eindruck zu machen. Man denkt beim Lesen unwillkürlich: es fehlt nur noch, daß er auch gleich für das unschuldige Deutschland die Kolonien zurückfordert. Nicht daß man von den Großen dieser Welt Barmherzigkeit fordert ist falsch, aber im Auftrag Gottes soll das die Kirche tun ohne Ansehen der Personen und Völker. Daß man es im Namen der vergewaltigten Unschuld tut, daß man es tut, ohne auch nur ein wenig die grauenhafte Unbarmherzigkeit einzugestehen, zu den Greueln und Massenmorden, zu dem, was an mitleidloser Verwüstung in Polen, Rußland, Belgien, Holland, Norwegen, Frankreich, Ungarn und anderen Ländern geschehen ist, vor der Welt geschwiegen zu haben, völlig geschwiegen zu haben als Vertreter der Kirche Christi, das, das, Herr Wurm, macht Ihren Aufruf an die Christen der Welt zu einem unchristlichen Dokument, und wenn er noch so christlich und vaterländisch gemeint war.
Voraussichtlich werden die katholischen Bischöfe und die Arbeitergewerkschaften ihre internationalen Beziehungen bald in ähnlicher Weise in die Waagschale werfen. Weiß denn ein christlicher Bischof nicht, daß Deutschlands Zukunft in der Hand des Vaters Jesu Christi ist und dieser Vater es gnädig heimgesucht hat und sein Wort wahr gemacht hat, daß er die Gewaltigen vom Stuhl stößt? Weiß er nicht, daß dieser Gott allen Menschen an allen Orten gebietet, Buße zu tun und sich nicht selber zu rechtfertigen, weiß er nicht, daß einem Volk, das Buße tut, Hilfe und Segen in Fülle verheißen ist und gewährt wird, und wenn die Feinde es ausrotten wollten von der Erde, daß aber einem Volk, das nicht Buße tut, neue Gerichte und die Verdammnis droht, und wenn die Feinde in engelhafter Großmut es beschenken und bemuttern wollten? Trägt etwa solch ein Wort, Herr Landesbischof, dazu bei, Kirche oder Volk demütig zu machen, daß Gott sie erhöhe zu seiner Zeit? Ist da nicht wieder das gleiche nationale Pathos zu Pate gestanden, jetzt in zeitgemäß gedämpfter Form, das bei Hitler in brutalem Schreien Lebensrecht, Raum und Gleichberechtigung für die angeblichen Habenichtse forderte, und ist vergessen, daß auch die Völker aus Gnade sind, was sie sind?
Wie billig macht man sich jetzt die Weiterfahrt auf dem herrlichen Wagen der langentbehrten Gunst der christlichen und nichtchristlichen Umwelt. Vergessen ist, was der Kirchenkampf an den Tag brachte an geistlicher Armut, Verwirrung, Hilf- und Ratlosigkeit. Jetzt gilt es nur, die vielen Rückkehrer aus dem Neuheidentum möglichst barmherzig in die Kirche aufzunehmen und ihnen so den Titel eines Christen, der jetzt wieder öffentlich von Ehre und Nutzen ist, anzubieten. In einer Stadt ist es auch bereits geschehen, daß der Herr Dekan umgehend Lehrer, die noch ein paar Wochen vorher die nationalsozialistische Weltanschauung gelehrt hatten, zu Religionslehrern (im evangelischen Bekenntnis!) einsetzte. Jetzt regnet es Christen. Wehe, wehe, Europa, wenn auch noch die Bekennende Kirche verstrickt wird in Selbstgerechtigkeit und Wegen eigener Wahl, wenn sie tut, was sie nicht geheißen ist, und läßt, was ihr Christus befohlen hat – und das aus Frömmigkeit und herzlicher Vaterlandsliebe! Wachet, wachet, daß ihr nicht in Versuchung fallet! Sie predigen so ergreifend das »Eins aber ist not« und denken nicht daran, »alle Stunden am Gotteswort zu warten«.
