John Meyendorffs Artikel „Östliche Orthodoxie“ aus der dritten Auflage des Evangelischen Kirchenlexikons ist noch immer eine konzise bzw. sympathische Darstellung orthodoxer Theologie bzw. Ekklesiologie.
Von John Meyendorff
Der christl. Glaube ist der Glaube einer Gemeinschaft, die ihren Anfang mit der Gruppe von Jüngern nahm, die Jesus selbst um sich scharte und die zu Pfingsten nach der Auferstehung die Gabe des Geistes empfing (Act 2). Dieser Geist ist der Geist Christi und der Geist der Wahrheit, der »bleibt und sein wird« (Joh 14,17) und der – trotz aller Schwächen und Unvollkommenheiten des einzelnen wie der hist. Gruppen – in dieser und durch diese Gemeinschaft spricht, die sich ‘in Christus’ versammelt. Bes. wenn sie die Eucharistie feiert, ist die Gemeinschaft eine eschatologische, in der in Vorwegnahme der Parusie das Reich Gottes erfahren werden kann. Die Orth. Kirche sieht sich selbst als Bewahrerin einer Erlösungsvision, die im wesentlichen mit der ursprünglichen christl. Offenbarung übereinstimmt, und ihrer ekklesiologischen, anthropologischen und trinitarischen Sinnprägungen.
1. Im Sprachgebrauch moderner orth. Theologen bezeichnet der Begriff eucharistische Ekklesiologie eine bestimmte Interpretation des frühen – apostolischen und nachapostolischen – christl. Gemeinschaftsverständnisses. Er dient auch der Erklärung des besonderen ekklesiologischen Standpunktes der orth. Kirche gegenüber dem westl. Christentum.
Der nt.liche Gebrauch des Wortes ‘Kirche’ (ekklēsia) benennt v.a. eine lokale Versammlung, ein Zusammenkommen an einen besonderen Ort (ekklēsía toũ teoũ hē oúsa en Korintō, 1 Kor 1,2), obgleich es auch – z.B. im Eph und Kol – kosmische Dimensionen annehmen kann. Einzeln sind Christen ‘Glieder’, aber zusammen sind sie ‘Leib’ – nicht ein partielles Sichtbarwerden, sondern der ganze Leib mit Christus als dem Haupt. Diese Ganzheit bedeutet nicht geographische Universalität. Sie wird am Ort offenbar, wann immer ‘zwei oder drei’ in Christus versammelt sind, und sie ist der wesentliche Sinn der eucharistischen Feier. Da Christus selbst das Haupt des Leibes ist, ist jede lokale eucharistische Versammlung ein kosmisches und eschatologisches Ereignis, denn – nach einer Formulierung des Ignatius von Antiochien – »Wo Christus ist, ist die ‘kath.’ Kirche« (IgnSm 8,2), und in jeder Orts-»Kirche« wird die ‘Ganzheit’ oder ‘Katholizität’ des Leibes offenbar.
Wo sich das Christentum ausbreitete, bildeten sich lokale eucharistische Gemeinschaften. Gegen Ende des 2.Jh.s wiesen praktisch alle eine einheitliche Struktur auf: ein vorsitzender Bischof und um ihn Presbyter und Diakone. Diese Strukturgleichheit wurde durch die ‘eucharistische’ Einheit jeder Ortskirche bestimmt: Die eucharistische Versammlung erforderte einen ‘Vorsteher’ (proistámenos), der als Ebenbild des Herrn selbst, als Lehrer, Hirte und Hoherpriester angesehen wurde. Die ‘Katholizität’ jeder Ortskirche erforderte Gleichheit und Kontinuität sowohl zur ursprünglichen Predigt der Apostel (kḗrygma) als auch zur Lehre (dógma) aller Kirchen. Die Einheit mit der apostolischen Predigt kam in der Kontinuität des episkopalen Amtes und den Aposteln (Clemens, Irenäus) zum Ausdruck; die Glaubenseinheit zwischen allen Kirchen erforderte jedoch die Teilnahme mehrerer benachbarter Bischöfe bei der Ordination jedes neuen Bischofs (vgl. Hippolyt) und regelmäßige Konsultationen in Glaubensfragen zwischen den lokalen Kirchen, bes. in der Form von Konzilien. Konsequenz dieser Ekklesiologie, die sich auf die sakramentale und eschatologische Einheit ‘aller’ eucharistischen Versammlungen und damit auch aller Ortskirchen berief, war die Gleichheit aller Inhaber des episkopalen Amtes. Man sah jeden Bischof bei der eucharistischen Versammlung wie auf einem Lehrstuhl sitzen, dem »Stuhl Petri« (vgl. Cyprian); und das höchste Wahrheitszeichen bei einer Lehr-Kontroverse war die Übereinstimmung einer großen Zahl von Bischöfen, die im Konzil saßen.
