
Von Jürgen Moltmann
ICH SEHE VOR MIR ZWEI ENGEL: Der eine ist der Engel der Geschichte. Paul Klee hat ihn gemalt, und Walter Benjamin hat ihn gedeutet. Er hat sein Antlitz der Vergangenheit zugewendet. Wo eine Kette von Ereignissen vor uns erscheint, da sieht er eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft. Er hat der Zukunft den Rücken zugekehrt, während der Trümmerhaufen der Geschichte vor ihm zum Himmel wächst. Der andere ist der Engel der Zukunft. Der Prophet Maleachi hat ihn gesehen. Er bereitet dem Kommen Gottes in unserer Geschichte den Weg. Menschen werden am Tag seiner Zukunft nicht unvorbereitet sein. Das ist der «Engel des Bundes», der Engel der Verheißung. Maria hat ihn gehört und ihm vertraut: «Mir geschehe, wie du gesagt hast.» Der greise Simeón hat die erfüllte Verheißung in dem messianischen Kind gesehen: «Nun läßt du deinen Diener in Frieden fahren, denn meine Augen haben deinen Heiland gesehen.» Dieser Engel der Zukunft blickt nicht zurück mit Trauer oder Zorn auf die Trümmerfelder unserer menschlichen Geschichte. Er sieht mit großen Augen in die Zukunft des kommenden Gottes und kündigt die Geburt des göttlichen Kindes an. Der Sturmwind des göttlichen Geistes weht in seinen Flügeln und Gewändern, als hätte dieser Sturmwind ihn in unsere Geschichte geweht. Er bringt die Geburt der Zukunft aus dem Geist der göttlichen Verheißung.
Viele Maler haben diesen Engel der Zukunft gemalt, und vielen von uns ist er auf die eine oder die andere Weise begegnet. Er begegnet uns selten in unseren Erfolgen und Siegen, sondern meistens in den Trümmern unseres Lebens, denn der Engel der Zukunft und der Engel der Geschichte gehören zusammen und sind die zwei Gesichter desselben einen Engel Gottes. Mir ist dieser Engel vor genau 50 Jahren in einer kalten, finsteren Baracke eines Kriegsgefangenenlagers in diesem Land bei Ostende begegnet. Als ich über die Trümmer verzweifelte, die mein Volk im Krieg überall angerichtet hatte, wurde ich zu einer lebendigen Hoffnung neu geboren. Als ich mein zertrümmertes Leben aufgeben wollte, wurde ich von Gott aufgehoben. Als ich mich von allen guten Geistern verlassen fühlte, fand ich in Christus meinen Bruder in der Not und meinen Erlöser.
Je länger ich mit dieser neuen Hoffnung gelebt habe, desto klarer ist sie mir geworden: Unsere wahre Lebenshoffnung kommt nicht aus den Gefühlen unserer Jugend, so schön diese auch sind. Sie entsteht auch nicht aus den objektiven Möglichkeiten der Geschichte, so unbegrenzt sie auch sein mögen. Unsere wahre Lebenshoffnung wird erweckt und durchgehalten und endlich erfüllt von dem großen göttlichen Geheimnis, das über uns und in uns und um uns herum ist, uns näher, als wir uns selbst sein können. Es begegnet uns als das große Versprechen unseres Lebens und dieser Welt: Es wird nichts umsonst sein – es wird gelingen – es wird zuletzt alles gut werden! Es begegnet uns zugleich im Ruf zum Leben: «Ich lebe, und ihr sollt auch leben.» Wir werden zu dieser Hoffnung berufen, und dieser Ruf klingt oft wie ein Befehl: ein Befehl zum Widerstand gegen den Tod und gegen die Mächte des Todes und ein Befehl, das Leben zu lieben und es zu schützen: jedes Leben, das gemeinsame Leben, das ganze Leben. Kann man das Hoffen lernen? Ich glaube: ja. Weil wir diese wahre Hoffnung nicht von Geburt mitbringen und aus unseren Lebenserfahrungen vielleicht klug, aber nicht unbedingt hoffnungsvoll werden, müssen wir ausziehen, um das Hoffen zu lernen. Wir lernen zu lieben, wenn wir ja zum Leben sagen. So lernen wir hoffen, wenn wir ja zur Zukunft sagen. Das klingt ganz einfach, ist aber in den