
Über den Christus-Glaube
Von Martin Luther
Der Glaube ergreift Christus, der ist die „Grundform“, die den Glauben schmückt und gestaltet, wie die Farbe die Wand. Darum ist der christliche Glaube nicht eine müßige Beschaffenheit oder eine leere Hülse im Herzen, die mit einer tödlichen Sünde zusammen bestehen könnte, bis dann die Liebe käme und machte ihn lebendig. Wenn er wahrer Glaube ist, dann ist er eine gewisse Zuversicht des Herzens, eine starke Zustimmung, durch die Christus ergriffen wird, so daß Christus der Gegenstand des Glaubens ist, freilich nicht Objekt, sondern daß ich so sage: im Glauben selbst ist Christus gegenwärtig. Der Glaube ist eine gewisse Erkenntnis oder Finsternis, die nicht sieht und dennoch sitzt in dieser Finsternis Christus, der im Glauben ergriffen wird, so wie der Herr auf dem Sinai oder im Tempel mitten in der Finsternis saß. Unsere Grundgerechtigkeit (formalis nostra iustitia) ist nicht die Liebe, die dem Glauben erst die Gestalt und Kraft gibt, sondern unsere Grundgerechtigkeit ist der Glaube selbst und die Finsternis des Herzens, d. h. unser Vertrauen in eine Sache, die wir nicht sehen, d. h. unser Vertrauen auf Christus, der, mag er auch in keiner Hinsicht gesehen werden, dennoch gegenwärtig ist.
Gerecht macht also der Glaube, der jenen Schatz ergreift und besitzt, nämlich den gegenwärtigen Christus. Wie er gegenwärtig ist, ist nicht mit Gedanken zu begreifen, denn es sind Finsternisse, wie ich sagte. Wo also der wahre Herzensglaube ist, da ist Christus mitten im Nebel und im Glauben. Und das ist die Grundgerechtigkeit, derentwegen ein Mensch gerecht gemacht wird, nicht wegen der Liebe, wie die Sophisten sagen. Summa: Wie die Sophisten sagen, daß die Liebe den Glauben gestalte und fruchtbar mache, so sagen wir, daß Christus den Glauben gestalte und fruchtbar mache, so daß er Gestalt des Glaubens ist. Darum, der im Glauben ergriffene und im Herzen wohnende Christus ist die christliche Gerechtigkeit, derentwegen Gott uns als gerecht betrachtet und das ewige Leben schenkt.
Aus Martin Luthers Auslegung des Galaterbriefs von 1531 zu 2,16 (WA 40/I, 228,29-229,30 – Übersetzung Hermann Kleinknecht)