Doppelte Wahrheit und die Unterscheidung von Glaubens- und Vernunftwahrheit
Das Stichwort „doppelte Wahrheit“ verweist auf einen universitären Konflikt im Hochmittelalter. Die Neuentdeckung der Schriften des Aristoteles und deren Lehre an der Artistenfakultät der Pariser Universität führte zu philosophischen Aussagen, die im Widerspruch zur tradierten christlichen Lehre und damit zur Theologie standen. Es war das kirchliche Lehramt, das das Konzept zweier unterschiedlicher Wahrheiten – philosophisch-naturwissenschaftlich versus theologisch-christlich – verwarf. Philosophie durfte nur in Einklang mit der christlichen Lehre gelehrt werden.
Durch die Aufklärung haben sich die Lehrgewichte in das Gegenteil verschoben. Die Theologie wird weithin als unwissenschaftlich angesehen, da deren Lehraussagen einer vernünftigen Wahrheitsprüfung nicht standhalten könne. Demzufolge hat sich eine liberale Theologie in ihren Lehraussagen weitgehend zurückgenommen, um nicht in Widerspruch zu allgemeinen philosophisch-naturwissenschaftlichen Aussagen zu treten.
Dass doppelte Wahrheiten unhaltbar zu sein scheinen, hängt in unserem Kulturkreis von der weitgehend unangefochtenen Geltung des aristotelischen Tertium-non-datur-Axioms („Satz vom ausgeschlossenen Dritten“) ab. Demzufolge hat jeder aussagehaltige Satz prinzipiell entweder wahr oder falsch zu sein, „ein Drittes gibt es nicht, tertium non datur“). Dabei wird freilich übersehen, dass zur Wahrheitsbestimmung (im Sinne der Kohärenz- bzw. der Konsenstheorie) immer schon Geltungskontexte vorgegeben sind. Das heißt, es gibt keine referenzfreie, mithin abstrakte Wahrheit.
Wenn ein Sachverhalt als Aussage gefasst wird, braucht es einen bestimmten Kontext, um zu entscheiden, ob diese Aussage wahr oder falsch ist. Dies lässt sich an Hand folgenden Sachverhaltes aus dem Ballsport erklären.
Ein Spieler geht auf dem Spielfeld mit der Hand zum Ball. Dieser Sachverhalt lässt sich im Hinblick auf Spielregeln in zwei konträre Aussagen fassen:
- Der Spieler, der mit der Hand zum Ball geht, begeht eine Regelwidrigkeit.
- Der Spieler, der mit der Hand zum Ball geht, handelt regelkonform.
Gäbe es nur allgemeine Regeln, wären diese Aussagen kontradiktorisch. Sie lassen sich aber im Kontext unterschiedlicher Spielregeln jeweils für sich bewahrheiten. Im Kontext des Fußballspiels ist Aussage a) wahr und b) falsch. Im Kontext des Handballspiels ist Aussage b) wahr und Aussage a) falsch.
Wird der jeweilige Regelkontext anerkannt, sind sowohl a) wie auch b) wahr. Es gibt also regelabhängig verschiedene Wahrheiten.
Wenn zwischen verschiedenen Geltungskontexten „Glaube/Glaubensgemeinschaft“ und „Vernunft/Naturwissenschaft“ unterschieden wird, kann man Aussagen gelten lassen, die sich zu widersprechen scheinen, beispielsweise hinsichtlich Schöpfung und Evolution. Solange man weiß, was in welchem Kontext „wahr“ zu nehmen ist, zeigt man sich nicht schizophren.
5.6. Ihr Artikel Glaubens-und Vernunftwahrheit…Ethik des Evangeliums.Ich denke inzwischen eher wie frühere Reformgedanken: Christus ja,Theologie nein…..