Was ist der Weg der Kirche? Es hat zu allen Zeiten nur eine Antwort darauf gegeben: Christus ist der Weg. Und das heißt, daß ER allein seine Kirche trägt und führt, daß wir IHM allein Glauben und Gehorsam schuldig sind, daß sein Evangelium und sein Gesetz allein unsere Hilfe, unser Heil und Trost und unsere Hoffnung sind und darum das Kreuz und die Schmach Christi, gegen die gerade auch die Bekennende Kirche sich so zäh gewehrt hat, jetzt, heute zu tragen sind voll Lob und Dank. Wir alle haben Solidarität in der Ehre und Anerkennung der Menschen gesucht, haben unter Verlassen des Weges, der Christus heißt, so getan, als ob seine Kirche nur im Schutz und in der Anerkennung der Heiden bestehen könne, wir haben alle versäumt zu sagen, daß Ehre, Freiheit, Ordnung im Wort Gottes einen andern Inhalt haben als im Munde der Heiden, und mußten mit Entsetzen sehen, daß, was sie Ehre hießen, Schmach war, was sie Freiheit hießen, Sklaverei der Sünde war, daß, was sie Ordnung hießen, Herrschaft von Willkür, Mord und Ausbeutung war. Wir habenʼs nicht gesagt, wir haben unbarmherzig als Kirche geschwiegen, um dadurch unser Recht, unsre Ehre, unser Geld, unser Leben zu erhalten, als ob Gott sich nicht aus Steinen Kinder erwecken und seine Kirche bauen könnte. Volkskirche hat man unter allen Umständen sein wollen, und um es sein zu können, hat man bald Bekenntnistreue geheuchelt, bald Staatstreue geheuchelt, ist gehinkt auf beiden Seiten, sagte nicht, was Baal und was Jehova ist, sagte Herr, Herr zu Christus und diente fremden Herrn. Gesungen hat man:
»Gott wollʼ ausrotten alle gar,
die falschen Schein uns lehren,
dazu ihr Zungʼ stolz offenbar
spricht: Trotz! wer will’s uns wehren?
Wir haben Recht und Macht allein;
was wir setzen, das gilt gemein.
Wer ist, der uns sollt meistern?
Darum spricht Gott: Ich muß auf sein,
die Armen sind verstöret;
ihr Seufzen dringt zu mir herein,
ich hab ihr Klag erhöret.
Mein heilsam Wort soll auf den Plan,
getrost und frisch sie greifen an
und sein die Kraft der Armen.«
Aber hat man geglaubt an dieses Wort, gehorcht diesem Willen Gottes? Eine Solidarität zwischen Kirche und Welt, Kirche und Volk gibt es, und diese allein muß bleiben und gelten, die Solidarität der Schuld. Zerreißen wir diese, und die Bekennende Kirche ist eben im Begriff, dies zu tun, so bleiben wir nicht auf dem Weg, der Christus heißt. Wollen wir jetzt das tun, was das Volk erwartet und wünscht, nämlich Anwalt seiner Entschuldigung sein, nachdem es so laut gebrüllt hat: Führer, befiel, wir folgen!, und an das Rechtsgefühl und die Humanität der Sieger appellieren, nachdem es sich erst und lange genug diese Sieger als Untermenschen, Bestien, Räuber, Mörder und Lügner unwidersprochen hat vormalen lassen, und wollen das nicht tun, was Christus von uns erwartet, eben die Rückkehr zu ihm, auf seinen Weg der Buße, des Kreuzes und des Gehorsams, dann läßt sein Zorn nicht ab und seine Hand bleibt ausgereckt über uns.