Vor diesem Hintergrund ist es offensichtlich, daß die allmähliche Ausformung der Vorstellung eines röm. Bischofs, der das ausschließliche Privileg besaß, »Nachfolger Petri« zu sein, Spannungen schuf und schließlich zum Schisma zwischen dem Osten und dem lat. Westen führte. Praktisch entfernte sich auch der Osten von der ursprünglichen ekklesiologischen Struktur: Die meisten Bischöfe übernahmen die führende Stellung in der Verwaltung mehrerer eucharistischer Gemeinschaften (oder ‘Gemeinden’, die von Presbytern geleitet wurden); Bischöfe größerer Städte gewannen Privilegien der Leitung unter ihren Bischofsbrüdern (Erzbischöfe, Metropoliten, Patriarchen). So wurde die tatsächliche Macht der Bischöfe eigentlich nicht mehr an ihrer Stellung in der lokalen eucharistischen Versammlung gemessen. Doch diese Entwicklungen wurden ‘ad hoc’ gewertet, sie wurden als Sache des praktischen Lebens und nicht als Dogma gesehen. Sie wurden von der Kirche bestimmt und waren ihrer Kontrolle und einem ständigen Wandel unterworfen. Hist. blieb die orth. Kirche eine Gemeinschaft lokaler Kirchen mit gleicher Würde und vereint im Glauben – im Unterschied zum westl. Zentralismus um Rom. Im Licht dieses ekklesiologischen Ansatzes kann das orth. Verständnis von Schrift, Tradition und Lehrautorität verstanden werden.
2. Für die christl. Urgemeinschaft gab es keine anderen ‘Schriften’ als die des jüd. Kanons. Mehr und mehr wurden jedoch Schriften, die von einigen Ortskirchen bewahrt und als ‘apostolisch’ angesehen wurden, auch in den eucharistischen Versammlungen gelesen und schließlich in den Kanon des »NT« aufgenommen. Gegenüber dem Status der at.lichen Bücher, die nicht Teil des ‘kürzeren’ hebr. Kanons waren, gab es Bedenken, und auch gegenüber einigen Schriften, deren Apostolizität behauptet wurde. Noch im 4.Jh. wurde die Apk von der Kirche von Antiochien und Kappadokien nicht anerkannt, sie wurde dann vom ‘trullanischen’ Konzil (692) in den Kanon aufgenommen; dieses Konzil billigte auch den ‘längeren’ at.lichen Kanon mit 3 Makk, aber ohne Weish, Tob und Jdt. Da der Osten an den bitteren Auseinandersetzungen um den Kanon keinen Anteil hatte, die die Reformation und Gegenreformation prägten, hat dieses Thema bis heute im Bewußtsein der orth. Kirche etwas Schwebendes bewahrt. Der ‘längere’ Kanon der LXX ist die Standardfassung für die östl. Kirche und wird in der Liturgie benutzt, doch die Bücher, die nicht im hebr. Kanon enthalten sind, gelten als ‘deuterokanonisch’. Bezeichnenderweise stützt sich die moderne (»synodale«) russ. Übersetzung des AT auf das hebr. Original.