verschiedenen Umständen des Lebens sehr schwer. Wir erfahren die Kraft der Hoffnung, wenn wir gegen die Apathie unserer Seele kämpfen müssen. Wir spüren, daß sie uns am Leben erhält, wenn wir gegen schlechte Aussichten Dennoch sagen und das Leben wagen. Auch wenn die Zukunft der Menschheit und der Erde dunkel aussieht – Hoffen heißt Leben und Überleben und für das Leben der Schöpfung arbeiten und kämpfen. «Nicht so sehr [62] unsere Sünden stürzen uns ins. Unheil als vielmehr die Verzweiflung», sagte schon der Kirchenvater Chrysostomos. Heute gehen wir an unserer Gleichgültigkeit zugrunde. Wahre Hoffnung ist nicht blind. Nur die mystische Hoffnung auf die Erlösung der inneren Welt der Seele schließt die Augen. Die messianische Hoffnung auf die neue Welt blickt mit weit offenen Augen in die Zukunft. Aber sie sieht mehr, als was da am Horizont der Geschichte auftaucht. Das indonesische Wort für Hoffnung heißt «Durch den Horizont hindurchsehen». Die wahre Hoffnung sieht durch die apokalyptischen Horizonte unserer Welt hindurch auf die Neuschöpfung aller Dinge im Reich der Herrlichkeit Gottes.
Daraus folgt ein neues Handeln in dieser Welt. Wer im drohenden Untergang unserer Welt durch den Horizont hindurch auf die neue Welt Gottes blickt, den ergreift Hoffnung in der Gefahr, und er handelt der Hoffnung entsprechend gegen die Gefahr. Wir handeln dann im wörtlichen Sinne paradox, das heißt: gegen den Augenschein und gegen die Erfolglosigkeit, denn wir sehen in der Hoffnung mehr, als den Augen erscheint, wenn sie in die Zukunft der Welt blicken. Wir sehen dann diese, unserer Welt im Reich Gottes zurechtgebracht und erlöst. Im Kampf für den Frieden gegen die nukleare Hochrüstung und im Kampf für Gerechtigkeit gegen die Diktaturen der Gewalt und der Apartheid haben es viele erfahren: Wir tun, was wir tun müssen, ob wir Erfolg haben oder nicht. Wir handeln der Zukunft Gottes entsprechend, auf die wir hoffen, auch wenn uns das in Widerspruch zu unserer eigenen Gesellschaft bringt. Wir handeln aus innerer Notwendigkeit, so wie die Rosen blühen. Die Rosen fragen auch nicht warum und wozu – sie blühen einfach. So ist es auch im Leben aus der wahren Hoffnung. Der letzte Grund aber für unsere Hoffnung liegt gar nicht in dem, was wir wollen, wünschen und erwarten, sondern darin, daß wir gewollt und erwünscht sind und daß wir erwartet werden. Was erwartet uns? Erwartet uns überhaupt etwas, oder sind wir allein?
Immer wenn wir unsere Hoffnung im Vertrauen auf das göttliche Geheimnis gründen, spüren wir es tief in unserem Herzen: Da ist einer, der wartet auf dich, der hofft auf dich, der traut dir etwas zu. Wir werden erwartet, so wie der «verlorene Sohn» im Gleichnis von seinem Vater erwartet wird. Wir werden aufgenommen, so wie eine Mutter ihre Kinder in die Arme schließt und tröstet. Gott ist darum unsere letzte Hoffnung, weil wir Gottes erste Liebe sind. Wir sind Gottes Traum für seine Welt und sein Ebenbild auf seiner geliebten Erde. Gott wartet auf seine Menschheit, daß sie wahrhaft «menschlich» werde. Darum lebt auch in uns die Sehnsucht, ein wirklicher Mensch zu werden. Gott wartet auf die menschlichen Menschen, darum leidet er an allen unseren Unmenschlichkeiten, die wir persönlich und politisch verüben. Gott wartet auf sein Ebenbild, sein Echo, seine Antwort in uns, darum hat er immer noch Geduld mit uns und erträgt die Trümmerfelder unserer Geschichte der Gewalt und des Leidens. Gott schweigt nicht. Gott ist nicht «tot» – Gott wartet. Gott ist geduldig mit uns und duldet uns. Er läßt uns Zeit und gibt uns Zukunft. Gott wartet auf die Heimkehr seiner Geschöpfe. Gott