Nach dem Sieg wurden bei den Feinden überall Dankgottesdienste abgehalten, und Millionen haben gesungen: Nun danket alle Gott! Sollte diese Aufforderung an alle etwa die Christen unseres Landes nicht mit umfassen? Sollten wir da nichts wissen dürfen vom Bekenntnis des Glaubens an Eine heilige christliche Kirche? Glauben wir hier wie dort etwa nicht, daß Jesus der Sieger ist und ER uns wie ihnen der gleiche gütige Herr und Hirte ist, der uns unzählig viel zu gut bis hierher hat getan und uns aus aller Not erlöset hier und dort? Wir werden nicht recht unser aller Schuld bekennen, wenn wir nicht an die Vergebung glauben. Das alles, was da an Schuld der Kirche und auch des Volkes aufgezählt wurde, und das Ungenannte und wohl auch nicht Erkannte oder Vergessene, was von den Christen täglich und viel gesündigt wurde, desto mehr, je höher ihr Amt und Beruf war, das, wofür wir eitel Strafe verdienen, das ist uns durch Christus vergeben. Neu dürfen wir anfangen, unbelastet von dieser heillosen Vergangenheit und dürfen Dank über Dank sagen, daß er uns nicht nach unsern Missetaten vergilt, daß wir nicht empfangen haben, was unsre Taten wert sind, sondern unendlich viel weniger! Haben wir nie von Davids Samen gelesen: »Wenn er eine Missetat tut, will ich ihn mit Menschenruten und mit der Menschenkinder Schlägen strafen, aber meine Barmherzigkeit soll nicht von ihm entwandt werden« (2. Sam. 7). Haben wirʼs nicht schon in der Schule gelernt: »Wer seine Missetat leugnet, dem wird es nicht gelingen, wer sie aber bekennt und läßt, der wird Barmherzigkeit erlangen.« Und da sollte die Kirche nicht fröhlich sein und zunächst einmal den Frieden als ein unverdientes, herrliches Geschenk Gottes mit Dank annehmen, was er durch Gottes Gnade auch bringen mag an treulicher Demütigung. Nichts davon hat der Bischof seinen Gemeinden zu sagen gewußt, obwohl er in seinem Gesangbuch das Beispiel Paul Gerhardts hatte:
»Gottlob! Nun ist erschollen
das edle Fried- und Freudenwort,
daß nunmehr ruhen sollen
die Spieß und Schwerter und ihr Mord.
Wohlauf und nimm nun wieder
dein Saitenspiel hervor,
o Deutschland! und sing Lieder
im hohen, vollen Chor!
Erhebe dein Gemüte
zu deinem Gott und sprich:
Herr, deine Gnad und Güte
bleibt dennoch ewiglich.«
Ja, Lob und Dank gemeinsam mit der ganzen Christenheit auf Erden, gerade weil nun fortzufahren ist:
»Wir haben nichts verdienet
als schwere Straf und großen Zorn,
weil stets noch bei uns grünet
der freche, schnöde Sündendorn.
Wir sind fürwahr geschlagen
mit harter, scharfer Rut,
und dennoch muß man fragen:
Wer ist, der Buße tut?
Wir sind und bleiben böse,
Gott ist und bleibet treu,
hilft, daß sich bei uns löse
der Krieg und sein Geschrei.«
Diesen Dank sind die Gemeinden Gott schuldig angesichts der »Städte voller Schutt und Stein« und der »Gräber voller Leichen«, und so ist dem menschlichen Jammern und Schimpfen zu begegnen. Bei solchem Dank können wir »den Tränenbach aus beiden Augen rinnen lassen« und bedenken: »nun hat er sich gewendet und väterlich bedacht, von Grimm und scharfem Drängen zu deinem Heil zu ruhn, ob er dich möchte zwingen mit Lieb und Gutestun.« Offenes Schuldbekenntnis und dankbare Buße, nicht mit liturgischen Phrasen, sondern aus tiefster Beschämung das Herz ausschüttend wie Daniel: »Ach lieber Herr, du großer und schrecklicher Gott, der du Bund und Gnade hältst denen, die dich lieben und deine Gebote halten: wir haben gesündigt, unrecht getan, sind gottlos gewesen und abtrünnig geworden; wir sind von deinen Geboten und Rechten gewichen. Wir gehorchten nicht deinen Knechten, den Propheten, die in deinem Namen unsern Königen, Fürsten, Vätern und allem Volk im Lande predigten. Du, Herr, bist gerecht, wir aber müssen uns schämen. Dein aber, Herr, unser Gott, ist die Barmherzigkeit und die Vergebung. Das ganze Israel übertrat dein Gesetz, darum trifft uns auch der Fluch. Er hat seine Worte gehalten, die er geredet hat wider uns und unsere Richter, die uns richten sollten, daß er so großes Unglück über uns hat gehen lassen, daß desgleichen unter dem ganzen Himmel nicht geschehen ist. Wir liegen vor dir mit unserem Gebet, nicht auf unsre Gerechtigkeit, sondern auf deine große Barmherzigkeit. Ach Herr, höre, ach Herr, sei gnädig, merke auf und tue es und verzeih nicht um deiner selbst willen, mein Gott!«