3. Die gelassene Haltung gegenüber der Kanonizitätsfrage spiegelt das orth. Traditionsverständnis. Der liturg. Gebrauch der Evangelienbücher, die regelmäßigen Schriftlesungen, der bibl. Charakter der meisten patristischen Schriften und hymnischen Dichtungen lassen erkennen, daß die Schrift als ursprüngliches und unentbehrliches Wort Gottes gilt. Aber die Bibel bleibt das Buch der Kirche. Man ist sich dessen bewußt, daß derselbe Geist, der die Autoren inspirierte, die Kirche bei der Bestimmung des Schriftenkanons leitet – in der Ablehnung zahlreicher apokrypher Schriften – und in und durch die Kirche spricht in der Bewahrung der Treue zum Glauben, der »den Heiligen einst übergeben wurde«.
Der Begriff ‘hl. Tradition’ ist Ausdruck dieser besonderen Funktion des Geistes. Das sollte nicht mit schlichtem Konservatismus verwechselt werden. Die lebendige Tradition ist unter der Leitung des lebendigen Geistes berufen, neue Fragen zu beantworten und über neue Themen zu entscheiden. Hier liegt die Begründung dafür, daß die frühen Konzile und die Kirchenväter in ihrer Theologie Begriffe und Zitate aus philos. Systemen ihrer Zeit verwendeten (z.B. der Begriff homoousios im Nicänum). Diesem ‘nicht-schriftgemäßen’ Vorgehen wurde widersprochen, doch die Väter konnten zeigen, daß der Gebrauch neuer Konzeptionen und neuer Terminologie oft der beste Weg ist, mit der Schrift übereinzustimmen: Nur Formeln der Schrift zu wiederholen ist keine Garantie für Orthodoxie.
4. Der übliche Weg, der »apostolischen Tradition« in der Lehre Ausdruck zu geben, ist – wie Irenäus und Tertullian bewiesen haben –, daß die Bischöfe sie in ihrem »eucharistischen Predigen« bewahren und die Auseinandersetzungen durch Konzile regeln. Doch die Erfahrung zeigt in der Geschichte unzählige Beispiele von ketzerischen Bischöfen und ‘Pseudo-Konzilen’, die falsche Lehren verkünden. Es gibt selbst so extreme Fälle, daß – z.B. im Fall des Maximus Confessor (648) – ein einzelner der Wahrheit treu blieb, während alle Bischöfe eine Häresie annahmen. Dies ist der Grund, warum die orth. Kirche die Unfehlbarkeit einer Persönlichkeit oder einer Institution ‘ex sese’ nicht anerkennt. Selbst Konzile, die als ökum. zusammentraten und die höchste Autoritätsinstanz darstellten, besitzen nicht automatisch Unfehlbarkeit. Diese muß Ziel der vom Geist geleiteten ‘Einsicht’ der ganzen Kirche sein. Die Schrift muß, um richtig verstanden zu werden, unter Leitung des Geistes gelesen werden – er inspiriert die Autoren – und im Erfahrungskontext der Kirche. Das gibt Raum für eine kritische Interpretation literarischer Gattungen in der Schrift und allg. für eine angemessene Anwendung moderner kritischer Methoden der Exegese, da der Geist offen ist, sowohl ‘gelehrte’ wie auch einfache Leser zu leiten. Liturg. Texte und deren praktischer Gebrauch sind die sichersten ‘Kriterien’ der Tradition – nicht nur weil, wie Irenäus schrieb, »unsere Lehre der Eucharistie entspricht« (adv. haer. IV, 18,5), sondern weil sie die Kontinuität des apostolischen Glaubens durch die Jh.e spiegeln. Jedoch auch sie bedürfen der hist. Einsicht – sogar mehr als die Schrift! –, damit ihre wirkliche und authentische Bedeutung angemessen erfaßt werden kann.
5. Nur im christologischen Kontext, der wiederum selbst nicht vom »theozentrischen« Verständnis menschlicher Natur getrennt werden kann, haben »eucharistische« Ekklesiologie und das Traditionskonzept in der Orthodoxie einen Sinn. In der östl. patristischen Tradition ist der Mensch von Gott erdacht und erschaffen, nicht autonom: Seine Existenz selbst bedeutet Einheit mit dem Schöpfer, da er geschaffen wurde »nach dem Bilde Gottes« (Gen 1,27). Da Gott »allein Unsterblichkeit hat« (1 Tim 6,16), lebt der Mensch nur dadurch, daß er Anteil hat am Leben Gottes, es sei denn, er entscheidet sich für Autonomie und Autarkie. Eine solche Entscheidung – vorgestellt in der bibl. Geschichte vom Sündenfall Adams und Evas (Gen 3) – bedeutet Verfall und Tod, denn der Mensch besitzt sein Leben nicht selbst.