will nicht ohne sie in seinem Reich zur Ruhe kommen. Das scheint mir das große Wunder der Weltgeschichte zu sein: – «daß es mit uns noch nicht gar aus ist», wie ein deutsches Kirchenlied sagt. Das verdanken wir der großen, geduldigen, suchenden und lockenden Hoffnung Gottes auf uns und auf seine ganze Schöpfung. Gott ist unruhig in seinem Geist, bis er Ruhe findet in uns und in seiner Welt. Unsere Hoffnung auf Gott ist immer nur ein erstes Echo, das seine Hoffnung in uns findet. Unsere große Hoffnung auf Gott reicht, so weit die Wolken gehen, und umfaßt den ganzen belebten Erdkreis. Sie ist holistisch und im wörtlichen Sinne katholisch, allumfassend und grenzenübergreifend. Diese Universalität ist heute in Gefahr. Alle Weltorganisationen und ihre universalen Werte verlieren heute an Bedeutung und Einfluß. Die partikularen Gruppeninteressen gewinnen an Macht. Statt an die allgemeinen Menschenrechte hält man sich an die eigenen Gemeinschaftsrechte. Die Rechte des eigenen Volkes werden wichtiger als die Bürgerrechte für alle. Auf dem Balkan erhebt der Nationalstaat wieder seine Fahne und zeigt in den gräßlichen «ethnischen Säuberungen» sein menschenverachtendes Gesicht. Statt für die «Freiheit und Gleichheit aller Menschen» einzutreten, wollen in den USA die Republikaner wieder «America first». Wir leben auf Kosten der kommenden Generationen und brechen den universalen Generationenvertrag, der bisher das Überleben der Menschheit gesichert hat. Statt mit allen anderen Mitgeschöpfen ein gemeinsames Leben auf dieser wunderbaren Erde zu suchen, beuten wir die Erde aus und zerstören ihre Lebenswelt. Auch in der Christenheit ist die Ökumenische Bewegung schwächer geworden. Ein neuer Konfessionalismus hat die Mitgliedskirchen ergriffen, und sie drohen bei jeder Gelegenheit mit Austritt. Obwohl wir alle genau wissen, daß wir nur gemeinsam und in Zusammenarbeit überleben können, setzen sich heute die partikularen Gruppeninteressen wieder durch. Manche nennen es «postmodern», wenn sie das Interesse an der gemeinsamen Zukunft der Menschheit aufgeben und sich in ihre eigenen Geschichten zurückziehen und alles beliebig oder «multioptional» nennen. Dieser Zerfall der Gemeinschaft ist die «Coming anarchy» und der sicherste Weg ins Verderben: Zuerst stirbt der Wald, dann sterben die Kinder, dann stirbt die Menschheit aus. Nicht nur um unseretwillen, nein: um Gottes willen dürfen wir die Universalität der Hoffnung nicht aufgeben. Nicht um ihrer selbst willen, sondern um des Reiches Gottes willen ist die Kirche da. Sie vertritt das Kommende Reich Gottes in dieser zerrütteten Welt, wenn sie sich für die Menschenrechte einsetzt, wo immer sie zerbrochen werden: «Alle Menschen sind frei und gleich geschaffen.» Sie vertritt das Kommende Reich Gottes, wenn sie sich für die Lebenswelt dieser Erde einsetzt und die «Earth Charta» der UNO verwirklicht. Sie vertritt das Kommende Reich Gottes, wenn sie die Rechte der kommenden Generationen heute vertritt und zur Stimme derer wird, die noch keine Stimme haben. Auch wenn niemand mehr universal denken [63] mag, die Ecclesia universalis ist durch die Hoffnung Gottes ins Leben gerufen und vertritt sie. Der Engel der Zukunft ist ihre Verheißung und ihr Schutz.
Ich schließe mit dem letzten Gedicht, das wir von Dietrich Bonhoeffer haben, der vor 50 Jahren von der SS ermordet wurde. Er schrieb es in der Gestapozelle: «Von guten Mächten wunderbar geborgen/erwarten wir getrost was kommen mag./Gott ist mit uns am Abend und am Morgen/ und ganz gewiß an jedem neuen Tag.»
Orientierung, Nr. 6, 59. Jahrgang Zürich, 31. März 1995, Seiten 61-63.