Sollte solch ein Gebet nicht tausendfach mehr Hilfe herbeiziehen als eine Forderung um menschlich gerechte Beurteilung unserer Lage im Ausland? Die Pfarrer und Gemeinden sollten heute ihre Kirchenleitungen energischer und unablässig fragen: Will man jetzt nach diesem Versagen der Kirche wieder zuerst gegen die draußen und ihren Materialismus und ihre Gottlosigkeit wettern und selber im Gefühl kleinerer Schuld um Rechte und Freiheiten und neue Einflußzonen markten oder gar möglichst schnell für Kirchengebäude und Glocken Gelder sammeln? Oder will man hingehen und endlich recht glauben und aus dem rechten Glauben an den einzigen Weg unter Gottes Vergebung das Wort verkündigen, sie hörenʼs oder lassenʼs, und nach Gottes Reich zuerst trachten? Wird man nach dieser großen Entmündigung Europas wenigstens nach Gottes Wort und Willen seine Gemeinden mündig werden lassen, daß sie frei auch das Wort ihrer Hirten nach Schrift und Bekenntnis prüfen und Sorge tragen, daß sie nicht wieder ahnungslos in ein sogenanntes »Theologengezänk« hineingezogen werden, um dann auf diplomatischem Weg »befriedet« zu werden um den Preis, daß Millionen aus Schuld der Kirche ohne Weg und Hoffnung bleiben, weil ihnen das Gebot und die Verheißung nicht recht und deutlich gepredigt wurde, sondern in Angst statt mit freudigem und unerschrockenem Auftun des Mundes? Wird man jetzt geistliche Ritterschaft üben und nicht mit Fleisch und Blut unter Ansehen der Person weltliche Prozesse führen im geistlichen Gewand, oder wird man bloß vom Druck erleichtert den alten Sauerteig behalten und morgen der selbsterwählten Geschäftigkeit verfallen wie gestern der quietistischen Predigt in der mühsam erhandelten unangefochtenen Ecke?
Wird man Christus die Erhaltung von Welt und Kirche überlassen oder wieder ins Sorgen geraten, sie könne aus den Fugen gehen, wenn man nicht die Beschneidung predige, d. h., mit menschlichen Gesetzen regiere je nach Gunst und Ungunst der Zeiten und des »Volkswillens«? Wird man sich leiten lassen von der Sehnsucht nach der guten alten Zeit oder von der Sehnsucht nach dem Tag des Herrn? Wird man es jetzt erst recht wieder mit der »Volkskirche« probieren, nachdem sogar die »Bekenntniskirche« so augenfällig versagt hat? Wird man den Frieden mit der Welt auch wieder einkalkulieren in die Weisheit, die von Gott kommt, oder bereit sein, durch viele Trübsale ins Reich Gottes einzugehen? Wird man die Götzen Rahels heimlich mitnehmen oder ein Neues pflügen? Wird man bemüht sein, von der Taufe und Berufung aus als Kinder Gottes zu denken, zeugen und handeln oder wieder von den gottgegebenen Schöpfungsordnungen aus denken und reden?
Das alles liegt in Gottes Gnadenwahl, die wir bezeugen dürfen als Wahl seiner Gnade der Kirche seiner Wahl. Wir werden nicht verzagt und nicht trotzig, aber demütig und zuversichtlich zu dem dreieinigen Gott mit der ganzen Christenheit schreien: Erhalt uns, Herr, bei deinem Wort! Wir werden Gott täglich bitten aus dem Abgrund unserer Schuld und doch auf dem Weg zwischen den Abgründen, auf dem Weg der untrüglichen Verheißung, mit verrenkten Hüften zwar wie Jakob, aber als Israel Gottes durch Jesus Christus im Glauben an die Gabe seines Heiligen Geistes: Ich lasse dich nicht, du segnest mich denn! Wer aber mitbetet und mitglaubt, der wird seinem Bruder Esau sehr, sehr demütig begegnen und nicht mit Selbstrechtfertigungen.
Kirchheim-Teck, den 29. Mai 1945
Quelle: Aktion Sühnezeichen/Friedensdienste (Hg.), Paul Schempp: Der Weg der Kirche. Dokumentation über einen unerledigten Streit, Berlin 1985, Seiten 11-23.
[1] Schempp bezieht sich dabei auf den Gottesdienst zu Christi Himmelfahrt am 10. Mai 1945 im (nichtausgebombten) Landestheater Stuttgart, bei dem der damalige Landesbischof Theophil Wurm die Predigt über Joh 14,1-6 hielt.
Der Text von Schempps Streitfschrift „Der Weg der Kirche“ findet sich hier als pdf.