Dieses östl. Verständnis des Ursprungs und der Bestimmung des Menschen weicht von den vorherrschenden Trends westl. Denkens, erkennbar in der augustinischen Tradition und später in der Scholastik und in der Reformation, deutlich ab. Es kennt nicht den klaren Gegensatz zwischen »Natur« und »Gnade«, da die menschliche Natur – das Sein des Menschen selbst – Teilhabe an Gott bedeutet, d.h. »Gnade«. Ohne Gemeinschaft mit Gott verliert der Mensch seine Menschlichkeit. Auch wird die Sünde Adams und Evas nicht als übertragbare »Schuld« interpretiert, die Vergeltung verlangt. Vielmehr hatte ihre Auflehnung ihre Sterblichkeit und die ihrer Kinder und eine neue kosmische Situation zur Folge, in der die Schlange die Macht Gottes an sich gerissen hat und der Mensch nicht mehr volle Freiheit genießt, sondern abhängig geworden ist vom Zwang, ständig um sein Überleben zu kämpfen. In der Tat »herrschte der Tod von Adam an bis zu Mose sogar über die, welche nicht mit gleicher Übertretung gesündigt hatten wie Adam« (Röm 5,14). Die ‘gefallene’ Menschheit ist eher eine versklavte als eine ‘schuldige’ Menschheit, obwohl Sünde im Zustand des ‘Gefallenseins’ unvermeidlich ist.
Erlösung von diesem Zustand der Sterblichkeit, Abhängigkeit und Versklavung ist in Christus gegenwärtig. Sie wird eher in der Vorstellung vom Heilen, wiederhergestellter Gemeinschaft und ‘neuem Leben’ denn als ‘Rechtfertigung’ verstanden. Der Annahme menschlicher Vergänglichkeit und sogar des Todes durch den Sohn Gottes folgte seine Auferstehung und Verherrlichung. »Indem wir mit ihm begraben worden sind in der Taufe« (Kol 2,12), empfangen wir wieder göttliches Leben, denn in ihm wurden Göttlichkeit und Menschlichkeit wiedervereint. Das Leben des Menschen gewinnt seine »theozentrische« Natur zurück, für die er ursprünglich geschaffen war. Seit Christus starb und auferstand, »ist unser Leben mit Christus in Gott verborgen« (Kol 3,3), doch durch den Glauben wird es im »Mysterium« der Kirche auf Erden erreichbar.
Ein solches Konzept menschlicher Bestimmung und Erlösung gründete sich auf die göttliche Identität der Person Christi – auch wenn die patristischen Autoren nie die Notwendigkeit oder auch Möglichkeit sahen, diese in einem philos.-logischen System zu beschreiben –, dem Hauptthema in den endlosen christologischen Kontroversen vom 4. bis zum 8.Jh. Einerseits konnte nur Gott und kein Geschöpf den Tod überwinden und der »Retter« sein. So war Jesus Gott, »einerlei Wesens« (homooúsios) mit dem Vater, und seine Mutter Maria war »Mutter Gottes«. Er, der selbst Gott war, starb im Fleisch (Theopaschismus). Andererseits mußte er ‘unser’ Menschsein annehmen (weil »nicht gerettet ist, was nicht angenommen ist«), d.h. die gefallene sterbliche Menschlichkeit, die der Erlösung bedurfte. In dieser Menschlichkeit starb er und wurde in den Himmel aufgenommen. Die chalcedonensische Christologie (451) bestätigte deshalb die »zwei Naturen« in Christus, die vereint sind in der einen ‘Hypostasis’ oder Person des göttlichen Logos. Dieser ‘hohen’ Christologie, die sowohl in orth. hymnischen Texten wie auch in patristischer Theologie verkündet wird, wird oft vorgehalten, sie sei »kryptomonophysitisch«: Besteht nicht die Gefahr, Christi Menschsein zu überschätzen, wenn