Karl Barths „Frohe Botschaft“ zu Weihnachten 1946: „Am schwierigsten sind wohl die Tiefsinnigen dran, die irgendeine Idee von Erziehung und Weltverbesserung im Kopf haben und der Meinung sind, die beste und einzig richtige Weihnachtsfeier für jedermann würde darin bestehen, daß er sich diese seine Idee auch durch den Kopf gehen lasse.“

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Die Geburt Christi, Altarbild von Bicci di Lorenzo aus der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts

Frohe Botschaft zu Weihnachten 1946

Von Karl Barth

Ich stelle mir die Menschen vor, die diese Weihnachtsnummer der «Schweizer Illustrierten Zeitung» mehr oder weniger aufmerksam durchblättern werden: in der Bahn, im Restaurant, zu Hause oder sonstwo. Und ich frage mich, wie viele oder wenige von ihnen wohl geneigt sein werden, einen Augenblick Halt zu machen, um sich sagen zu lassen, daß es sich an der Weihnacht eigentlich nicht um Weihnachtsgeschenke, Weihnachtsfeiern, Weihnachtsstim­mungen, Weihnachtsbräuche usw. handelt, sondern um die frohe Botschaft, die einmal vom Himmel her in die Welt, die schon damals finster war, gekommen ist, um ihr wie ein heller Blitz ihr Ende und einen neuen Anfang anzuzeigen. Der Leser blättert vielleicht schon nach diesen paar Zeilen weiter: er weiß, was kommt, oder er meint es doch zu wissen. So hatten wir schon als Kinder, ehrlich gesagt, alle ein bißchen Eile, gerade an dem, was an der Weihnacht die Hauptsache ist, vorbei und zu all dem anderen zu kommen, was drum und dran ist. Keine Illusionen: die die frohe Botschaft hörten, waren immer wenige, und ihrer werden auch immer nur wenige sein. Niemand sei deshalb angeklagt. Es ist nun einmal so, daß es, wenigstens bei uns in der Schweiz, den meisten Menschen verhältnismäßig gut geht. So haben wir in den Festtagen Zeit und Lust, an allerhand Vergnügliches zu denken, aber zum Hören auf die frohe Botschaft keine Zeit und Lust. Und jenseits unserer Grenzen ist es sicher ebenso, nur daß der Grund dort darin besteht, daß die Leute zu diesem Hören vor lauter Kummer, Elend und Plage keine Zeit und Lust finden. Sie seien erst recht nicht angeklagt! Die frohe Botschaft ist zu allerletzt eine Anklage gegen die, die sie vor lauter Vergnügen oder auch vor lauter Kummer nicht hören mögen oder, weil sie es längst verlernt oder gar nie gelernt haben, nicht hören können. Am schwierigsten sind wohl bei uns und draußen die Tiefsinnigen dran, die irgendeine Idee von Erziehung und Weltverbesserung im Kopf haben und der Meinung sind, die beste und einzig richtige Weihnachtsfeier für jedermann würde darin bestehen, daß er sich diese seine Idee auch durch den Kopf gehen lasse. Ich bekam gerade heute eine Drucksache mit einem solchen Projekt ins Haus geschickt, überschrieben: «Für die ganz Schlauen». Gera­de die ganz Schlauen sind wohl überall die letzten, die die frohe Botschaft der Weihnacht hören werden. Sie haben aus ihrem eigenen Kopf so viel zu sagen, daß sie unmöglich auch noch hören können, was nun einmal nicht in ihrem Kopf gewachsen ist. Doch soll jetzt auch gegen sie kein böses Wort gesagt sein.

Es ist nämlich mit dieser frohen Botschaft so, daß sie, ob gehört oder nicht gehört, einfach wahr ist. Genauso wie die Sonne am Himmel steht und an seinem Ort einem jeden scheint. Wer die frohe Botschaft hört, der freut sich darüber: mit einer Freude, die nun schon mit keiner anderen zu vergleichen ist. Wer sie vor lauter Vergnügen oder auch vor lauter Kummer oder in seiner großen Schlauheit nicht hören mag oder kann, dem macht sie dann wohl keine Freude, aber wahr ist sie trotzdem und auch für ihn. Niemand kann es rückgängig machen, daß sie einmal ausgesprochen worden ist. Seither gilt sie für Gute und Böse, für Ungläubige und Gläubige. Sie ist eine Weltwahrheit, die nun einfach in Kraft steht. So steht es nun einmal mit Gott. Man kann ihn wohl vergessen. Man kann ihn leugnen. Man kann sich falsche Vor­stellungen und Bilder von ihm machen. Um so schlimmer für uns. Aber an Gott selbst ist mit all dem nichts geändert. Er ist immer noch und erst recht, der er ist [vgl. Ex. 3, 14]. Man kann dann nur sagen: wohl allen denen, die es merken und sich daran halten. Man kann aber denen, die es nicht merken und sich nicht daran halten wollen, keine Vorwürfe machen. Gott ist nicht ohne sie, auch wenn sie ohne Gott sind. Gott ist auch für sie Gott.