seine göttliche Identität betont wird? Das ist nicht der Fall, wenn die »theozentrische« Anthropologie – wie oben angedeutet – ernstgenommen wird: Durch seine Aufnahme durch den Logos wird Jesu Menschsein eher verstärkt als vermindert. Tatsächlich begründet die Trennung von Gott »Gefallensein« und Entmenschlichung, während Jesus als Sohn Gottes auch der »neue Adam« ist – der wahre Mensch. Auch die Formulierung von Chalcedon bestätigte, daß »die charakteristischen Eigenschaften« des Menschseins in Jesus bewahrt blieben; und die spätere orth. Theologie bestimmt bes., daß zu jenen »Eigenschaften« auch der Zustand des Gefallenseins, d.h. in erster Linie Vergänglichkeit und Sterblichkeit, gehören. Die Häresie des »Aphtartodoketismus«, welche die Inkorruptibilität des Leibes Christi seit seiner Geburt behauptete, wurde klar abgewiesen. »Das Wort nahm die unwissende und abhängige Natur an«, schrieb Johannes von Damaskus (De fide orth. 3,21; PG 94,1084 BC). Das natürliche Heranwachsen Jesu vom Kind zum Erwachsenen und sein ganzes Leben waren das eines Menschen – aber ohne Sünde. Er war Gott selbst und starb doch am Kreuz in der gefallenen vergänglichen Natur, die er angenommen hatte. Doch weil dieser Tod in Freiheit der ‘Tod Gottes’ war, folgte ihm die Auferstehung in einer erneuerten, unzerstörbaren und verherrlichten Natur – der Natur Adams vor dem Sündenfall.
In Taufe und Eucharistie wird diese erneuerte und verwandelte Menschlichkeit Christi durch den Hl. Geist denen zugänglich, die glauben. Diese Gegenwart Christi in der Kirche – seinem Leib – ist Gedenken seines Todes, aber doch auch eine Vorwegnahme seines zweiten Kommens, eine eschatologische Gegenwart. Es ist bezeichnend, wie der eucharistische Kanon, der Johannes Chrysostomus zugeschrieben wird, an Tod und Auferstehung Jesu zusammen erinnert, aber ebenso an sein Wiederkommen, so als ob dieses alles schon vollendet sei. Diese Dimension der »verwirklichten Eschatologie« ist die eigentliche Basis für das, was man die orth. spirituelle Erfahrung nennen kann. Zwei Episoden aus der Geschichte des östl. Christentums können als Beispiele dienen: die Bildersturm-Krise im 8. und 9.Jh. und die sog. »hesychastische Kontroverse« im 14.Jh.
6. Die Bilderstürmer wollten die Verehrung von Bildern in der Kirche unterdrücken und stützten ihre Argumente auf das mosaische Verbot von »Götzenbildern«. Im Christentum wie im AT kann es kein »Bild« des transzendenten Gottes geben. Die Antwort der Orthodoxen bestand darin, daß sie die Wirklichkeit der Inkarnation verkündeten: Gott wurde Mensch und ist durch die Menschlichkeit Jesu Christi sichtbar geworden. Das Bild Christi ist folglich ein Bekenntnis des Glaubens an die Inkarnation: Es zeigt die verherrlichte Menschlichkeit, wie sie die Augenzeugen, die Apostel, sahen. Doch dieselbe verwandelte Menschlichkeit kann auch in den Bildern von Heiligen betrachtet werden, die in ihrem Leben das »gefallene Bild« wiederherstellten zu seiner »früheren Schönheit«. So wurde die Verehrung von Bildern – oder »Ikonen« – in der orth. Kirche ein wichtiges Element im Gottesdienst und in der Bekräftigung, daß das »Bild Gottes« in Jesus Christus wiederhergestellt wurde und durch ihn auch in den hl. Personen wie seiner Mutter und allen Heiligen.