Und gerade darum geht es in der frohen Botschaft der Weihnacht, daß Gott vorbehaltlos für alle Menschen ist. Daß das einmal, wie man sagt, «offenbar» wurde, das war der helle Blitz, der damals der finsteren Welt ihr Ende und einen neuen, hellen Anfang anzeigte. Das Wort, in welchem es ausgesprochen wurde, war der Mensch Jesus Christus, der in jener Nacht geboren wurde. Die Verwirrung der Welt und die Verwirrung jedes einzelnen Menschenlebens mußte so lange endlos und darum hoffnungslos erscheinen (etwa wie die sogenannten Friedensver­handlungen des nun bald hinter uns liegenden Jahres 1946), als dieses Wort noch nicht ausge­sprochen, diese Wahrheit noch unbekannt war: Gott ist für uns. Aber nun ist es ausgespro­chen, und das verändert einfach alles. Denn dieses Wort entscheidet darüber, daß die große Verwirrung und alle kleinen eine Grenze haben. Jenseits dieser Grenze grüßt uns der Tag, an dem Gott ordnen wird, was jetzt ungeordnet ist. Weil das in jener Nacht als wahr bekannt gegeben worden ist, darum ist jetzt schon alles anders geworden. «Man merkt nichts davon.» Ja, wie soll man es merken, wenn man die Botschaft nicht hören mag oder kann? Daß man es merken und daß man sich dementsprechend freuen darf, das hängt allerdings am Hören. Es hängt aber nicht am Hören, daß es wahr ist. Die heimliche — aber für die, die hören, gar nicht heimliche — Wahrheit der Welt und des Menschenlebens heißt: daß Gott für uns ist. Was uns regiert, ist also nicht der Unsinn, mit dem wir uns selbst und mit dem wir uns gegenseitig belasten und unglücklich machen. Auch nicht die Ungerechtigkeit, gegen die wir uns offen oder heimlich empören und an der wir doch auch irgendwie beteiligt sind. Und so auch nicht die Gräber, in denen man uns alle einmal mit Ehren und Unehren versorgen wird. Indem Gott für uns ist, wie es in jener Nacht ausgesprochen wurde, ist das alles zur Lüge gemacht, gegen die wir — immer, wenn wir es hören könnten und wollten — die Köpfe erheben und getrosten Mutes hoffen und trotzen dürfen. Es ist aber auch dann Lüge und die Regierung Gottes ist auch dann Wahrheit, wenn wir, weil wir nicht hören können und wollen, die Köpfe meinen einziehen und uns in irgendeiner Gleichgültigkeit oder mit irgendeiner Resig­nation oder auch mit irgendeinem Hirngespinst eigenen, oder fremden Fabrikates meinen trösten zu sollen. Das ist das Schöne an der frohen Botschaft der Weihnacht, daß sie immer «einewäg» wahr ist und gilt.

Und daran denke ich, wenn ich jetzt nochmals an die Leser denke, welche «religiöse» Dinge nicht lesen mögen und darum vermutlich auch diesen Artikel nicht bis dahin gelesen haben werden. Du liebe Zeit, es geht ja nicht um das «Religiöse», sondern um das wirkliche Leben und die wirkliche Welt, die seit jener Nacht, da Jesus Christus geboren wurde, in dem hellen Licht der Wahrheit stehen, daß Gott für uns ist. Niemand hat es verdient und niemand kann es verdienen, daß Gott für uns ist. So kann ihn aber auch niemand daran hindern, auch mit seinen tauben Ohren nicht! Aber es gibt da keine unheilbare Taubheit. Die geplagten Menschen draußen und wir zufriedenen Schweizer hier könnten schließlich ebenso gut auch hörende Menschen sein oder einmal werden. Wieviel Grämlichkeit, Bitterkeit und Langeweile dürften wir dann auf einen einzigen Schlag loswerden! In diesem Sinn grüße ich die Leser, die diesen Artikel nun doch durch und zu Ende gelesen haben sollten: Fröhliche Weihnachten! Es besteht, wenn man es recht versteht, allem zum Trotz Anlaß, fröhliche Weihnacht zu feiern.

Hier der Text als pdf.

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