7. Die theol. Debatten des 14.Jh.s waren eine Ausweitung derselben theol. Voraussetzungen. In ihnen ging es bes. um den Begriff »Vergöttlichung« oder »Theosis«. In der griech. Patristik diente dieser Begriff seit Irenäus und Athanasius zur Bestimmung der menschlichen Teilhabe am göttlichen Leben in Christus. In der mönchischen Tradition der ‘Hesychasten’ wurde das mögliche »Kennen« und »Sehen« Gottes als Ziel christl. Lebens verstanden. Die Vision Gottes »im Herzen« des Getauften in der Form des Lichts – ähnlich dem Licht, das die Apostel auf dem Berg der Verklärung sahen (Mt 17, 1-8 par.) – wurde als wirkliche Erfahrung Gottes erklärt, nicht als Symbol oder geistiges Bild, wie die Gegner der Hesychasten behaupteten. Um gleichzeitig die absolute Transzendenz des göttlichen Wesens zu bewahren, bekräftigte der byz. Theologe Gregor Palamas die Unterscheidung Gottes in das unsichtbare und unerreichbare göttliche Wesen und die »Energien« Gottes, welche die »Vergöttlichung« von Geschöpfen und ihre wirkliche Gemeinschaft mit dem Schöpfer ermöglichen.
8. Orth. Christologie ist eigentlich nicht zu verstehen, wenn nicht die Rolle des hl. Geistes in der Erlösungs-»Ökonomie« – der Manifestation Gottes als Trinität – genau erkannt ist. »Der Vater tut alle Dinge durch das Wort im Hl. Geist«, schreibt Athanasius (Ad Serap. 1,28; PG 26,596 A). Erlösung ereignet sich in Wirklichkeit durch ein hist. Geschehen – den Tod und die Auferstehung Jesu Christi –, doch die Aneignung, die »kath.« Annahme der Erlösung geschieht nur, wenn jeder einzelne Mensch in seinem Herzen den Geist empfängt, der »Abba, Vater!« (Gal 4,6) ruft. Durch den Geist ist der Leib Christi nicht mehr nur an eine hist. Person, Jesus, gebunden, sondern vereint in ihm alle Glaubenden. Diese Rolle des Geistes in der »neuen Schöpfung« basiert natürlich auf seiner Teilhabe auch an der Urschöpfung: In den liturg. Texten der Orthodoxie wird die kosmische Dimension der Erlösung stark betont – z.B. im Gebet um Segnung des Wassers zu Epiphanias (6. Jan.).
In der östl. patristischen Tradition bedeutet die Wiederherstellung der Gemeinschaft zwischen Gott und Mensch »Kooperation« (synérgeia) zwischen göttlicher Gnade und menschlicher Freiheit; und die ganz besondere Funktion des Geistes liegt darin, die persönliche Antwort des Menschen zur Gnade zu »treffen«. Die eucharistische Gemeinschaft (koinonía) ist in ganz besonderer Weise die Gabe des Geistes. Zu jedem sakramentalen Akt, angefangen bei der Taufe, gehört nach östl. liturg. Tradition eine besondere Anrufung des Geistes; und der eucharistische Kanon erreicht seinen Höhepunkt mit der Epiklese (Anaphora von Basilius d. Gr.).
An den Vater gerichtet und die schöpferische und erlösende Tat des Sohnes in Erinnerung rufend, schließt das eucharistische Gebet mit der Anrufung des Geistes und offenbart so die wahre Natur der Kirche als einer freien Versammlung von Gläubigen, die durch den Geist der wahre Leib Christi zur Erlösung der Welt werden.
Im eucharistischen Gebet kommt der trinitarische Charakter des Glaubens klar zum Ausdruck, der in allen Aspekten der Spiritualität zu erkennen ist. »Sobald ich den einen erfasse« schreibt Gregor von Nazianz, »bin ich umleuchtet vom Glanz der drei; sobald ich sie unterscheide, werde ich zu dem einen zurückgetragen. Wenn ich an einen der drei denke, denke ich an Ihn ganz, und meine Augen sind gefüllt, und der größere Teil meiner Gedanken entflieht mir« (Orat. 40,41; PG 35,417 BC). So ist die Trinität nicht eine Sache philos. Spekulation, sondern der existentielle und soteriologische Grundgehalt christl. Offenbarung. Der Glaube beginnt mit dem Erkennen Jesu als dem Messias und Gottessohn (vgl. das Bekenntnis des Petrus Mt 16,16). Dieses Erkennen selbst ist schon Sache des Geistes, denn »niemand kann sagen: Herr ist Jesus, außer im hl. Geist« (1 Kor 12,3), und Gemeinschaft im Geist führt uns zum Vater. Zur Beschreibung der drei göttlichen Personen gebrauchten die Kappadokier den griech. Begriff hypóstasis (»konkrete Wirklichkeit«). Die Lehre der »drei hypostaseis« erschien vielen als ein ‘de-facto’-Tritheismus, und die Väter mußten verdeutlichen, daß die Gemeinschaft des Wesens (ousía) zwischen den drei Personen die göttliche Einheit bestätigte und »Ko-Inhärenz« (perichṓrēsis), miteinander Verhaftetsein, der drei Personen bedeutet – eine vollkommene Einheit des Handelns ohne Vermischung oder Verschmelzung. Diese unvermischte Einheit kommt am besten in der johanneischen Formel zum Ausdruck, daß »Gott Liebe ist« (1 Joh 4,8). Ein absoluter Monotheismus ohne die trinitarische Dimension ließe diese Formel nicht gelten. Weil Gott vollkommene Liebe ist, sind die drei ‘hypostaseis’ in Wirklichkeit ein Gott, während die drei geschöpflichen ‘hypostaseis’ – d.h. drei Menschen – unterschiedliche Wesen bleiben und nicht eins werden. Doch auch sie könnten in Christus durch Liebe »eins« werden.
Hier mag an einen weiteren grundlegenden Aspekt im Denken der griech. Patristik erinnert werden: seinen »apophatischen« Charakter. Die trinitarische Wirklichkeit, in der das eigentliche Wesen Gottes zum Ausdruck kommt, ist transzendent und daher durch geschöpfliche Kategorien nicht faßbar. Darum kann sie am besten negativ ausgesagt werden, indem gesagt wird, was Gott ‘nicht’ ist. Doch Gott offenbart sein trinitarisches Sein bes. durch die Inkarnation und öffnet es der Teilhabe: »ich in ihnen und du in mir – damit sie vollkommen eins seien« (Joh 17,23). Die vollkommene Liebe, die Vater, Sohn und den Hl. Geist eint, wird den Geschöpfen dargeboten und rechtfertigt einen Ausspruch, der unter russ. Theologen des 19. Jh.s umging: »Die Trinität ist unser Sozialprogramm«. Dieser Ansatz ist aber nur dann gerechtfertigt, wenn Gottes Transzendenz nicht außer acht gelassen wird: Er kann nie einfach »imitiert« werden, es gibt nur die Teilhabe an ihm. In der Gemeinschaft der Kirche können Menschen nur »Haushalter über die Geheimnisse Gottes« sein (1 Kor 4,1).
9. Zeitgenössisches orth. Denken und Ethos standen unvermeidlich unter dem Einfluß hist. Entwicklungen wie den späten byz. und ma. Kulturformen und unter dem Eindruck westl. Denkens und säkularer »Aufklärung« (vgl. den Nationalismus moderner osteurop. Völker). Doch die grundlegende orth. Vision des Christentums ist immer noch die, die in der klassischen Periode griech. patristischen Denkens Gestalt gewann. Diese Vision wird bes. in den Zyklen der Liturgie, in hymnischen Texten und in der Spiritualität bewahrt. Daß verschiedene liturg. Sprachen benutzt werden, stärkt nur diese Einheit spiritueller Wahrnehmung, die aus der frühen Christenheit stammt und prinzipiell allen unterschiedlichen Kulturen und Zivilisationen zugänglich ist. Da orth. Ekklesiologie die Existenz einer ständigen unfehlbaren Institution wie des Papsttums nicht erlaubte, liegt die Verantwortung für orth. Geschlossenheit in Glaube und Erfahrung bei der Kirche als ganzer. Tatsächlich überlebten orth. Gemeinschaften während der Jh.e muslimischer Herrschaft im mittleren Osten ohne reguläre Predigt oder geistliche Leitung v.a. durch das Weitergehen des liturg. Lebens. Die Theologie und der geistliche Reichtum der byz. Liturgie ermöglichten dieses Überleben und bewährten sich auch unter den politischen Verhältnissen des 20. Jh.s. Die Liturgie spielt eine ähnliche Rolle in anderen Ländern Osteuropas, wo ‘normale’ theol. Entwicklungen wegen der politischen Umstände des 20. Jh.s lange nicht möglich waren.
Andererseits hat die Kontinuität der mönchischen Tradition mit ihrer Betonung der persönlichen Gotteserfahrung als Ziel aller geistlichen Bemühungen die Autorität einzelner geistlicher Führer (griech.: gérontes; slav: startsi) bewahrt, die oft, ohne die Autorität der Bischöfe) in Lehr- und Kanonfragen in Zweifel zu ziehen, ein prophetisches Zeugnis ablegen, dessen Autorität und Macht anerkannt wurde – z.B. von Dostojewski u.a. Intellektuellen, die sich zum orth. Christentum im modernen Rußland hingezogen fühlten.
Seit dem 17.Jh. wurde jedoch die orth. Theologie in eine unvermeidliche Konfrontation mit dem Westen gestellt. Diese Konfrontation führte gelegentlich zu einer künstlichen Übernahme westl. Kategorien und Vorstellungen – wie bei Patriarch Kyrillos Lukarsis von Konstantinopel, der 1624 ein im Grunde calvinistisches Glaubensbekenntnis veröffentlichte. Etwas ähnliches ereignete sich an der in Kiew errichteten Akademie, wo die Vorstellungen der lat. Gegenreformation oft als orth. angenommen wurden. Doch diese ‘Einimpfung’ westl. Ideen führte schließlich zu einer Wiederbelebung der orth. Identität, die sich in Kategorien modernen Denkens äußerte. Das geschah einerseits, als im 19.Jh. ein System theol. Ausbildung in Erscheinung trat und sich die hist. und patristische Forschung entwickelte. Andererseits entstanden v.a. in Rußland mehrere theol. Schulen für Laien, die allein durch ihre Existenz und ihren Erfolg anschaulich machen, daß – was in der gesamten Geschichte des christl. Ostens offenbar ist – die ganze Kirche und nicht nur ein autoritatives Lehramt für den Glauben verantwortlich ist.
A. Chomjakow (1804-1860) und I.W. Kirejewskij (1806-1856) – die »älteren Slawophilen« – entfalteten die geistlich-organischen und synodalen Dimensionen der Ekklesiologie (mit dem Begriff ‘Sobornostj’). In den ersten Jahrzehnten des 20. Jh.s versuchte die stärker philos. ausgerichtete und spekulative Schule von W.S. Solowjew (1853-1900), zu der auch Autoren wie P.A. Florenskij (1882-1940), S.N. Bulgakow (1871-1944) und teilweise auch N.A. Berdjajew (1874-1948) gehörten, eine eher fragwürdige Synthese von O. und dt. Idealismus, die wiederum eine »neo-patristische« Reaktion (G. Florovsky, D. Staniloae) herausforderte. Recht einflußreich sind heute Autoren, die eine »eucharistische Ekklesiologie« entfalten (N. Afanassieff, J. Zizioulas).
Es gibt orth. Gemeinschaften in den meisten westl. Ländern und in Staaten der Dritten Welt, und orth. Theologen sind an den meisten Erscheinungen der ökum. Bewegung beteiligt; damit ist die orth. Tradition (heute) eine direktere Herausforderung für zeitgenössisches Denken und selbst wiederum von ihm herausgefordert. Nach Jh.en einer ununterbrochenen Geschichte in Gesellschaften, die – ebenfalls nominell – christl. und orth. waren, steht die Orthodoxie in der Begegnung mit der pluralistischen und säkularisierten Welt des zu Ende gehenden 20.Jh.s vor der Prüfung ihrer ‘kath.’ Glaubwürdigkeit (Authentizität).
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Übs.: H. Hoffmann
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